Johanson starrte ihn an. »Sie sind verrückt, Vanderbilt.«
   »Meinen Sie? In der Straße von Hormuz gab es bislang keine Kollisionen oder Havarien. Im Suezkanal auch nicht.«
   »Angenommen, das stimmt, warum sollte es Sinn machen, potenzielle Abnehmer für arabisches Öl mit Flutwellen und Seuchen zu dezimieren?«
   »Das alles ist verrückt«, erwiderte Vanderbilt. »Ich sage ja auch nur, dass es einen Sinn ergibt. Nicht, dass es sinnvoll ist. Aber beachten Sie, das Mittelmeer wurde bislang verschont und damit die Route vom Persischen Golf bis Gibraltar. Wurmpopulationen finden wir hingegen überall dort, wo der Westen und Südamerika ans Öl wollen.«
   »Die Populationen sind auch vor der amerikanischen Nordostküste aufgetaucht«, sagte Johanson. »Ein Tsunami europäischen Ausmaßes würde die Kundschaft ihrer Business-Terroristen aus dem Markt schwemmen.«
   »Dr. Johanson.« Vanderbilt lächelte. »Sie sind Wissenschaftler. In der Wissenschaft sucht man ständig nach Logik. Danach fragt die CIA schon längst nicht mehr. Naturgesetze mögen logisch sein. Menschen sind es nicht. Seit Jahrzehnten hängt das Damoklesschwert eines Atomkriegs über uns, und jeder weiß, dass unsere geliebte Menschheit darüber hingehen könnte. Die Welterpresser und Wahnsinnigen aus den James-Bond-Filmen, Dr. Johanson, es gibt sie, nur dass die Realität keinen James Bond vorsieht. Als Saddam Hussein 1991 Kuwaits Ölquellen anzündete, sagten sogar seine eigenen Leute voraus, dass er damit unter Umständen einen Jahre und Jahrzehnte andauernden nuklearen Winter auslösen könne. Sie behielten nicht Recht. Aber hat es ihn abgehalten? Und noch eines: Fragen Sie Ihre Kollegen aus Kiel. Was wirklich geschieht, wenn alles marine Methan in die Atmosphäre entweicht, darüber kann man nur spekulieren. Ein Anstieg des Meeresspiegels steht auf alle Fälle zu befürchten, Europa ist hinüber, weil sich Belgien, die Niederlande und Norddeutschland zu ausgedehnten Wassersportgebieten entwickeln, aber in den wasserarmen Wüsten des Nahen und Mittleren Ostens könnte es plötzlich blühen und gedeihen. Sie werden die Menschen mit ein paar Tsunamis nicht ausrotten, es bleiben immer noch genügend übrig, um arabisches Öl zu kaufen. Und vielleicht führt der ganze Terror ja gar nicht zum Ende der Menschheit, sondern nur zu einer Schwächung des Westens und Fernasiens und damit zu einer Umverteilung der globalen Machtverhältnisse, ohne dass jemand Krieg führen müsste. Irgendwann kriegt sich der Planet wieder ein, wollen wir drauf wetten? — Ich sage Ihnen, der Terror kommt aus dem Meer, aber die Ursache findet sich auf dem Land.«
   Li schaltete den Beamer aus.
   »Ich möchte den diplomatischen Vertretern und den Gesandten der Geheimdienste aller Länder danken, diesen Gipfel ermöglicht zu haben«, sagte sie. »Einige werden noch heute wieder abreisen, aber die meisten bleiben für die Dauer der nächsten Wochen unsere Gäste. Dass Sie im Zuge der Zusammenarbeit ebensolches Stillschweigen über den Fortgang unserer Arbeit und sämtliche damit verbundenen Erkenntnisse wahren wie der wissenschaftliche Stab, brauche ich nicht extra zu betonen. Es liegt im Interesse Ihrer Regierungen.«
   Sie machte eine Pause.
   »Was die Mitarbeiter der wissenschaftlichen Arbeitsgruppe betrifft, so sind wir bemüht, Sie in jeder erdenklichen Weise zu unterstützen. Ab sofort benutzen Sie bitte ausschließlich die Laptops vor sich. Überall im Hotel sind Anschlüsse gelegt worden, in der Bar, auf Ihren Zimmern, im Health Center. Sie können sich einloggen, wo immer Sie gerade sind. Inzwischen steht die transatlantische Verbindung wieder. Das Hoteldach ist bestückt mit Satellitenschüsseln, alles funktioniert. Telefon, Telefax, E-Mail und Internet laufen von nun an über die NATO-III-Satelliten — sie dienen üblicherweise dazu, Verbindungen zwischen den Regierungen der NATO-Partner herzustellen. Jetzt dienen sie Ihnen. Dafür haben wir einen geschlossenen Circuit eingerichtet, ein secretas in secretum, auf den ausschließlich Mitglieder der Arbeitsgruppe Zugriff haben. Über dieses Netz können Sie untereinander kommunizieren und streng geheime Informationen abrufen. Um hineinzugelangen, benötigen Sie ein persönliches Passwort, das Sie nach Unterzeichnung der Geheimhaltungserklärung erhalten.«
   Sie sah streng in die Runde.
   »Ich brauche nicht zu betonen, dass dieses Passwort unter keinen Umständen an Unbefugte weitergegeben werden darf. Einmal eingeloggt, haben Sie Zugriff auf zivile und militärische Satelliten, auf die Dateien der NOAA und SOSUS, auf sämtliche laufenden und archivierten Telemetrieprojekte, auf Datenbänke der CIA und NSA hinsichtlich weltweiter terroristischer Aktivitäten, Biowaffenentwicklungen und gentechnologischer Projekte, und so weiter und so fort. Wir haben den aktuellen Stand der Tiefseetechnik und ihrer Möglichkeiten für Sie zusammengefasst, ebenso geologisches und geochemisches Grundlagenwissen. Es gibt Verzeichnisse sämtlicher bekannter Organismen, Sie können Tiefseekarten aus den Beständen der Navy einsehen, und natürlich haben wir die heutige Präsentation anhänglich aller Zahlen und Statistiken beigefügt. Jede aktuelle Meldung, jede neue Entwicklung wird Ihnen automatisch und ohne Verzug zugeleitet. Wir halten Sie auf dem Laufenden, und selbstverständlich erwarten wir, dass Sie es umgekehrt ebenso halten.«
   Li verharrte einen Moment und schickte ein aufmunterndes Lächeln in die Runde.
   »Ich wünsche Ihnen Glück. Übermorgen um diese Zeit treffen wir uns wieder. Wer zwischendurch das Bedürfnis hat, sich auszutauschen, findet bei Major Peak oder mir jederzeit Gehör.«
   Vanderbilt sah sie an und zog eine Braue hoch.
