»Jack«, sagte Anawak leise. »Wenn du jetzt rausfährst, wird dich jemand aus dem Wasser fischen müssen. Dein Boot hat allenfalls Museumswert. Nochmal schaffst du das nicht.«
   »Du willst die Leute da draußen sterben lassen?«
   »Ich will niemanden sterben lassen. — Nicht einmal dich.«
   »Oh, du machst dir Sorgen um meine Wenigkeit. Ich könnte kotzen vor Rührung. Aber ich dachte auch gar nicht an mein Boot. Es hat tatsächlich einiges abbekommen. Ich nehme eures.«
   »Die Devilfish?«
   »Ja.«
   Anawak verdrehte die Augen. »Ich kann unser Boot nicht einfach so weggeben. Am allerwenigsten an dich.«
   »Dann kommst du eben mit.«
   »Jack, ich …«
   »Shoemaker, die kleine Ratte, kann übrigens auch mitkommen. Vielleicht brauchen wir einen Köder, nachdem die Orcas nun endlich angefangen haben, ihre wahren Feinde zu verspeisen.«
   »Du hast sie wirklich nicht alle, Jack.«
   Greywolf beugte sich zu ihm herab.
   »He, Leon!«, zischte er. »Da draußen sind auch meine Leute gestorben. Glaubst du, das ist mir gleich?«
   »Du hättest sie ja nicht mitzubringen brauchen.«
   »Es macht kaum Sinn, jetzt darüber zu diskutieren, oder? Jetzt geht es um eure Leute. Ich müsste da nicht raus, Leon. Du solltest mir vielleicht ein bisschen mehr Dankbarkeit zollen.«
   Anawak stieß einen Fluch aus. Er warf einen Blick in die Runde. Shoemaker telefonierte. Davie sprach in sein Walkie-Talkie. Die anwesenden Skipper und der Office Manager bemühten sich mehr schlecht als recht, die Leute zum Gehen zu überreden, die noch den Verkaufsraum bevölkerten.
   Davie sah auf und winkte Anawak heran. »Was hältst du von Toms Vorschlag?«, fragte er leise. »Können wir da wirklich helfen, oder wäre es Selbstmord?« Anawak nagte an seiner Unterlippe. »Was sagen die Piloten?« »Die Lady ist gekentert. Sie liegt auf der Seite und läuft voll.« »Mein Gott.« »Angeblich kann die Küstenwache von Victoria jetzt doch einen großen Helikopter schicken. Zur Bergung. Aber ich bezweifle, dass sie schnell genug hier sein werden. Sie haben alle Hände voll zu tun, und ständig geschieht irgendwas Neues.«
   Anawak überlegte. Der Gedanke, zurückzukehren in die Hölle, der sie gerade erst entronnen waren, jagte ihm Angst ein. Aber er würde sich zeitlebens Vorwürfe machen, nicht alles zur Rettung der Menschen an Bord der Lady Wexham unternommen zu haben.
   »Greywolf will mit«, sagte er leise.
   »Jack und Tom in einem Boot? Ach du lieber Himmel! Ich dachte, wir wollten Probleme lösen, statt welche zu schaffen.«
   »Greywolf könnte welche lösen. Was in seinem Kopf vorgeht, steht auf einem anderen Blatt, aber wir können ihn brauchen. Er ist stark und unerschrocken.«
   Davie nickte düster. »Halt die beiden auseinander, hörst du?« »Klar.« »Und wenn ihr seht, dass es zwecklos ist, kommt ihr zurück. Ich will nicht, dass irgendjemand hier den Helden spielt.« »Gut.« Anawak ging zu Shoemaker, wartete, bis er sein Gespräch beendet hatte, und teilte ihm Davies Entschluss mit. »Wir nehmen diesen Freizeitindianer mit?«, sagte Shoemaker entrüstet. »Bist du wahnsinnig?« »Ich glaube, es ist eher so, dass er uns mitnimmt.« »In unserem Boot!«
   »Du und Davie, ihr seid die Bosse. Aber ich weiß, was uns erwartet. Ich kann besser einschätzen, was auf uns zukommt. Und ich weiß, dass wir heilfroh sein werden, Greywolf dabeizuhaben.«
   Die Devilfish war von gleicher Größe und Motorleistung wie die Blue Shark, also schnell und wendig. Anawak hoffte, dass sie die Wale damit austricksen konnten. Immer noch hatten die Meeressäuger das Überraschungsmoment auf ihrer Seite. Niemand konnte sagen, wann und wo sie zum Vorschein kamen.
   Während das Zodiac über die Lagune brauste, kreisten Anawaks Gedanken um die Frage nach dem Warum. Er hatte immer geglaubt, viel über die Tiere zu wissen. Nun war er völlig ratlos und außerstande, eine halbwegs vernünftige Erklärung zu finden. Einzig die Parallele zu den Vorgängen um die Barrier Queen war nicht zu übersehen. Auch dort hatten Wale offenbar gezielt versucht, Schiffe zum Kentern zu bringen. Sie müssen mit etwas infiziert sein, dachte er. Eine Art Tollwut. Es kann nur so sein, dass etwas sie krank macht.
   Aber gleich eine artenübergreifende Tollwut? Buckelwale und Orcas — auch Grauwale hatten sich an den Rammstößen beteiligt, wie er sich zu erinnern glaubte. Je mehr er darüber nachdachte, desto sicherer war er, dass kein Buckelwal sein Zodiac umgeworfen hatte, sondern ein Grauwal.
   Waren die Tiere vor lauter Chemie verrückt geworden? Hatten die hohen PCB-Konzentrationen im Meerwasser und die vergiftete Nahrung ihre Instinkte durcheinander gebracht? Aber die Orcas vergifteten sich an verseuchten Lachsen und anderen Lebewesen, die Toxide in sich trugen. Grau— und Buckelwale hingegen waren Planktonfresser. Ihr Metabolismus funktionierte anders als der von Fleischfressern.
   Tollwut war keine Erklärung.
   Er betrachtete die glitzernde Wasseroberfläche. Wie oft war er hier entlanggefahren in Vorfreude auf die Begegnung mit den riesigen Meeressäugern. Zu jeder Zeit war er sich der potenziellen Gefahren bewusst gewesen, ohne jemals Angst verspürt zu haben. Draußen auf See konnte unvermittelt Nebel aufziehen. Der Wind konnte sich drehen und tückische Wellen heranjagen, die einen gegen die Klippen warfen — 1998 waren im Clayoquot Sound auf diese Weise ein Skipper und ein Tourist ums Leben gekommen. Und natürlich blieben die Wale bei all ihrer Freundlichkeit unberechenbare Wesen von gewaltiger Kraft und Größe. Jeder erfahrene Whale Watcher wusste, auf welche Urgewalt er sich einließ.