   »Sie werden Onkel Jack doch hoffentlich immer schön Bericht erstatten«, sagte er so leise, dass nur Li es hören konnte.
   »Vergessen Sie nicht, Jack«, erwiderte Li, während sie ihre Unterlagen zusammenpackte, »dass Sie mir unterstellt sind.«
   »Das haben Sie missverstanden, Kleine. Wir arbeiten auf Augenhöhe. Keiner von uns ist dem anderen unterstellt.«
   »Doch, mein Freund. Intellektuell.«
   Grußlos verließ sie den Raum.
 
Johanson
 
   Die meisten bewegten sich Richtung Bar, aber Johanson verspürte wenig Lust, sich ihnen anzuschließen. Vielleicht hätte er die Gelegenheit nutzen sollen, die Truppe näher kennen zu lernen, aber ihm gingen andere Dinge im Kopf herum.
   Er war kaum auf seiner Suite angelangt, als es klopfte. Weaver kam ins Zimmer, ohne ein ›Herein‹ abzuwarten.
   »Man muss älteren Männern Zeit geben, das Korsett anzulegen, bevor man reinplatzt«, sagte Johanson. »Am Ende bist du enttäuscht.«
   Er lief mit seinem Laptop durch den großen, komfortabel eingerichteten Wohnraum und suchte nach dem Modemanschluss. Weaver öffnete unbeeindruckt die Minibar und entnahm ihr eine Cola.
   »Überm Schreibtisch«, sagte sie.
   »Oh. Tatsächlich.«
   Johanson schloss den Laptop an und startete das Programm. Sie blickte ihm über die Schulter.
   »Was hältst du davon, dass es Terroristen sind?«, fragte sie.
   »Nichts.«
   »Ganz deiner Meinung!«
   »Aber ich verstehe den Zustand der Schizophrenie, unter dem die CIA leidet.« Johanson klickte nacheinander einige Dateien an. »Sie lernen es da nicht anders. Außerdem hat Vanderbilt Recht, wenn er sagt, dass Wissenschaftler dazu neigen, menschliches mit natürlichem Verhalten gleichzusetzen.«
   Weaver beugte sich zu ihm herab. Ein Schwall Locken fiel ihr ins Gesicht. Sie strich sie zurück.
   »Du musst sie darüber in Kenntnis setzen, Sigur.«
   »Was meinst du?«
   »Deine Theorie.«
   Johanson zögerte. Er kniff die Augen zusammen, öffnete per Doppelklick ein Feld und gab sein Passwort ein:
   Chateau Disaster 000550899-XK/O
   »Tiraliralu«, summte er leise. »Willkommen im Wunderland.«
   Wie sinnig, dachte er. Ein Schloss voller Wissenschaftler, Geheimdienstler und Soldaten mit der Aufgabe, die Welt vor Ungeheuern, Flutwellen und Klimakatastrophen zu retten. Chateau Disaster. Treffender hätte man es kaum ausdrücken können.
   Der Bildschirm füllte sich mit Symbolen. Johanson studierte die Namen der Dateien und stieß einen leisen Pfiff aus. »Donnerwetter. Sie geben uns tatsächlich Zugriff auf die Satelliten.«
   »Sag bloß! Können wir sie auch steuern?«
   »Quatsch. Aber wir können ihre Daten abrufen. Schau dir das an. GOES-W und GOES-E, das ganze NOAA-Geschwader steht uns zur Verfügung. Hier, QuikSCAT, das ist auch nicht übel. Und da sind tatsächlich die Lacrosse-Satelliten. Damit sind sie über ihren Schatten gesprungen. Und hier, SAR-Lupe. Das ist …«
   »Schon gut, komm runter von deinem Trip. Glaubst du im Ernst, wir haben unbegrenzten Zugriff auf geheimdienstliche Informationen und Regierungsprogramme?«
   »Natürlich nicht. Wir haben Zugriff auf das, was sie uns sehen lassen wollen.«
   »Warum hast du Vanderbilt nicht gesagt, was du denkst?«
   »Weil es zu früh ist.«
   »Wir haben aber keine Zeit mehr, Sigur.«
   Johanson schüttelte den Kopf. »Karen, du musst Leute wie Li und Vanderbilt überzeugen. Sie wollen Resultate, keine Vermutungen.«
   »Wir haben Resultate!«
   »Aber der Zeitpunkt wäre denkbar ungünstig gewesen. Heute hatten die ihre große Stunde. Sie haben alles Mögliche zusammengetragen und zur Katastrophen-Gala aufgemotzt. Vanderbilt zog ein fettes arabisches Kaninchen aus dem Hut, und, verdammt, er war stolz drauf! Es hätte einfach nur wie Widerspruch geklungen. Ich will, dass ihnen selber Zweifel kommen an ihrer kleinen Verschwörungstheorie, und das wird schneller der Fall sein, als du glaubst.«
   »Okay.« Weaver nickte. »Und wie überzeugt bist du selber?«
   »Von meiner Theorie?«
   »Bist du’s nicht mehr?«
   »Doch. Aber nach dem heutigen Tag müssen wir außerdem die Ansichten der Amerikaner entkräften.« Johanson schaute sinnend auf den Bildschirm. »Im Übrigen habe ich so ein Gefühl, dass Vanderbilt nicht wirklich wichtig ist in dem Spiel. Wir müssen Li überzeugen, Karen. So wie ich sie einschätze, macht Li am Ende ohnehin, was sie will.«
 
Li
 
   Als Erstes ging sie auf ihr Laufband. Sie programmierte den Computer auf neun Stundenkilometer, was einen gemütlichen Trab ergab. Dann ließ sie eine Verbindung zum Weißen Haus herstellen. Nach zwei Minuten vernahm sie die Stimme des Präsidenten im Kopfhörer.
   »Jude! Schön, von Ihnen zu hören. Was machen Sie gerade?«
   »Ich laufe.«
   »Sie laufen. Bei Gott, Sie sind die Beste, Mädchen. Jeder sollte sich ein Beispiel an Ihnen nehmen. Nur ich nicht.« Der Präsident lachte laut und kumpelig. »Sie sind mir entschieden zu sportlich. — Verlief die Präsentation zu Ihrer Zufriedenheit?«
   »Vollkommen.«
   »Und haben Sie denen erzählt, was wir vermuten?«
   »Es ließ sich nicht vermeiden, dass sie erfuhren, was Vanderbilt vermutet.« Der Präsident lachte immer noch. »Hören Sie doch endlich auf mit Ihrem Kleinkrieg gegen Vanderbilt«, sagte er.