   Aber es war unsinnig, sich vor der Natur zu ängstigen.
   Ein Mensch musste befürchten, in seinem Haus von anderen Menschen überfallen oder auf der Straße von einem Auto überfahren zu werden, und es gab so gut wie keine Chance, dem zu entgehen. Einem aggressiven Wal konnte man hingegen sehr wohl entgehen, indem man einfach nicht in seinen Lebensraum eindrang. Tat man es trotzdem, akzeptierte man Gefahr als etwas zutiefst Natürliches und Authentisches. Stürme, haushohe Wellen und wilde Tiere verloren ihren Schrecken, sobald man freiwillig ihr Umfeld suchte. Die Angst wich dem Respekt, und Anawak hatte zu allen Zeiten größtmöglichen Respekt gehabt.
   Jetzt erstmals packte ihn Angst hinauszufahren.
   Wasserflugzeuge zogen über die dahinrasende Devilfish hinweg. Anawak stand mit Shoemaker im Steuerhaus. Der Geschäftsführer hatte es sich nicht nehmen lassen, das Boot selber zu steuern, trotz Greywolfs wiederholter Beteuerungen, er könne das besser. Jetzt hockte Greywolf im Bug und spähte übers Wasser nach verdächtigen Zeichen. Zu ihrer Linken schoben sich die bewaldeten Ausläufer kleinerer Inseln heran. Einige Seelöwen lagen träge auf den Steinen, als könne nichts ihren Seelenfrieden erschüttern. Das Zodiac dröhnte mit unverminderter Geschwindigkeit an ihnen vorbei, Felsen und Bäume blieben zurück, dann lag wieder offene See vor ihnen. Endlos, eintönig, vertraut und fremd zugleich.
   Jenseits der geschützten Lagune schlugen die Wellen höher. Das Zodiac setzte knallend auf. Während der letzten halben Stunde war die See rauer geworden. Am Horizont ballten sich Wolken zusammen. Es sah nicht eben nach Sturm aus, aber das Wetter verschlechterte sich rapide, wie es für diese Gegend typisch war. Wahrscheinlich zog eine Regenfront heran. Anawaks Blick suchte die Lady Wexham. Im ersten Augenblick fürchtete er, sie sei gesunken. Dafür sah er in einiger Entfernung eines der Kreuzfahrtschiffe liegen, die zu dieser Zeit hinauf nach Alaska fuhren und dabei den kanadischen Westen passierten.
   »Was machen die denn hier?«, rief Shoemaker.
   »Wahrscheinlich haben sie die Hilferufe gehört.« Anawak legte den Feldstecher an die Augen. »MS Arktik. Aus Seattle. Kenne ich. Sie sind in den letzten Jahren mehrfach hier durchgekommen.«
   »Leon. Da!«
   Klein und schief, kaum auszumachen hinter den auf— und abschwellenden Wellenkämmen, ragten plötzlich die Aufbauten der Lady Wexham empor. Der größte Teil des Schiffs lag unter Wasser. Vorn auf der Brücke und der Aussichtsplattform im Heck drängten sich die Menschen. Aufsprühende Gischt vernebelte die Sicht. Mehrere Orcas umschwammen das Wrack. Es sah aus, als warteten sie auf den Untergang der Lady Wexham, um sich dann über die Passagiere herzumachen.
   »Du lieber Himmel«, stöhnte Shoemaker entsetzt. »Ich kann’s nicht glauben.«
   Greywolf drehte sich zu ihnen um und machte Zeichen, langsamer zu fahren. Shoemaker drosselte die Geschwindigkeit. Ein grau gefurchter Buckel hob sich unmittelbar vor ihnen aus dem Wasser, zwei weitere folgten. Die Wale blieben einige Sekunden an der Oberfläche, stießen einen buschigen, V-förmigen Blas aus und tauchten ab, ohne ihre Fluken gezeigt zu haben.
   Anawak ahnte, dass sie sich unter Wasser näherten. Er konnte den drohenden Angriff regelrecht wittern.
   »Und los!«, schrie Greywolf.
   Shoemaker gab Vollgas. Die Devilfish stellte sich steil auf und raste davon. Hinter ihnen schossen massig und dunkel die Wale empor und stürzten zurück, ohne Schaden anzurichten. Mit Höchstgeschwindigkeit hielt das Zodiac auf die sinkende Lady Wexham zu. Jetzt konnten sie auf Deck und Brücke einzelne Personen erkennen, die ihnen zuwinkten. Rufe waren zu hören. Anawak sah mit Erleichterung, dass auch der Skipper unter den Überlebenden war. Die schwarzen Schwerter lösten sich aus ihrer Umlaufbahn und tauchten ab.
   »Die werden wir gleich am Hals haben«, sagte Anawak.
   »Orcas?« Shoemaker sah ihn mit aufgerissenen Augen an. Erstmals schien er zu begreifen, was hier draußen wirklich stattfand. »Was wollen die denn machen? Das Zodiac umwerfen?«
   »Könnten sie locker, aber das Zerdeppern besorgen die Großen. Die Tiere scheinen so etwas wie eine Arbeitsteilung entwickelt zu haben. Die Grauen und die Buckelwale versenken die Boote, und die Orcas erledigen die Insassen.«
   Shoemaker wurde weiß im Gesicht und starrte ihn an.
   Greywolf zeigte zu dem Kreuzfahrtschiff hinüber. »Wir erhalten Verstärkung«, rief er.
   Tatsächlich lösten sich zwei kleine Motorboote von der MS Arktik und kamen langsam näher.
   »Sag ihnen, sie sollen Gas geben oder sich verpissen, Leon«, rief Greywolf. »Bei der Geschwindigkeit sind sie leichte Beute.«
   Anawak nahm das Funkgerät zur Hand: »MS Arktik. Hier Devilfish. Sie müssen sich darauf einrichten, angegriffen zu werden.«
   Einige Sekunden blieb alles still. Die Devilfish hatte die Lady Wexham beinahe erreicht. Ihr Rumpf schlug auf die Wellenkämme.
   »Hier MS Arktik. Was kann passieren, Devilfish?«
   »Achten Sie auf springende Wale. Die Tiere werden versuchen, Ihre Boote zu versenken.« »Wale? Wovon reden Sie?« »Das Beste wäre, Sie kehren um.« »Wir haben einen Notruf empfangen, dass ein Schiff gekentert ist.« Anawak schwankte, als das Zodiac hart auf einen Wellenkamm knallte. Er fing sich und schrie ins Funkgerät: »Wir haben keine Zeit für Diskussionen. Sie müssen vor allen Dingen schneller fahren.« »He, wollen Sie uns verarschen? Wir fahren jetzt zu dem sinkenden Schiff. Ende.« Im Bug begann Greywolf zu gestikulieren. »Sie sollen endlich abhauen!«, schrie er. Die Orcas hatten ihren Kurs geändert. Sie hielten nicht länger auf die Devilfish zu, sondern schwammen weiter hinaus aufs offene Meer und geradewegs auf die MS Arktik zu.
   »So eine Scheiße«, fluchte Anawak. Unmittelbar vor den herannahenden Booten schoss ein Buckelwal empor, umgeben von einer Korona aus funkelndem Wasser. Er stand einen Augenblick reglos in der Luft und kippte zur Seite weg. Anawak sog scharf die Luft ein. Durch die herabfallende Gischt sah er die beiden Boote unversehrt näher kommen.
   »MS Arktik! Ziehen Sie Ihre Leute zurück. Sofort! Wir regeln das hier.«
   Shoemaker drosselte die Maschine. Die Devilfish trieb nun unmittelbar vor der schräg aufragenden Brücke der Lady Wexham. Etwa ein Dutzend durchnässter Männer und Frauen drängte sich darauf zusammen. Jeder hielt sich irgendwo fest, verzweifelt bemüht, nicht abzurutschen. Die Wogen zerplatzten schäumend an der Brücke. Eine weitere kleine Gruppe hatte sich auf der Aussichtsplattform im Heck in Sicherheit gebracht. Wie Affen hingen sie in den Sprossen der Reling, durchgeschüttelt von den Wellen.
   Tuckernd trieb die Devilfish zwischen Brücke und Plattform. Unter dem Zodiac schimmerte grünweiß das mittlere Aussichtsdeck im Wasser. Shoemaker steuerte näher zur Brücke, bis der Gummiwulst dagegen stieß. Eine mächtige Welle erfasste das Boot und drückte es hoch. Wie in einem Fahrstuhl fuhren sie am Brückenaufbau empor. Für einen Moment konnte Anawak die ausgestreckten Hände der Leute beinahe berühren. Er sah in verängstigte Gesichter, Entsetzen gemischt mit Hoffnung, dann sackte die Devilfish wieder ab. Ein Aufschrei der Enttäuschung folgte ihr.
   »Das wird schwierig«, stieß Shoemaker zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
   Anawak schaute sich nervös um. Die Wale hatten offenbar das Interesse an der Lady Wexham verloren. Sie sammelten sich weiter draußen vor den Booten der MS Arktik, die unentschlossene Ausweichmanöver fuhren.
   Sie mussten sich beeilen. Ewig konnten sie nicht darauf hoffen, dass die Tiere fernblieben, und derweil sank die Lady Wexham immer schneller. Greywolf duckte sich. Eine grüne, zerklüftete Woge erfasste die Devilfish und trug sie wieder in die Höhe. Anawak sah die abblätternde Farbe des Brückenturms an sich vorbeiziehen. Greywolf sprang aus dem Boot und klammerte sich mit einer Hand an eine Steigleiter. Das Wasser überspülte ihn bis zur Brust, dann rollte die Welle durch, und er hing in der Luft, eine lebende Verbindung zwischen den Menschen über ihm und dem Zodiac. Er streckte die freie Hand nach oben.
   »Auf meine Schultern«, schrie er. »Einer nach dem anderen. An mir festhalten, warten, bis das Boot hochkommt, springen!«
   Die Menschen zögerten. Greywolf wiederholte seine Anweisungen. Schließlich ergriff eine Frau seinen Arm und ließ sich mit unsicheren Bewegungen abwärts gleiten. Im nächsten Moment hing sie huckepack an dem Hünen und krallte sich an seinen Schultern fest. Das Zodiac schoss hoch. Anawak bekam die Frau zu fassen und zog sie ins Innere.
   »Der Nächste!«
   Endlich kam Schwung in die Rettungsaktion. Einer nach dem anderen hangelte sich über Greywolfs breiten Rücken an Bord der Devilfish. Anawak fragte sich, wie lange der Halbindianer noch die Kraft aufbringen würde, sich an der Leiter festzuhalten. Er trug sein eigenes Gewicht und das der Passagiere, hing nur an einer Hand und geriet ständig halb unter Wasser, das an ihm zog und zerrte, wenn das Meer wegsackte. Die Brücke ächzte und quietschte gotterbärmlich. Hohles Stöhnen drang aus ihrem Innern, als sich das Material verformte. Knallend zersprangen eiserne Nähte. Nur noch der Skipper war auf der Brücke, als plötzlich ein hässliches Kreischen ertönte. Die Brücke erhielt einen Schlag. Greywolfs Oberkörper schlug hart gegen die Wand. Der Skipper verlor den Halt und sauste an Greywolf vorbei. Auf der anderen Seite des Wracks erhob sich der Kopf eines Grauwals aus den Fluten. Greywolf ließ die Sprossen der Steigleiter los und sprang hinterher. Unweit von ihm tauchte der Skipper prustend auf und gelangte mit wenigen kraftvollen Schwimmstößen zum Zodiac. Hände streckten sich ihm entgegen und hievten ihn ins Innere. Auch Greywolf langte nach der Bordwand, verfehlte sie und wurde von einer Woge davongetragen.
   Wenige Meter hinter ihm schob sich ein hochgebogenes Schwert aus dem Wasser.
   »Jack!« Anawak quetschte sich an den Menschen vorbei und lief ins Heck. Sein Blick suchte die Wellen ab. Greywolfs Kopf erschien in den Fluten. Er spuckte Wasser, tauchte ab und schnellte dicht unter der Oberfläche auf die Devilfish zu. Das Schwert des Orca schwenkte augenblicklich auf ihn ein und folgte ihm. Greywolfs muskelbepackte Arme reckten sich empor und schlugen gegen den Gummirumpf. Der Orca hob seinen runden, glänzenden Schädel aus dem Wasser. Er holte auf. Anawak packte zu, andere halfen. Mit vereinten Kräften wuchteten sie den Zweimetermann ins Boot. Das Schwert beschrieb einen Halbkreis und bewegte sich in entgegengesetzte Richtung davon. Greywolf fluchte lang anhaltend, schüttelte die helfenden Hände ab und klatschte sich das lange Haar aus dem Gesicht.
   Warum hat ihn der Orca nicht angegriffen?, dachte Anawak.