   »Er ist ein Arschloch.«
   »Aber er macht seine Arbeit. Sie müssen ihn ja nicht heiraten.«
   »Wenn es der nationalen Sicherheit dient, werde ich ihn heiraten«, entgegnete Li gereizt. »Aber ich werde darum nicht seiner Meinung sein.«
   »Nein, natürlich nicht.«
   »Hätten Sie sich zu diesem Zeitpunkt mit einer völlig unausgegorenen Terrorismus-Hypothese wichtig getan? Jetzt sind die Wissenschaftler vorbelastet. Sie laufen einer Theorie hinterher, anstatt selber eine zu entwickeln.«
   Der Präsident schwieg. Li konnte ihn förmlich darüber nachdenken hören. Er mochte Alleingänge nicht, und Vanderbilt hatte sich des Alleingangs schuldig gemacht.
   »Sie haben Recht, Jude. Es wäre wohl besser gewesen, damit noch hinterm Berg zu halten.«
   »Ganz Ihrer Ansicht, Sir.«
   »Gut. Reden Sie mit Vanderbilt.«
   »Reden Sie mit ihm. Auf mich hört er nicht. Ich kann ihn nicht daran hindern vorzupreschen, auch wenn es dumm und unüberlegt ist.« »In Ordnung. Ich werde mit ihm reden.«
   Li grinste in sich hinein. »Ich will Jack natürlich keine Schwierigkeiten machen …«, fügte sie pflichtschuldigst hinzu.
   »Das ist schon in Ordnung. Genug von Vanderbilt. Was glauben Sie? Kriegt Ihr akademisches Panoptikum die Sache in den Griff? Welchen Eindruck haben Sie von den Typen?«
   »Alle hoch qualifiziert.« »Jemand, der Ihre besondere Aufmerksamkeit verdient?« »Ein Norweger. Sigur Johanson, Molekularbiologe. Ich weiß noch nicht, was an dem Besonderes ist, aber er hat seinen eigenen Blick auf die Dinge.« Der Präsident rief etwas nach hinten. Li steigerte die Geschwindigkeit des Bandes.
   »Ich habe übrigens vorhin mit dem norwegischen Innenminister telefoniert«, sagte er. »Sie wissen nicht mehr ein noch aus. Natürlich begrüßen sie die Initiative der Europäischen Union, aber sie sähen es, glaube ich, lieber, wenn die Vereinigten Staaten mit im Boot wären. Die Deutschen sind übrigens derselben Meinung, von wegen Know-how-Transfer und so. Sie votieren für eine globale Kommission mit weit reichenden Befugnissen, die alle Kräfte bündelt.«
   »Und wer soll die Federführung haben?«
   »Der deutsche Kanzler schlägt vor, die Vereinten Nationen zu ermächtigen.«
   »Wirklich? Hm.«
   »Ich halte das für keinen schlechten Vorschlag.«
   »Nein, es ist sogar ein ausgesprochen guter Vorschlag.« Sie machte eine Pause. »Ich erinnere mich nur, dass Sie kürzlich feststellten, die UN hätte in ihrer ganzen Geschichte noch keinen derart schwachen Generalsekretär durchgefüttert wie gerade. Das war auf dem Botschafterempfang vor drei Wochen, erinnern Sie sich? Ich stieß ins selbe Horn, und wir bekamen die üblichen Prügel aus den üblichen Lagern.«
   »Ja, ich weiß. Gott, waren die aufgeblasen! Er ist aber nun mal ein Schlappschwanz. Die Wahrheit muss man äußern können, verdammt nochmal! — Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?«
   »Ich sag’s nur.«
   »Sie sagen’s nur. Kommen Sie schon. Was wäre die Alternative?«
   »Sie meinen die Alternative zu einem Gremium, in dem dutzendweise Vertreter des Nahen Ostens sitzen?«
   Der Präsident schwieg.
   »Die Vereinigten Staaten«, sagte er schließlich.
   Li tat, als müsse sie sich den Gedanken durch den Kopf gehen lassen.
   »Ich glaube, das ist eine gute Idee, Sir«, sagte sie.
   »Aber dann haben wir schon wieder die Probleme der ganzen Welt an der Backe. Eigentlich zum Kotzen, finden Sie nicht, Jude?«
   »Wir haben sie doch sowieso an der Backe. Wir sind die einzige Supermacht. Wenn wir es bleiben wollen, müssen wir weiterhin Verantwortung übernehmen. Außerdem — schlechte Zeiten sind gute Zeiten für die Starken.«
   »Sie und Ihre chinesischen Sprichwörter«, sagte der Präsident. »Wir bekommen den Job ohnehin nicht auf dem Silbertablett. Dazu ist es zu früh. Noch müssten wir unter Mühen glaubhaft machen, warum ausgerechnet wir uns an die Spitze einer Weltuntersuchungskommission setzen wollen. Was glauben Sie, wie so was in der arabischen Welt ankommt! Oder in China und Korea. Apropos Asien, ich habe das Dossier durchgeblättert über Ihre Wissenschaftler. Da ist einer, der asiatisch aussieht. Hatten wir nicht gesagt, Asiaten und Araber außen vor?«
   »Ein Asiate? Wie heißt er?«
   »Komischer Name. — Wakawaka oder so ähnlich.«
   »Oh, Leon Anawak. Haben Sie seinen Lebenslauf gelesen?«
   »Nein, ich hab’s nur überflogen.«
   »Er ist kein Asiate.« Li steigerte das Tempo auf zwölf Stundenkilometer. »Ich bin das mit Abstand Asiatischste im Umkreis des kompletten Whistlers.«
   Der Präsident lachte.
   »Ach Jude. Sie könnten vom Mars stammen, und ich würde Ihnen jede Vollmacht erteilen. Wirklich schade, dass Sie nicht zum Baseballgucken rüberkommen können. Wir treffen uns auf der Ranch, wenn nichts dazwischenkommt. Meine Frau mariniert Rippchen.«
   »Nächstes Mal, Sir«, sagte Li herzlich.
   Sie fachsimpelten noch eine Weile über Baseball. Li insistierte nicht weiter auf der Idee, die Vereinigten Staaten an die Spitze der Weltgemeinschaft zu setzen. Spätestens in zwei Tagen würde er glauben, es sei seine gewesen. Es reichte, ihm die Injektion verpasst zu haben.
   Nach dem Gespräch lief sie noch einige Minuten. Dann setzte sie sich schweißnass, wie sie war, an den Flügel und legte die Finger auf die Tasten. Sie konzentrierte sich.