   Ich habe keine Angst vor Walen. Sie tun mir nichts.
   Sollte an dem Blödsinn was dran sein?
   Dann wurde ihm klar, dass der Orca gar nicht in der Lage gewesen war anzugreifen. Das überflutete Mitteldeck unter dem Zodiac hatte ihm nicht genug Wassertiefe gelassen. In unmittelbarer Nähe der Devilfish war man vor Schwertwalen geschützt, solange sie es nicht wie ihre südamerikanischen Verwandten hielten und die Jagd in flachem Wasser oder auf dem Trockenen fortsetzten.
   Bis zum Untergang der Lady Wexham blieb eine Gnadenfrist, die sie unter allen Umständen nutzen mussten.
   Ein kollektiver Aufschrei erklang. Ein Riesenexemplar von Grauwal war auf eines der herannahenden Boote der MS Arktik gekracht. Trümmer wirbelten umher. Das andere Boot ließ den Motor aufheulen, fuhr eine Kurve und ergriff die Flucht. Anawak starrte auf die Stelle, wo der Wal das Boot in die Tiefe gerissen hatte. Entsetzt registrierte er mehrere graue Buckel, die sich von der Unglücksstelle auf die Devilfish zubewegten. Jetzt sind wir wieder dran, dachte er. Shoemaker wirkte wie paralysiert. Seine Augen drohten aus ihren Höhlen zu treten. »Tom!«, schrie Anawak. »Wir müssen die Leute im Heck runterholen.« »Shoemaker!« Greywolf fletschte die Zähne. »Was ist? Geht dir der Arsch auf Grundeis?« Zitternd griff der Geschäftsführer ins Lenkrad und steuerte die Devilfish an die Aussichtsplattform heran. Eine Woge hob das Zodiac an, riss es zurück und schleuderte es unvermittelt auf die Plattform zu. Der Bug der Devilfish stieß hart gegen die Reling, in deren Streben sich die Schiffbrüchigen klammerten. Aus der Tiefe erklang das Jammern überstrapazierten Materials. Anawak sah vor seinem geistigen Auge, wie die Bordwand weiter aufriss und die Aufbauten auseinander brachen Shoemaker keuchte. Es gelang ihm nicht, die Devilfish so unter die Reling zu bugsieren, dass die Leute an Bord springen konnten.
   Die grauen Buckel wogten der Lady Wexham entgegen, geradewegs auf Kollisionskurs. Erneut ging ein fürchterlicher Schlag durch das Wrack. Eine Frau wurde von der Reling geschleudert und landete aufschreiend im Wasser.
   »Shoemaker, du verdammter Schwachkopf!«, schrie Greywolf.
   Mehrere Insassen sprangen hinzu und zerrten die strampelnde Frau ins Innere. Anawak fragte sich, wie lange der zertrümmerte Ausflugsdampfer dieser neuen Angriffswelle standhalten konnte. Die Lady Wexham sank nun deutlich schneller.
   Wir schaffen es nicht, dachte er verzweifelt.
   Im selben Moment geschah etwas Merkwürdiges.
   Zu beiden Seiten des Schiffs hoben sich zwei mächtige Rücken aus den Wellen. Einen davon erkannte Anawak sofort. Eine Reihe weißlich verwachsener, kreuzförmiger Narben verlief über der Wirbelsäule. Sie hatten das Tier, das sich die Verletzungen in frühester Jugend geholt haben musste, Scarback genannt. Scarback war ein sehr alter Grauwal, der das Durchschnittsalter seiner Spezies längst überschritten hatte. Der Rücken des anderen Wals wies keine signifikanten Merkmale auf. Beide Tiere lagen ruhig im Wasser und ließen sich mit den Wellen hochtragen und niedersinken. Knallend entlud sich der Blas zuerst des einen, dann des anderen Wals. Feinste Sprühwolken wehten herüber.
   Seltsam war weniger das Erscheinen der beiden Grauen als vielmehr die Reaktion der anderen Wale. Sie tauchten unvermittelt ab. Als ihre Buckel wieder zum Vorschein kamen, hatten sie sich ein gutes Stück entfernt. Dafür umrundeten wieder Orcas das Schiff, aber auch sie hielten vorsichtigen Abstand.
   Irgendetwas sagte Anawak, dass sie von den Neuankömmlingen nichts zu befürchten hatten. Im Gegenteil. Die beiden hatten die Angreifer fürs Erste verjagt. Wie lange der Frieden halten würde, war ungewiss, aber die unerwartete Wendung hatte ihnen eine Atempause eingetragen. Auch Shoemaker war seiner Panik Herr geworden. Diesmal steuerte er das Zodiac zielsicher unter die Reling. Anawak sah eine gewaltige Woge heranrollen und machte sich bereit. Wenn sie es jetzt nicht schafften, hatten sie verloren.
   Das Zodiac schoss empor.
   »Springt!«, rief er. »Jetzt!«
   Die Woge lief unter der Devilfish durch. Sie sackte weg. Einige der Leute sprangen dem Zodiac hinterher. Sie stürzten übereinander, Schmerzensschreie erschollen. Wer im Wasser landete, fand mit Hilfe der Insassen schnell ins Boot, bis alle eingesammelt waren.
   Jetzt nichts wie weg.
   Nein, nicht alle waren gesprungen. Auf der Reling hockte die einsame Gestalt eines Jungen. Er weinte, die Hände ins Geländer gekrallt.
   »Spring!«, rief Anawak. Er breitete die Arme aus. »Hab keine Angst.«
   Greywolf trat neben ihn. »Mit der nächsten Welle hole ich ihn.«
   Anawak sah über die Schulter. Ein mächtiger Wasserberg rollte heran. »Ich glaube«, sagte er, »darauf musst du nicht lange warten.«
   Aus der Tiefe dröhnten wieder die Laute der Zerstörung. Die beiden Wale sanken langsam zurück unter die Oberfläche. Immer schneller lief das Schiff jetzt voll. Das Wasser gurgelte und schäumte, dann verschwand die Brücke plötzlich in einem Strudel, und das Heck stellte sich hoch. Bug voran begann die Lady Wexham zu sinken.
   »Näher ran!«, schrie Greywolf.
   Irgendwie schaffte es Shoemaker, der Anweisung Folge zu leisten. Der Bug der Devilfish schrammte gegen das abtauchende Deck, an dessen Ende sich der Junge klammerte. Er weinte laut. Greywolf hastete, rempelnd und Knüffe verteilend, ins Heck. Im selben Moment hob die Woge das Zodiac empor. Vorhänge aus Schaum bauschten sich über der Reling. Greywolf lehnte sich hinaus und bekam den Jungen zu packen. Die Devilfish schwankte, er verlor das Gleichgewicht und kippte zwischen die Sitzreihen, aber den Jungen hatte er nicht losgelassen. Wie Baumstämme ragten seine Arme in die Höhe. Die prankenartigen Hände waren um die Taille des Jungen geschlossen.