   Sekunden später perlte Mozarts Klaviersonate in G durch die Suite.
 
KH-12
 
   Lis Klavierspiel verlor sich wie ein nach allen Seiten schwächer werdender Duft in den Fluren des neunten Stockwerks und trieb aus dem halb geöffneten Fenster der Suite nach draußen. Einhundert Meter über dem Erdboden breiteten sich die Schallwellen ringförmig nach allen Seiten aus. Am höchsten Punkt des Chateaus, das wie ein Märchenschloss über einen spitzgiebeligen Wohnturm verfügte, hätte ein geübtes Ohr sie zwar leise, aber noch deutlich wahrgenommen. Oberhalb des Giebels begannen sie sich zu zerstreuen. Nach einhundert Metern hatten sie sich mit einer Vielzahl anderer Wellen vermischt, und je höher es hinaufging, desto leiser wurden auch diese Geräusche. Ein Kilometer über dem Erdboden waren immer noch startende Automotoren zu hören, der mäkelige Lärm kleiner Propellerflugzeuge und die Glocke der presbyterianischen Kirche im üblicherweise geschäftigen Whistler Village, das nunmehr Teil der Sperrzone geworden war. Das Geknatter der Militärhubschrauber, die als wichtigste Verbindung zur Außenwelt dienten, wurde erst ab zweitausend Meter schwächer.
   Aus dieser Höhe genoss man einen atemberaubenden Blick auf das Hotel. Wie ein prophetischer Traum Ludwig des Zweiten lag es inmitten ausgedehnter, nach Westen sanft ansteigender Wälder, eben noch mit bloßem Auge zu erkennen. Auf den angrenzenden Bergrücken schimmerten zerfurchte Schneeflächen.
   Dann erstarben auch die letzten Geräusche vom Erdboden.
   Vornehmlich machten sich nun Düsenflugzeuge in der Start— und Landephase bemerkbar. In zehn Kilometern Höhe war das Chateau mit der Umgebung verschmolzen. Linienmaschinen zogen ihre Bahn. Der Horizont begann sich merklich zu krümmen. Tief liegende Wolkenfelder unter strahlend blauem Himmel gaukelten Schneefelder und Berge von Packeis vor, ein trügerischer Boden aus Wasserdampf. Weitere fünf bis zehn Kilometer höher durchschnitt der Lärm von Überschallflugzeugen die immer dünner werdende Atmosphäre. Die Troposphäre hatte den Launen des Wetters gehört, die Stratosphäre gehörte dem Ozon, das einen Großteil der ultravioletten Strahlung filterte. Es wurde wieder wärmer. In dieser Höhe waren Wolken wenig mehr als ätherische Formationen, deren Schillern an Perlmutt erinnerte. Silbrige Wetterballons reflektierten das Sonnenlicht und sorgten für Ufosichtungen. Durch die perfekte Stille 20 Kilometer über dem Erdboden hatte 1962 die legendäre U2 ihren verstohlenen Kurs Richtung Kuba angetreten, um die Stationierung sowjetischer Atomraketen nachzuweisen. Der Pilot des Aufklärungsflugzeugs hatte wegen der extremen Höhe Astronautenkleidung tragen müssen.
   Es war einer der kühnsten Flüge aller Zeiten gewesen unter einem Himmel, dessen Tiefblau den Weltraum schon erahnen ließ.
   In 80 Kilometern Höhe leuchteten noch vereinzelt gitterförmige Nachtwolken. Die Temperatur betrug -113 Grad Celsius. Nichts hier oben ließ auf menschliche Anwesenheit schließen, sah man von der gelegentlichen Präsenz startender und landender Raumfahrzeuge ab. Das Tiefblau wechselte über in Schwarzblau. Hier begann das Reich all jener heidnischen Götter, die von der modernen Wissenschaft als Polarlichter und verglühende Meteoriten entlarvt worden waren. Nirgendwo hatten die physikalischen Besonderheiten derart zur Bildung von Mythen und Legenden beigetragen wie in der Hunderte von Kilometern durchmessenden Thermosphäre. Tatsächlich eignete sie sich als Wohnort weder für Gottheiten noch sonstige Lebensformen. Nichts und niemand konnte hier überdauern. Gamma und Röntgenstrahlen fielen ungehindert ein. Kaum noch Gasmoleküle waren anzutreffen.
   Dafür aber etwas anderes.
   Mit 28000 Stundenkilometern zogen in 150 Kilometern Höhe die ersten Satelliten dahin. Ihrer Natur nach waren es vornehmlich Spionagesatelliten, die sich so nah wie irgend möglich über dem Erdboden hielten. 80 Kilometer über ihnen erstellte die Sonde der Space Radar Topography Mission Höhenprofile der Erdoberfläche und arbeitete an der Weltkarte des 21. Jahrhunderts. In solch geringer Höhe bremste das immer noch verhältnismäßig dichte atmosphärische Gemisch die Geschwindigkeit der Satelliten stetig ab, sodass sie auf gelegentliche Treibstoffschübe angewiesen waren, um nicht abzustürzen. Oberhalb 300 Kilometer brauchten sie keinen Treibstoff mehr. Hier glichen sich Zentrifugalkraft und Erdanziehung aus, sorgten für stabile Umlaufbahnen, und der Himmel füllte sich.
   Es ging zu wie auf einem Netz übereinander geschichteter Highways. Je höher, desto reger. Zwei kleine, elegante Flugkörper mit Namen Champ und Grace observierten das Gravitations— und Magnetfeld der Erde. 600 Kilometer über den Polen empfing ICESat Reflexionen der Erdoberfläche und gab Aufschluss über Veränderungen der Eiskappen. 70 Kilometer darüber kreisten drei hoch entwickelte Lacrosse-Beobachtungssatelliten des amerikanischen Militärs und tasteten den Boden mit hoch auflösendem Radar ab. Aus 700 Kilometern Höhe beobachteten die LANDSAT-Sonden der NASA Länder und Küsten, vermaßen die Zu— und Abnahme von Gletschern, kartierten die Ausdehnung von Wäldern und Packeis und lieferten detailgetreue Darstellungen der globalen Temperaturverteilung. SeaWiFS war mit optischer und infraroter Bilderfassung den Algenkonzentrationen in den Ozeanen auf der Spur. Die NOAA-Satelliten hatten sich auf einer sonnensynchronen Umlaufbahn in 850 Kilometern Höhe häuslich eingerichtet, und alle möglichen Wettersatelliten bewegten sich von Pol zu Pol. Bis weit in die Magnetosphäre herrschte das Gedränge, die jenseits der 900-Kilometer-Grenze kosmische Teilchen und Sonnenemissionen zu zwei Strahlungsgürteln bündelte, dem sogenannten Van-Allen-Gürtel, der sich zu einem kuriosen Medienphänomen entwickelt hatte. Einem Großteil der amerikanischen Bevölkerung diente er als schlagender Beweis dafür, dass die Amerikaner nicht auf dem Mond gewesen waren — selbst angesehene Wissenschaftler bezweifelten, dass überhaupt ein Mensch in einem Raumschiff hinreichend geschützt war, um diese Zone tödlicher Strahlung zu durchqueren. In der SatellitenTerminologie firmierte die Region hingegen schlicht als LEO, Low Earth Orbit, gefolgt vom dicht besiedelten Feld der Middle Low Orbits mit den gut 20000 Kilometer hoch fliegenden GPS-Satelliten, bis schließlich in 35888 Kilometern die geostationären Satelliten wie fixiert dahingen, Hüter fester Plätze, allen voran die Intelsats für die weltweite Kommunikation.
   Von alldem war Mozart unvorstellbar weit entfernt. Doch während sich die Klavierklänge in der Frühlingsluft verloren hatten, war Lis Gespräch mit dem Präsidenten die lange Strecke hinauf ins All und wieder zurückgereist. Auf dem Scheitelpunkt ihres Telefonats hatten sich die beiden im äußeren Weltraum unterhalten und Informationen ausgetauscht, die ebenfalls dem Weltraum entstammten. Ohne das Heer der Satelliten hätte Amerika die Golfkriege nicht führen können, nicht den Krieg im Kosovo und nicht den in Afghanistan. Der Luftwaffe wären keine Präzisionstreffer gelungen ohne die Unterstützung aus dem All, und das Oberkommando wäre blind gewesen für Feindbewegungen in unzugänglichen Bergregionen ohne das hoch auflösende Auge von Crystal, auch KH-12 genannt. KH stand für Keyhole. Amerikas detailgenaueste Spionagesatelliten bildeten das optische Pendant zum Radar des Lacrosse-Systems. Sie erkannten Gegenstände von vier bis fünf Zentimetern Kantenlänge und fotografierten auch im infrarotnahen Bereich, was ihre Aktionszeit auf die Nacht ausdehnte. Im Gegensatz zu außeratmosphärischen Satelliten waren sie mit einem Raketenantrieb ausgestattet, der ihnen den Aufenthalt in sehr niedrigen Umlaufbahnen gestattete. Üblicherweise umkreisten sie den Planeten in 340 Kilometern Höhe zwischen Nord— und Südpol, was sie in die Lage versetzte, innerhalb von 24 Stunden die gesamte Erde zu fotografieren. Mit Einsetzen der Angriffe vor Vancouver Island waren einige von ihnen auf 200 Kilometer abgesenkt worden. Keyhole, Lacrosse und 24 neue optische Hochpräzisionssatelliten in extrem erdnahen Umlaufbahnen, von Amerika als Antwort auf die Anschläge des 11. September in den Orbit geschossen, bildeten nun eine Konstellation, deren Leistungsfähigkeit sogar dem viel gerühmten deutschen SAR-Lupe-System den Rang ablief.
   Um 20.00 Uhr Ortszeit erhielten zwei Männer in einem unterirdischen Raum bei Buckley Field in der Nähe von Denver einen Anruf. Die Buckley Field Station gehörte zu mehreren geheimen Bodenstationen der amerikanischen Bildaufklärungsbehörde NRO, die mit der Planung der Satellitenspionage für die amerikanische Luftwaffe beauftragt war. Sie arbeitete eng zusammen mit der nationalen Sicherheits— und Dechiffrierbehörde NSA. Deren Auftrag bestand im Wesentlichen darin, zu lauschen und abzuhören. Den amerikanischen Behörden gestattete die Allianz der beiden Geheimdienste Überwachungsmöglichkeiten ohne Beispiel. Mittlerweile überzog ein größtenteils automatisiertes Netzwerk den Planeten, Echelon genannt, dessen verschiedenste technischen Systeme die internationale Kommunikation überwachten, von Satelliten über Mikrowellenradio bis hin zur Glasfaser.
   Die beiden Männer saßen unterhalb einer riesigen Satellitenschüssel. Umgeben von Monitoren empfingen sie Daten von Keyhole, Lacrosse und anderen Sonden in Echtzeit, interpretierten und verarbeiteten sie und leiteten sie an zuständige Stellen weiter. Beide waren ihrer Funktion nach Geheimagenten, wenngleich sie in nichts dem Bild entsprachen, das man sich gemeinhin von Agenten machte. Sie trugen Jeans und Turnschuhe und sahen eher aus wie Mitglieder einer Grunge-Band.
   Der Anrufer informierte die Männer über den Notruf eines Fischkutters vor der Nordostspitze von Long Island. In Höhe von Montauk war es offenbar zu einer Kollision gekommen, die auf den Angriff eines Pottwals schließen ließ — falls die Meldung stimmte. Die allgemeine Hysterie gipfelte in einer Flut falscher Alarme. Angeblich war ein größeres Schiff zur Unglücksstelle unterwegs, aber auch diese Meldung ließ sich nicht verifizieren. Der Kontakt zur Mannschaft war Sekunden nach dem Notruf abgerissen.
   KH-12-4, einer der Crystal-Keyhole-Satelliten, näherte sich südöstlich von Long Island. Er befand sich in günstiger Position. Die Direktive des Anrufers an die Bodenmannschaft lautete, das Teleskop unverzüglich auf die mögliche Unglücksstelle auszurichten.
   Einer der Männer gab eine Reihe von Befehlen ein.
   195 Kilometer über der Atlantikküste raste KH-12-4 dahin, eine teleskopbestückte Röhre von 15 Metern Länge und viereinhalb Metern Durchmesser, die inklusive Treibstoff beinahe 20 Tonnen wog. Zu beiden Seiten entfalteten sich große Sonnensegel. Der Befehl aus Buckley Field setzte einen schwenkbaren Spiegel vor dem Objektiv in Bewegung. Damit konnte der Satellit nach allen Seiten einen Bereich von bis zu 1000 Kilometern scannen. In diesem Fall reichte eine winzige Korrektur. Da es früher Abend war, schalteten sich die Restlichtverstärker ein und erhellten das Bild wie zur Mittagszeit. Alle fünf Sekunden schoss KH-12-4 ein Foto und funkte die Daten an einen Relaissatelliten, der sie ins Datenzentrum von Buckley Field schickte.
   Die Männer starrten auf den Monitor.