   Anawak sah atemlos hinaus.
   Wirbel kreisten über der Stelle, wo das Kind noch vor Sekunden in der Reling gehangen hatte. Er sah die Lady Wexham in der Tiefe verschwinden, dann stürzte das Zodiac ins nachfolgende Wellental, und es durchfuhr seinen Magen, als säße er in einer Achterbahn.
   Shoemaker gab Vollgas. Es waren lange, gleichmäßige Wogen, die vom Pazifik hereinrollten. Sie konnten der Devilfish, wenngleich das Zodiac hoffnungslos überfüllt war, nicht gefährlich werden, sofern der Skipper jetzt keinen Fehler machte. Aber Shoemaker schien sich seiner besten Tage entsonnen zu haben. Die Panik war aus seinen Augen gewichen Sie schossen einen Wellenkamm hoch und darüber hinaus, fielen und nahmen Kurs auf die Küste.
   Anawak sah zurück zur MS Arktik. Das zweite Boot war verschwunden. Zwischen den Wellen sah er eine Fluke abtauchen. Es kam ihm vor, als ob sie zum Abschied höhnisch winkte. Die Fluke eines Buckelwals. Nie wieder würde er das Abtauchen einer Walfluke sehen können, ohne das Schlimmste zu denken.
   Im Funkgerät war der Teufel los.
   Wenige Minuten später hatten sie den Inselstreifen passiert, der das offene Meer von der Lagune trennte.
   Einzig der Umstand, dass ihm nicht auch noch die Devilfish verloren gegangen war, vermochte Davie in diesen Minuten aufzuheitern, nachdem das Zodiac überfüllt wie ein Flüchtlingsschiff am Pier festgemacht hatte. Sie lasen die Namen der Vermissten vor. Einige Leute brachen zusammen. Dann leerte sich Davies Whaling Station ebenso schnell, wie sie sich gefüllt hatte. So ziemlich jeder litt an Unterkühlung, also ließen sich die meisten von Freunden und Angehörigen zur nahe gelegenen Ambulanz bringen. Andere hatten sich ernsthafte Verletzungen zugezogen, aber wann ein Helikopter für den Transport ins Krankenhaus nach Victoria bereitstehen würde, war nicht abzusehen. Unverändert beherrschten Schreckensmeldungen den Funkverkehr.
   Davie hatte sich unangenehme Fragen gefallen lassen müssen, Beschuldigungen, Verdächtigungen und schlicht das Androhen von Prügeln, sollten die gebuchten Passagiere nicht unversehrt zurückkehren. Zwischendurch war Roddy Walker, Stringers Freund, aufgetaucht und hatte herumgeschrien, sie würden von seinen Anwälten hören. Niemanden schien sonderlich zu interessieren, wer die Schuld an den Vorgängen trug. Erstaunlicherweise wurde die einfachste Erklärung von kaum jemandem akzeptiert: dass die Wale unmotiviert angegriffen hatten. Wale taten so etwas nicht. Wale waren friedlich. Wale waren die besseren Menschen. Gesunde Halbbildung brach sich Bahn und brachte die Touristen in Tofino gegen die Whale Watcher auf, als hätten sie die Passagiere der Blue Shark und der Lady Wexham eigenhändig abgemurkst: Idioten, die unnötige Risiken eingegangen und mit altersschwachen Schiffen hinausgefahren waren. Tatsächlich hatte die Lady Wexham eine ganze Reihe von Jahren auf dem Buckel gehabt, was ihrer Seetauglichkeit posthum nicht im Mindesten Abbruch tat. Aber davon wollte augenblicklich niemand etwas hören.
   Wenigstens hatte man die Besatzung und den größten Teil der Passagiere heimgebracht. Viele Menschen hatte sich spontan bei Shoemaker und Anawak bedankt, aber als eigentlicher Held wurde Greywolf gefeiert. Er war überall gleichzeitig, redete, hörte zu, organisierte und bot an, mit in die Ambulanz zu fahren. Er gerierte sich als Gutmensch, dass Anawak vom Hinsehen schlecht wurde: eine zu zwei Meter Körpergröße mutierte Mutter Teresa.
   Anawak fluchte. Er musste sich um andere Dinge kümmern und spürte, wie ihm die Situation entglitt.
   Natürlich hatte Greywolf sein Leben riskiert. Natürlich hätten sie ihm danken müssen. Auf Knien sogar. Aber Anawak verspürte nicht die mindeste Lust dazu. Dieser plötzliche Ausbruch von Altruismus war ihm zutiefst suspekt. Greywolfs Einsatz für die Menschen auf der Lady Wexham, dessen war Anawak sich sicher, entsprang in weit geringerem Maße menschenfreundlichen Anwandlungen, als es den Anschein hatte. Im Grunde war der Tag für ihn höchst positiv verlaufen. Ihm glaubte und vertraute man. Ihm, der vorausgesagt hatte, es werde ein böses Ende nehmen mit dem Waltourismus, nur dass keiner hören wollte, und jetzt das! Hatte er nicht pausenlos gewarnt? Wie viele Zeugen würden sich bereitwillig einfinden, um Greywolfs luzide Voraussicht zu bestätigen?
   Eine bessere Bühne konnte er sich gar nicht wünschen.
   Anawak spürte seine Wut ins Unermessliche wachsen. Übellaunig ging er in den leeren Verkaufsraum. Sie mussten den Grund für das Verhalten der Tiere herausfinden! Seine Gedanken wanderten zur Barrier Queen. Roberts hatte ihm den Bericht schicken wollen. Den brauchte er nun dringender denn je. Er trat ans Telefon, wählte die Auskunft und ließ sich mit der Reederei verbinden.
   Roberts’ Sekretärin meldete sich. Ihr Chef sei im Meeting und dürfe nicht gestört werden. Anawak erwähnte seine Rolle bei der Inspektion der Barrier Queen und ließ eine gewisse Dringlichkeit erkennen. Die Frau bestand darauf, Roberts’ Sitzung sei dringender. Ja, vom Desaster der vergangenen Stunden habe sie gehört. Es sei schrecklich. Mitfühlend erkundigte sie sich nach Anawaks Wohlergehen, gab sich mütterlich besorgt und rückte Roberts dennoch nicht raus. Ob sie ihm etwas ausrichten könne?