   Sie sahen Montauk dort unten liegen, den malerischen alten Ort mit seinem berühmten Leuchtturm. Aus 195 Kilometern Höhe wirkte Montauk allerdings nicht malerischer als ein Fleck auf einer Straßenkarte. Strichdünne Straßen durchzogen eine hell gesprenkelte Landschaft. Die Sprenkel waren Gebäude. Der Leuchtturm selber erschien als kaum wahrnehmbarer weißer Punkt am Ende einer Landzunge.
   Drum herum erstreckte sich der Atlantik.
   Der Mann, der den Satelliten steuerte, definierte den Bereich, in dem das Schiff angeblich angegriffen worden war, gab die Koordinaten ein und zoomte in die nächste Vergrößerungsstufe. Die Küste verschwand aus dem Blickfeld. Nur noch Wasser war zu sehen. Kein Schiff.
   Der andere Mann sah zu und aß frittierten Fisch aus einer Papiertüte.
   »Mach hin«, sagte er.
   »Nur die Ruhe.«
   »Nix mit Ruhe. Sie wollen die Auskunft sofort.«
   »Scheiß drauf, was sie wollen.« Der Steuermann schwenkte den Spiegel vor dem Teleskop um eine weitere Winzigkeit. »Das kann endlos dauern, Mike. Das ist Scheiße. Immer muss alles schnell gehen! Wie soll das funktionieren? Wir müssen das ganze verdammte Scheißmeer absuchen nach einem winzigen Scheißkutter.«
   »Müssen wir nicht. War ein Satellitennotruf über NOAA. Es kann nur hier sein. Wenn nicht, ist der Kahn versoffen.«
   »Noch größere Scheiße.«
   »Ja.« Der andere leckte seine Finger ab. »Arme Schweine.«
   »Scheiß auf die armen Schweine. Die armen Schweine sind wir, Wenn der Kahn abgesoffen ist, geht die Scheißsuche nach den Trümmern los.«
   »Cody, du bist wirklich eine faule Sau.«
   »Wohl wahr.«
   »Nimm ‘n Stück Fisch. — Hey, was ist das?« Mike zeigte mit einem fettigen Finger auf den Monitor. Im Wasser war undeutlich etwas Dunkles, Längliches zu erkennen.
   »Schauen wir doch mal.«
   Das Teleskop zoomte, bis sie zwischen den Wellen die lang gestreckte Silhouette eines Wals erkennen konnten. Ein Schiff war nach wie vor nicht auszumachen. Weitere Wale kamen ins Bild. Über ihren Köpfen breiteten sich verwaschene helle Flecken aus. Die Wale bliesen.
   Dann tauchten sie ab.
   »Das war’s«, sagte Mike Cody vergrößerte den Bildausschnitt erneut. Jetzt waren sie in der höchsten Auflösungsstufe angelangt. Sie sahen einen Seevogel auf den Wellen reiten. Genau genommen war es eine Ansammlung von knapp zwei Dutzend quadratischen Pixeln, aber im Ganzen ergaben sie unverkennbar einen Vogel.
   Sie suchten die Umgebung ab, konnten aber weder ein Schiff noch Trümmer entdecken.
   »Vielleicht abgetrieben«, mutmaßte Cody.
   »Kaum. Wenn die Meldung stimmt, müssten wir hier irgendwas sehen. Vielleicht sind sie weitergefahren.« Mike gähnte, knüllte die Tüte zusammen und zielte damit auf einen Papierkorb. Er verfehlte ihn um ein gutes Stück. »Wahrscheinlich doch falscher Alarm. Jedenfalls wär ich jetzt gerne da unten.«
   »Wo?«
   »In Montauk. Ist’n schöner Platz. Ich war letztes Jahr mit den Jungs da, kurz nachdem Sandy Schluss gemacht hatte. Wir waren ständig nur besoffen oder bekifft, aber es war klasse, auf den Klippen zu liegen, wenn die Sonne unterging. Am dritten Tag hab ich die Bedienung aus der Hafenkneipe klargemacht. War ‘ne echt geile Zeit.«
   »Dein Wunsch ist mir Befehl.«
   »Was meinst du?«
   Cody grinste ihn an. »Willst du in dein Scheißmontauk? Ich meine, wir herrschen über die himmlischen Heerscharen, Mann. Und wo wir gerade schon mal da sind …«
   Ein Leuchten ging über Mikes Gesichtszüge.
   »Zum Leuchtturm«, sagte er. »Ich zeig dir, wo ich sie gefickt habe.«
   »Aye, aye.«
   »Nein, warte mal. Vielleicht doch besser nicht. — Wir könnten einen Haufen Ärger kriegen, wenn …«
   »Wieso, Mann? Mach dir nicht ins Hemd. Es liegt in unserer Scheißverantwortung, wo wir nach Trümmern suchen.«
   Seine Finger flitzten über die Tastatur. Das Teleskop zoomte auf. Die Landzunge erschien. Cody suchte den weißen Punkt des Turms und holte ihn heran, bis er deutlich sichtbar unter ihnen aufragte. Er warf einen extrem langen Schatten. Die Klippen waren in rötliches Licht getaucht. In Montauk versank gerade die Sonne. Ein Pärchen ging eng umschlungen vor dem Leuchtturm spazieren.
   »Das ist die beste Zeit jetzt«, sagte Mike begeistert. »Voll romantisch.«
   »Du hast sie direkt vor dem Turm gevögelt?«
   »Quatsch, nein! Weiter unten. Da, wo die beiden hingehen. Der Platz ist bekannt dafür. Jeden Abend ist Flachlegen angesagt.«
   »Vielleicht bekommen wir ja was zu sehen.«
   Cody schwenkte das Teleskop, sodass es dem Pärchen vorauseilte. Auf den schwarzen Klippen war sonst niemand auszumachen. Nur Seevögel kreisten darüber hinweg oder pickten zwischen Felsritzen nach etwas, das man fressen konnte.
   Dann kam etwas anderes ins Bild. Etwas Flächiges. Cody runzelte die Stirn. Mike rückte näher. Sie warteten die nächste Aufnahme ab.
   Das Bild hatte sich verändert.
   »Was ist das denn?«
   »Keine Ahnung! Kannst du näher ran?«
   »Nein.«
   Wieder schickte der KH-12-4 Bilddaten. Wieder hatte sich die Landschaft verändert.
   »Du heilige Scheiße«, flüsterte Cody.