   Anawak zögerte. Roberts hatte ihm den Bericht unter vier Augen versprochen, und er wollte den Manager nicht in Schwierigkeiten bringen. Vielleicht war es besser, die Absprache vor der Frau unerwähnt zu lassen. Dann fiel ihm etwas ein.
   »Es geht um die Muscheln, die am Bug der Barrier Queen festgewachsen waren«, sagte er. »Muscheln und möglicherweise andere organische Substanzen und Lebensformen. Wir hatten einiges davon ins Institut nach Nanaimo geschickt. Sie benötigen dort Nachschub.«
   »Nachschub?«
   »Weiteres Probenmaterial. Ich vermute, die Barrier Queen ist mittlerweile von hinten bis vorne untersucht worden.« »Ja, sicher«, sagte sie mit einem merkwürdigen Unterton. »Wo ist das Schiff jetzt?«
   »Im Dock.« Sie ließ eine kurze Pause verstreichen. »Ich werde Mr. Roberts ausrichten, dass es dringend ist. Wohin sollen wir die Proben schicken?«
   »Ans Institut. Zu Händen von Dr. Sue Oliviera. Danke. Sie sind sehr freundlich.« »Mr. Roberts meldet sich, sobald er kann.« Die Leitung war tot. Ganz eindeutig hatte sie ihn abgewimmelt. Was hatte das schon wieder zu bedeuten?
   Plötzlich zitterten seine Knie. Die Anspannung der vergangenen Stunden machte deprimierter Erschöpfung Platz. Er lehnte sich gegen die Theke und schloss einen Moment die Augen. Als er sie wieder öffnete, sah er Alicia Delaware vor sich stehen.
   »Was machst du denn hier?«, fragte er unfreundlich. Sie zuckte die Achseln. »Mir geht’s gut. Ich muss mich nicht behandeln lassen.« »Doch. Das musst du. Du bist ins Wasser gefallen, und das Wasser hier ist verdammt kalt. Geh in die Ambulanz, bevor sie uns auch noch deine erkältete Blase in die Schuhe schieben.« »He!« Sie funkelte ihn zornig an. »Ich habe dir nichts getan, klar?« Anawak stieß sich von der Theke ab. Er wandte ihr den Rücken zu und trat an das rückwärtige Fenster. Draußen am Kai lag die Devilfish, als sei nichts gewesen. Es hatte zu nieseln begonnen.
   »Was sollte eigentlich dieser Blödsinn von deinem angeblich letzten Tag auf Vancouver Island?«, fragte er. »Ich hätte dich gar nicht mitnehmen dürfen. Ich hab’s getan, weil du mir die Ohren voll geheult hast.«
   »Ich …« Sie stockte. »Na ja, ich wollte halt unbedingt mit. Sauer deswegen?« Anawak dreht sich um. »Ich hasse es, angelogen zu werden.« »Tut mir Leid.«
   »Nein, tut es nicht. Aber egal. Warum verschwindest du nicht und lässt uns unsere Arbeit machen?« Er kräuselte die Oberlippe. »Geh mit Greywolf. Er nimmt euch alle schön ans Händchen.«
   »Mein Gott, Leon!« Sie kam näher, und er wich zurück. »Ich wollte nun mal unbedingt mit dir rausfahren. Tut mir Leid, dass ich dich angelogen habe. Okay, ich bin noch ein paar Wochen hier, und ich komme auch nicht aus Chicago, sondern studiere Biologie an der University of British Columbia. Was soll’s? Ich dachte, du findest die Flunkerei am Ende lustig …«
   »Lustig?«, schrie Anawak. »Hast du sie nicht alle? Was ist lustig daran, verarscht zu werden?«
   Er spürte, wie ihm die Nerven durchgingen, aber er konnte nichts dagegen machen, dass er sie anschrie, obwohl sie Recht hatte. Sie hatte ihm nichts getan. Nicht das Geringste.
   Delaware zuckte zurück. »Leon …« »Licia, warum lässt du mich nicht einfach in Frieden? Hau ab.«
   Er wartete darauf, dass sie ging, aber sie tat es nicht. Sie stand weiter vor ihm. Anawak fühlte sich wie benommen. Alles kreiste vor seinen Augen. Einen Moment lang fürchtete er, seine Beine könnten nachgeben, dann sah er plötzlich wieder klar und erkannte, dass Delaware ihm etwas hinhielt.
   »Was ist das?«, brummte er.
   »Eine Videokamera.«
   »Das sehe ich.«
   »Nimm sie.«
   Er streckte die Hand aus, ergriff die Kamera und betrachtete sie. Eine ziemlich teure Sony Handycam in wasserfester Umschalung. Touristen, aber auch Wissenschaftler benutzten solche Verschalungen, wenn das Risiko bestand, dass die Kamera nass wurde.
   »Na und?«
   Delaware breitete die Hände aus. »Ich dachte, ihr wollt rausfinden, warum das alles passiert.« »Ich wüsste nicht, was dich das angeht.« »Hör endlich auf, deinen Ärger an mir auszulassen!«, fuhr sie ihn an. »Ich wäre da draußen fast gestorben, und das ist eben mal ein paar Stunden her. Ich könnte heulend in deiner Scheißambulanz sitzen, stattdessen versuche ich zu helfen. Wollt ihr’s nun wissen oder nicht?«
   Anawak holte tief Luft.
   »Okay.«
   »Hast du gesehen, welche Tiere die Lady Wexham angegriffen haben?« »Ja. Grau— und Buckel …« »Nein.« Delaware schüttelte ungeduldig den Kopf.
   »Nicht welche Spezies. Welche Individuen! Hast du sie identifizieren können?«
   »Es ging alles zu schnell.«
   Sie lächelte. Es war kein fröhliches Lächeln, aber immerhin ein Lächeln »Die Frau, die wir aus dem Wasser gezogen haben, war mit mir auf der Blue Shark. Steht unter Schock. Komplett weggetreten. Trotzdem, wenn ich was will, lasse ich nicht locker …«
   »Allerdings.«
   »und ich sah diese Kamera um ihren Hals hängen. Sie war gut befestigt, deshalb ist sie im Wasser nicht verloren gegangen. Jedenfalls, als ihr rausgefahren seid, konnte ich mich kurz mit ihr unterhalten. Sie hat die ganze Zeit über gefilmt! Auch noch, als Greywolf anrückte. Irgendwie war sie schwer von ihm beeindruckt, also hat sie weitergefilmt, ihn natürlich.« Sie machte eine Pause. »Wenn ich mich recht erinnere, lag die Lady Wexham aus unserer Sicht hinter Greywolf.«
   Anawak nickte. Plötzlich wurde ihm klar, worauf Delaware hinauswollte.
   »Sie hat den Angriff gefilmt«, sagte er.
   »Sie hat vor allem die Wale gefilmt, die das Schiff angegriffen haben. Ich weiß ja nicht, wie gut du im Identifizieren von Walen bist — aber du lebst hier und kennst die Tiere. Und ein Video ist geduldig.«
   »Du hast vorsorglich vergessen zu fragen, ob du die Kamera behalten darfst?«, vermutete Anawak. Sie hob das Kinn und sah ihn herausfordernd an. »Na und?« Er drehte die Kamera in den Händen. »Gut. Ich schau’s mir an.« »Wir schauen es uns an«, sagte Delaware. »Ich will in der ganzen Geschichte mit dabei sein. Und frag mich um Himmels willen nicht, warum. Es steht mir schlicht und einfach zu, okay?«
   Anawak starrte sie an.
   »Außerdem«, fügte sie hinzu, »bist du ab jetzt nett zu mir.«
   Langsam ließ er den Atem entweichen und betrachtete mit geschürzten Lippen die Kamera. Er musste zugeben, dass Delawares Idee bislang das Beste war, das sie hatten.
   »Ich bemühe mich«, murmelte er.
 

12. April

Trondheim, Norwegen
 
   Die Einladung erreichte Johanson, als er Vorbereitungen traf, hinaus zum See zu fahren.
   Nach seiner Rückkehr aus Kiel hatte er Tina Lund von dem Experiment im Tiefsee-Simulator erzählt. Es war ein kurzes Gespräch gewesen. Lund steckte bis über beide Ohren in diversen Projekten und verbrachte die verbleibende Zeit mit Kare Sverdrup. Johanson war es so vorgekommen, als sei sie nicht richtig bei der Sache. Etwas schien sie zu beschäftigen, das nicht mit ihrer Arbeit zu tun hatte, aber er gab sich taktvoll und vermied es, sie danach zu fragen.
   Einige Tage später rief Bohrmann an, um ihn auf den neuesten Stand zu bringen. Sie hatten in Kiel weiter mit den Würmern experimentiert. Johanson, der bereits gepackt hatte und eben im Begriff stand, das Haus zu verlassen, beschloss, seine Abreise um die Dauer eines weiteren Telefonats zu verschieben und Lund über die Neuigkeiten ins Bild zu setzen, aber sie ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen. Diesmal wirkte sie aufgeräumter.
   »Kannst du nicht bald mal zu uns rauskommen?«, schlug sie vor.
   »Wohin? Ins Institut?«
   »Nein, ins Statoil-Forschungszentrum. Wir haben die Projektleitung zu Besuch. Aus Stavanger.«
   »Was soll ich dabei? Denen die Gruselgeschichten erzählen?«
   »Das hab ich selber schon getan. Jetzt sind sie scharf auf Einzelheiten. Ich habe vorgeschlagen, dass du sie ihnen lieferst.«
   »Warum ausgerechnet ich?«
   »Warum denn nicht?«
   »Ihr habt doch Gutachten vorliegen«, sagte Johanson.
   »Stapelweise. Ich kann auch nur das weitergeben, was andere herausfinden.«
   »Du kannst mehr«, sagte Lund. »Du kannst … deinen Gefühlen Ausdruck verleihen.«
   Johanson war einen Augenblick sprachlos.
   »Sie wissen, dass du kein Experte für Ölbohrungen bist und ebenso wenig ein wirklicher Spezialist für Würmer oder so was«, fuhr sie hastig fort. »Aber du genießt einen ausgezeichneten Ruf an der NTNU, du bist neutral und nicht vorbelastet wie wir. Wir urteilen nun mal aus anderen Blickwinkeln.«
   »Ihr urteilt aus dem Blickwinkel der Machbarkeit.«
   »Nicht nur! Schau mal, es ist so, dass bei Statoil ein Haufen Leute zusammensitzt, von denen jeder etwas ganz Bestimmtes am besten kann, und …«
   »Fachidioten eben.«
   »Überhaupt nicht!« Sie klang verärgert. »Mit Fachidioten ist dieses Geschäft nicht zu machen. Hier steckt nur jeder zu tief drin. Wir hängen alle mit dem Kopf unter Wasser, mein Gott, wie soll ich es ausdrücken … Wir brauchen eben mehr Meinungen von außen.«
   »Ich verstehe nicht viel von eurem Geschäft.«
   »Natürlich zwingt dich keiner.« Lund klang allmählich gereizt. »Du kannst es auch bleiben lassen.«
   Johanson verdrehte die Augen. »Schon gut. Ich habe nicht vor, dich hängen zu lassen. Es gibt tatsächlich ein paar Neuigkeiten aus Kiel und …«
   »Kann ich das als Ja verbuchen?«
   »Ja. In Herrgotts Namen. Wann findet dieses Treffen statt?«
   »Es gibt mehrere Treffen in nächster Zeit. Eigentlich hängen wir ständig zusammen.«
   »Na schön. Es ist Freitag. Übers Wochenende bin ich weg, und Montag könnte ich …«
   »Das ist …« Sie stockte. »Das wäre eigentlich …«
   »Ja?«, sagte Johanson gedehnt, von bösen Vorahnungen geplagt.
   Sie ließ einige Sekunden verstreichen.
   »Was hast du überhaupt vor am Wochenende?«, fragte sie im Plauderton. »Willst du zum See?«
   »Klug erkannt. Willst du mit?«
   Sie lachte. »Warum nicht?«
   »Hoho! Und was sagt Kare dazu?«
   »Mir doch egal. Was soll er dazu sagen?« Sie schwieg eine Sekunde. »Ach verdammt!«
   »Wärest du doch nur in allem so gut wie in deinem Job«, sagte Johanson so leise, dass er nicht sicher war, ob sie es verstanden hatte.
   »Sigur, bitte! Kannst du deinen Ausflug nicht verschieben? Wir treffen uns in zwei Stunden, und ich dachte … es ist ja nicht weit von hier, und es dauert auch nicht lange. Du bist im Nu wieder draußen. Du kannst heute Abend noch losfahren.«
   »Ich …«
   »Wir müssen einfach weiterkommen in der Sache. Wir haben einen Zeitplan, und du weißt, was das alles kostet, und jetzt gibt es schon die ersten Verzögerungen, bloß weil …«
   »Ich mach’s ja!«
   »Du bist ein Schatz.«
   »Soll ich dich abholen?«
   »Nein, ich werde dort sein.«
   »Oh, ich freue mich. Danke! Das ist wirklich lieb von dir.« Sie legte auf. Johanson betrachtete wehmütig seinen gepackten Koffer.