   »Was zum Teufel ist das?« Mike kniff die Augen zusammen. »Es breitet sich aus. Es kriecht die verdammten Klippen hoch.«
   »Scheiße«, wiederholte Cody. Er sagte eigentlich bei jeder sich bietenden Gelegenheit Scheiße, auch wenn ihm etwas gefiel. Mike registrierte es schon gar nicht mehr, wenn Cody Scheiße sagte. Aber diesmal war es nicht zu überhören.
   Diesmal klang es wirklich bestürzt.
 
Montauk, USA
 
   Linda und Darryl Hooper waren seit drei Wochen verheiratet, und sie verbrachten ihre Flitterwochen auf Long Island. Seit der Zeit, als noch mehr Fischer auf der Insel gelebt hatten als Filmstars, war Long Island teuer geworden. Hunderte exquisiter Fischrestaurants blickten auf kilometerlange Sandstrände. Die New Yorker Prominenz gab sich hier genauso mondän, wie man es von ihr erwartete. Sie teilte sich mit Amerikas schwerreichen Industriellen das Villenviertel von East Hampton, einem blank geputzten Postkartendorf, in dem sich als Durchschnittsverdiener kaum leben ließ. Auch Southampton weiter südwestlich war nicht gerade billig. Aber Darryl Hooper hatte sich als aufstrebender junger Anwalt einen Namen gemacht. In der großen Kanzlei im Herzen von Manhattan galt er als Ziehsohn der Seniorpartner. Noch verdiente er vergleichsweise wenig, aber Hooper wusste, dass er kurz davor stand, richtig viel Geld zu machen. Und er hatte dieses wirklich süße Mädchen geheiratet. Linda war der Schwarm aller Jurastudenten gewesen, aber sie hatte sich für ihn entschieden, obwohl ihm trotz seiner frühen Jugend die Haare ausfielen und er eine dickglasige Brille tragen musste, weil er Kontaktlinsen nicht vertrug.
   Hooper war glücklich. Im Bewusstsein kommender Segnungen hatte er beschlossen, sich und Linda einen kleinen Vorschuss zu gönnen. Das Hotel in Southampton war zu teuer. Sie bezahlten jeden Abend fast einhundert Dollar in einem der Gourmetrestaurants ringsum. Trotzdem war es in Ordnung so. Sie arbeiteten beide wie die Pferde, und sie hatten es sich einfach verdient. Nicht mehr lange, und die neu gegründete Familie Hooper würde sich die exklusiven Plätze leisten können, wann immer sie wollte.
   Er legte den Arm enger um seine Frau und sah hinaus auf den Atlantik. Eben verschwand die Sonne im Meer. Der Himmel ging ins Violette. Hoch gelegene Dunstfelder leuchteten rosafarben am Horizont. Das Meer schickte flache Wellen gegen den Strand, die mit Rücksicht auf ruhebedürftige Großstädter dezent plätscherten, anstatt sich lautstark zu brechen. Hooper überlegte, ob sie nicht eine Weile hier bleiben und später nach Southampton zurückkehren sollten. Im Moment war die Hauptstraße noch stark befahren, aber in einer Stunde würden sie gut durchkommen. Keine zwanzig Minuten würden sie für die fünfzig Kilometer brauchen, wenn er die Harley ordentlich aufdrehte. Jetzt aufzubrechen war einfach zu schade.
   Außerdem gehörte dieser Platz, wie allgemein erzählt wurde, nach Sonnenuntergang der Liebe.
   Langsam schlenderten sie über die flachen Klippen. Nach wenigen Schritten tat sich vor ihnen eine große, flache Mulde auf. Ein idealer, verschwiegener Flecken. Hooper war sehr verliebt, und er genoss es, dass sie hier völlig unbeobachtet waren. Von jenseits der Klippen hörte er das Meer. Sie waren weit und breit die Einzigen, wie es schien. Der Strand lag praktisch um die Ecke. Die meisten der romantisch Verliebten waren wohl dort unterwegs, aber das hier war ihre Welt.
   Nie im Leben wäre Hooper auf die Idee gekommen, dass zwei Beobachter in einem unterirdischen Raum in Buckley Field aus 195 Kilometer Höhe zusahen, wie er seine Frau küsste, mit den Händen unter ihr T-Shirt fuhr und es ihr abstreifte, wie sie seinen Gürtel öffnete, wie sie einander auszogen und auf dem Kleiderbündel ineinander verschlungen zu liegen kamen. Er küsste und streichelte Lindas Körper. Sie drehte sich auf den Rücken, und seine Lippen wanderten von ihren Brüsten zu ihrem Bauch, während er versuchte, mit seinen Händen möglichst überall gleichzeitig zu sein.
   Sie kicherte. »Nicht. Das kitzelt.«
   Er nahm die Rechte von der Innenseite ihres Oberschenkels und küsste sie ungestüm weiter.
   »Hey. Was machst du denn da?«
   Hooper sah auf. Was machte er? Eigentlich tat er nichts anderes als das, was er immer tat, und wovon er wusste, dass es ihr gefiel.
   Er küsste sie auf den Mund und fing ihren verwirrten Blick auf. Sie schaute an ihm vorbei. Hooper drehte den Kopf.
   Ein Krebs saß auf Lindas Schienbein.
   Sie stieß einen kleinen Schrei aus und schüttelte ihn ab.
   Der Krebs fiel auf den Rücken, spreizte die Scheren und kam wieder auf die Beine.
   »Mein Gott. Hab ich mich erschrocken.«
   »Schätze, er will mitmachen«, grinste Hooper. »Pech gehabt, Junge. Such dir dein eigenes Weibchen.«
   Linda lachte und stützte sich auf den Ellbogen.
   »Komischer kleiner Kerl«, sagte sie. »So einen hab ich noch nie gesehen.«
   »Was ist so komisch daran?«
   »Findest du nicht, dass er komisch aussieht?«
   Hooper sah genauer hin. Der Krebs verharrte regungslos auf dem gerölligen Untergrund. Er war nicht besonders groß, schätzungsweise zehn Zentimeter lang und völlig weiß. Sein Panzer leuchtete auf dem dunklen Boden. Die Färbung war sicher ungewöhnlich, aber noch etwas anderes irritierte Hooper. Linda hatte Recht. Er sah komisch aus.
   Dann erkannte er, was es war.
   »Er hat keine Augen«, sagte er.
   »Stimmt.« Sie rollte herum und kroch auf Knien und Händen zu dem Tier, das weiter einfach nur dasaß. »So was! Ob er krank ist?«
   »Sieht eher aus, als hätte er nie welche besessen.« Hooper ließ seine Fingerspitzen ihre Wirbelsäule heruntergleiten. »Ist doch egal. Lass ihn, er tut uns ja nichts.«
   Linda betrachtete den Krebs. Dann nahm sie ein Steinchen auf und warf es nach ihm. Das Tier wich weder zurück, noch ließ es sonst eine Reaktion erkennen. Sie tippte gegen die Scheren und zog die Finger schnell wieder weg, aber nichts geschah.
   »Der ist ja vielleicht stoisch.«
   »Komm, lass den blöden Krebs.«
   »Er wehrt sich gar nicht.«
   Hooper seufzte. Er hockte sich neben sie, tat ihr den Gefallen und stupste den Krebs an. »Tatsächlich«, stellte er fest. »Hat die Ruhe weg.« Sie lächelte, drehte ihm den Kopf zu und küsste ihn.
   Hooper spürte ihre Zungenspitze gegen seine stoßen und sie umspielen. Er schloss die Augen und gab sich dem Genuss hin …
   Linda zuckte zurück.
   »Darryl.«
   Er sah, dass der Krebs plötzlich auf ihrer Hand saß, mit der sie sich immer noch abstützte. Dahinter saß ein weiterer. Und daneben noch einer. Sein Blick wanderte den Fels hoch, der die Mulde vom Strand trennte, und er glaubte sich in einem Alptraum.
   Das dunkle Gestein war unter Myriaden gepanzerter Leiber verschwunden. Weiße Leiber mit Scheren und ohne Augen, die sich aneinander drängten, so weit man blicken konnte.
   Es mussten Millionen sein.
   Linda starrte auf die reglosen Tiere. »Oh Gott«, flüsterte sie.
   Im selben Moment setzte sich die Flut in Bewegung. Hooper hatte schon kleine Krabben über den Strand flitzen sehen, sonst aber immer gedacht, dass Krebse langsam und behäbig dahinstaksten. Doch diese hier waren schnell. Sie waren schrecklich in ihrer Schnelligkeit, wie eine Welle, die auf sie zufloss. Ihre harten Beine verursachten ein leises Prasseln auf dem felsigen Untergrund.
   Linda sprang auf, nackt wie sie war, und wich zurück. Hooper versuchte, ihre Kleidung zusammenzuraffen. Er taumelte. Die Hälfte fiel ihm wieder aus den Händen. Das rasende Heer der Krebse machte sich darüber her, und Hooper tat einen Satz nach hinten.
   Die Tiere folgten ihm.
   »Die tun nichts«, rief er gegen seine Überzeugung, aber Linda hatte sich schon umgedreht und rannte die Klippen rauf.
   »Linda!«
   Sie stolperte und schlug der Länge nach hin. Hooper lief zu ihr. Im nächsten Augenblick waren die Krebse überall, krabbelten über sie hinweg und an ihnen hoch. Linda begann zu schreien, schrill und panisch. Hooper schlug die Tiere mit der flachen Hand von ihrem Rücken und von seinen Unterarmen. Sie sprang mit verzerrtem Gesicht auf die Füße, immer noch schreiend, und fuhr mit den Händen zu ihren Haaren. Krabben liefen über ihren Kopf. Hooper packte sie und stieß sie vorwärts. Er wollte ihr nicht wehtun, er wollte nur, dass sie aus der nicht enden wollenden Lawine herausfänden, die sich über die Klippen ergoss, aber Linda stolperte erneut und riss ihn mit sich. Hooper verlor den Halt. Er schlug auf und spürte die kleinen, harten Körper unter seinem Gewicht zerbrechen. Splitter drangen schmerzhaft in sein Fleisch. Er schlug um sich, spürte, wie hunderte spitzer Füße über ihn hinweghuschten, sah Blut an seinen Fingern und schaffte es endlich, hochzukommen und Linda mit sich zu ziehen.
   Irgendwie gelangten sie nach oben. Chitin knackste unter ihren Füßen, als sie nackt zu der Harley rannten. Hooper wandte im Laufen den Kopf und stöhnte auf. Von der erhöhten Warte des Leuchtturms konnte er sehen, dass der komplette Strand von Krebsen nur so brodelte. Sie kamen aus dem Meer, unzählige von ihnen und immer neue. Die ersten hatten den Parkplatz erreicht und schienen auf dem glatten Untergrund noch schneller zu werden. Hooper rannte aus Leibeskräften, Linda mit sich zerrend. Seine Fußsohlen steckten voller Splitter. Widerwärtiger Schleim klebte an seinen Füßen. Er musste Acht geben, nicht auszurutschen. Endlich erreichten sie das Motorrad, sprangen auf den Sattel, und Hooper betätigte den Anlasser.
   Sie rasten los, aus der Umfriedung des Parkplatzes auf die Straße, die nach Southampton führte. Das Motorrad schlingerte wild im Matsch überfahrener Krebse, dann waren sie aus dem Gewimmel raus und schossen den Asphalt entlang. Linda krallte sich an ihm fest. Ein Lieferwagen kam ihnen entgegen, hinter dem Steuer ein alter Mann, der ihnen ungläubig entgegenstarrte. Hooper dachte kurz, dass man solche Szenen sonst nur in Filmen sah — zwei Leute splitternackt auf einem Motorrad. Wäre alles nicht so schrecklich gewesen, hätte er sich totgelacht über die Situation.
   In Sichtweite tauchten die ersten Häuser von Montauk auf. Der östliche Zipfel von Long Island war wenig mehr als ein schmaler Streifen, und die Straße verlief parallel zur Küste. Noch während Hooper auf Montauk zuhielt, sah er, dass sich von links die weiße Flut der Krebse näherte. Wie es aussah, kamen sie auch an anderer Stelle aus dem Meer. Sie ergossen sich über die Klippen und hielten auf die Straße zu.
   Er beschleunigte die Harley.
   Die weiße Flut war schneller.
   Wenige Meter vor dem Ortseingangsschild erreichte sie die Fahrbahn und verwandelte den Asphalt in ein Meer aus Leibern. Zugleich setzte ein Pickup rückwärts aus einer Toreinfahrt. Hooper merkte, wie die Harley ins Schleudern geriet, und versuchte, den Pickup zu umfahren, aber das Motorrad gehorchte ihm nicht mehr.
   Nein, dachte er. Oh mein Gott, bitte nicht.
   Der Pickup rollte quer über die Straße und weiter nach hinten, während die Harley darauf zurutschte. Hooper hörte Linda schreien und riss den Lenker herum. Um Haaresbreite schlitterten sie an der chromverzierten Kühlerhaube vorbei. Die Harley drehte sich. Nach wenigen Sekunden gelang es Hooper, das Motorrad zu stabilisieren. Menschen sprangen aus dem Weg. Er beachtete sie nicht. Die Straße vor ihnen war frei.