   Als er den großen Konferenzraum des Statoil-Forschungszentrums betrat, war die angespannte Stimmung mit Händen zu greifen. Lund saß in Begleitung dreier Männer an einem schwarz polierten Tisch von ausladenden Dimensionen. Späte Nachmittagssonne fiel herein und verlieh dem in Glas, Stahl und dunklen Tönen gehaltenen Interieur etwas Wärme. Die Wände waren mit hochkopierten Diagrammen und technischen Zeichnungen regelrecht tapeziert.
   »Hier ist er«, sagte die Dame vom Empfang und lieferte Johanson ab, als sei er ein Weihnachtspaket. Einer der Männer stand auf und kam ihm mit ausgestreckter Hand entgegen. Er hatte kurz geschnittenes, schwarzes Haar und trug eine modische Brille.
   »Thor Hvistendahl, Stellvertretender Direktor des Statoil-Forschungszentrums«, stellte er sich vor. »Entschuldigen Sie, dass wir so kurzfristig Ihre Zeit beanspruchen, aber Frau Lund versicherte uns, Sie hätten nichts Besseres vor.«
   Johanson widmete Lund einen unmissverständlichen Blick und schüttelte die dargebotene Rechte.
   »Ich hatte in der Tat nichts vor«, sagte er.
   Lund grinste in sich hinein. Sie stellte ihm die Männer nacheinander vor. Wie Johanson es erwartet hatte, war einer davon aus der Statoil-Zentrale in Stavanger angereist, ein vierschrötiger Bursche mit roten Haaren und hellen, freundlichen Augen. Er fungierte als Repräsentant des Management Boards und gehörte dem Exekutiv komitee an.
   »Finn Skaugen«, dröhnte er beim Händedruck.
   Der dritte Mann, ein ernst dreinblickender Glatzkopf mit scharfen Falten um die Mundwinkel, der als Einziger eine Krawatte trug, erwies sich als Lunds direkter Vorgesetzter. Er hieß Clifford Stone, stammte aus Schottland und war Projektleiter des neuen Explorationsvorhabens. Stone nickte Johanson kühl zu. Er schien nicht besonders erbaut zu sein von der Anwesenheit des Biologen, aber ebenso gut mochte die personifizierte Sorge Teil seiner naturgewollten Physiognomie sein. Nichts ließ vermuten, dass er jemals lächelte.
   Johanson ließ einige Artigkeiten hören, lehnte einen Kaffee ab und setzte sich. Hvistendahl zog einen Packen Papier zu sich heran.
   »Kommen wir gleich zur Sache. Die Situation ist Ihnen bekannt. Wir wissen nicht recht einzuschätzen, ob wir gerade im Schlamassel stecken oder überreagieren. Sie kennen vielleicht einige der Bestimmungen, mit denen sich die Ölförderung herumzuschlagen hat?«
   »Nordseekonferenz«, sagte Johanson aufs Geratewohl.
   Hvistendahl nickte.
   »Unter anderem. Wir sind einer ganzen Reihe von Einschränkungen unterworfen, Umweltgesetzgebung, technisch Machbares, aber natürlich gibt es auch eine öffentliche Meinung zu nicht reglementierten Punkten.
   Kurz gesagt nehmen wir Rücksicht auf alles und jeden. Greenpeace und diverse Organisationen sitzen uns im Nacken wie die Zecken, und das ist in Ordnung so. Wir kennen die Risiken einer Bohrung, wir wissen in etwa, was uns erwartet, wenn wir eine Förderung in Betracht ziehen, und wir kalkulieren ein entsprechendes Timing.«
   »Soll heißen, wir kommen selber ganz gut zurecht«, sagte Stone.
   »Im Allgemeinen«, ergänzte Hvistendahl. »Nun ja, nicht jedes Unterfangen gelangt zur Durchführung, und das hat dann Gründe, die Sie überall nachschlagen können. Die Sedimentbeschaffenheit ist instabil, wir laufen Gefahr, eine Gasblase anzubohren, bestimmte Konstruktionen eignen sich nicht hinsichtlich Wassertiefe und Strömungsverhalten, all das. Grundsätzlich wissen wir aber recht schnell, was geht und was nicht. Tina testet die Anlagen bei Marintek, wir entnehmen die üblichen Proben, schauen uns da unten um, es gibt eine Expertise, und dann wird gebaut.«
   Johanson lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. »Aber diesmal ist der Wurm drin«, sagte er.
   Hvistendahl lächelte etwas verkrampft. »Sozusagen.«
   »Falls die Viecher irgendeine Rolle spielen«, sagte Stone. »Meines Erachtens spielen sie keine.«
   »Woher wollen Sie das wissen?«
   »Weil Würmer nichts Neues sind. Man findet sie überall.«
   »Nicht solche.«
   »Wieso? Weil sie Hydrate anknabbern?« Er funkelte Johanson angriffslustig an. »Ja, aber Ihre Freunde aus Kiel sagen, da wäre nichts, weswegen wir uns Sorgen machen müssten. Richtig?«
   »Das haben sie so nicht gesagt. Sie sagten …«
   »Dass die Würmer das Eis nicht destabilisieren können.«
   »Sie fressen es an.«
   »Aber sie können es nicht destabilisieren!«
   Skaugen räusperte sich. Es klang wie eine Eruption.
   »Ich denke, wir haben Dr. Johanson zu uns gebeten, weil wir seine Einschätzung hören wollen«, sagte er mit einem Seitenblick auf Stone. »Und nicht, um ihm mitzuteilen, was wir denken.«
   Stone kaute auf seiner Unterlippe und starrte die Tischplatte an.
   »Wenn ich Sigur richtig verstehe, liegen inzwischen weitere Ergebnisse vor«, sagte Lund und lächelte aufmunternd in die Runde.
   Johanson nickte. »Ich kann einen kurzen Abriss geben.«
   »Scheißviecher«, brummte Stone.
   »Möglicherweise. Geomar hat weitere sechs davon aufs Eis gesetzt, und alle haben sich kopfüber hineingebohrt. Zwei andere Exemplare wurden auf eine Sedimentschicht gesetzt, die kein Hydrat enthielt, und sie taten gar nichts. Sie fraßen nichts, und sie bohrten nicht. Weitere zwei setzte man auf Sediment, das zwar kein Hydrat enthielt, aber über einer Gasblase lag. Sie bohrten nicht, verhielten sich jedoch deutlich unruhiger.«