Eine Sekunde lang hatte er mit dem Gedanken gespielt, seiner Empfehlung als Erster zu folgen und über Bord zu springen.
   Stattdessen war er Westkanadier geworden. Seine Pflegefamilie hatte sich in Vancouver niedergelassen, freundliche Leute, die seine Ausbildung nach Kräften unterstützten, ohne dass man sich je wirklich aneinander gewöhnte. Es blieb eine Zweckgemeinschaft. Als Leon 24 wurde, siedelten sie um nach Anchorage, Alaska. Einmal im Jahr schrieben sie eine Karte, die er mit wenigen, unverbindlichen Zeilen beantwortete. Besucht hatte er sie nie, und sie schienen es auch nicht zu erwarten. Wahrscheinlich, wäre er nach Anchorage gefahren, hätten sie sich eher gewundert. Man konnte nicht sagen, dass sie sich fremd geworden waren — sie waren sich einfach nie nahe gewesen.
   Sie waren nicht seine Familie.
   Akesuks Vorschlag, gemeinsam aufs Land zu fahren, hatte neue Erinnerungen in Anawak wachgerufen. Die langen Abende am Feuer, wenn jemand eine Geschichte erzählte und die ganze Welt belebt schien. Als er klein gewesen war, hatte es wie selbstverständlich die Schneekönigin gegeben und den Bärengott. Er hatte den Männern und Frauen gelauscht, die noch in Iglus zur Welt gekommen waren, und sich vorgestellt, wie er als erwachsener Mann über das Eis ziehen würde, jagend und im Einklang mit sich und dem Mythos Arktis. Schlafen, wenn man müde wird. Arbeiten und jagen, wenn es die Witterung gestattet oder schlicht, wenn einem danach ist. Essen, wenn der Magen es verlangt und nicht irgendwelche Mittagspausen. Manchmal dauerte die Jagd einen Tag und eine Nacht, wenn man eigentlich nur kurz aus dem Zelt hatte gehen wollen. Manchmal rüstete man sich, und die Jagd fand nicht statt. Den Quallunaat war diese augenscheinliche Unorganisiertheit der Inuit immer suspekt gewesen. Quallunaat verstanden einfach nicht, wie man außerhalb geregelter Zeitpläne und Leistungsschemata existieren konnte und überhaupt durfte. Quallunaat bauten sich Welten außerhalb der Welt. Sie schlossen die natürlichen Abläufe zugunsten künstlicher aus, und alles, was nicht in ihr Konzept passte, wurde ignoriert oder ausgemerzt.
   Anawak dachte an das Chateau und an die Aufgaben, die sie dort zu lösen versuchten. Er dachte an Jack Vanderbilt. Wie zwanghaft der Stellvertretende CIA-Direktor an der Vorstellung festhielt, die Geschehnisse der letzten Monate ließen sich auf menschliches Planen und Handeln zurückführen. Wer die Inuit verstehen wollte, musste lernen, sich von der Kontrollpsychose zu lösen, die den zivilisierten Gesellschaften eigen war.
   Aber wenigstens hatte man es noch mit Menschen zu tun. Die unbekannte Macht hingegen hatte nichts Menschliches. Mittlerweile war Anawak der festen Überzeugung, dass Johanson Recht hatte. Dieser Krieg drohte an menschliche Ordnungs— und Wertvorstellungen verloren zu gehen. Leute wie Vanderbilt würden ihn schon darum verlieren, weil sie außerstande waren, Mentalitäten zu begreifen. Möglicherweise war dem CIA-Mann dieses Manko sogar bewusst, aber er würde nicht über den Schatten springen können, den ein aufrechter amerikanischer Bürger warf, geschweige denn den Weg der Verständigung mit einer nichtmenschlichen Spezies beschreiten.
   Ein Delphin war schon nicht zu begreifen. Wie dann eine Rasse, die Johanson in dadaistischer Einsicht die Yrr genannt hatte?
   Plötzlich wurde Anawak bewusst, dass sie die Aufgabe nicht würden lösen können, solange sie nicht das richtige Team beisammen hatten.
   Jemand fehlte. Und er wusste auch, wer.
   Während Akesuk Vorbereitungen für den Aufbruch traf, bemühte sich Anawak in der Polar Lodge um eine Verbindung ins Chateau. Nach einigen Minuten schaltete man ihn auf einen abhörsicheren Kanal und leitete ihn mehrfach um. Li war nicht im Hotel, sondern befand sich an Bord eines Navy-Kreuzers vor Seattle. Er musste geschlagene fünfzehn Minuten warten, bis er sie endlich in der Leitung hatte.
   Er fragte, ob sie weitere drei bis vier Tage auf ihn verzichten könne. Sie räumte ihm die Frist ein, nachdem er vorgeschoben hatte, sich um seine Angehörigen kümmern zu müssen. Dabei nagte das schlechte Gewissen an ihm, aber er sagte sich, dass die Rettung der Welt unmöglich davon abhängen konnte, ob er die nächsten drei Tage zur Verfügung stand oder nicht. Im Übrigen stand er ja zur Verfügung. Sein Kopf arbeitete auch im hohen Norden.
   Li erklärte ihm, sie gingen mit Sonarattacken gegen die Wale vor. »Ich weiß, dass Sie das nicht gerne hören«, sagte sie.
   »Und, funktioniert es?«, fragte er.
   »Wir stehen kurz vor der Einstellung der Experimente. Sie zeigen nicht die gewünschte Wirkung. Aber wir müssen alles versuchen. Solange wir uns die Tiere vom Leibe halten, haben wir bessere Chancen, Taucher und Equipment nach unten zu schicken.«
   »Sie wollen die Chancen vergrößern? Dann erweitern Sie das Team.«
   »Um wen?«
   »Um drei Leute.« Er machte eine Pause, dann entschloss er sich, offensiv zu werden. »Ich will, dass sie rekrutiert werden. Wir brauchen mehr Mitarbeiter, die sich mit Verhaltensforschung und Intelligenz beschäftigen. Und ich brauche jemanden, der mir assistiert und dem ich vertrauen kann. Ich will, dass Alicia Delaware mit ins Boot geholt wird. Sie wohnt den Sommer über in Tofino. Eine Studentin, die sich mit Intelligenzforschung beschäftigt.«
   »In Ordnung«, sagte Li überraschend schnell. »Zweitens?«
   »Ein Mann aus Ucluelet. Wenn Sie Einsicht in die Akten der MK-Programme nehmen, werden Sie ihn unter Jack O’Bannon finden. Er kann mit Meeressäugern umgehen. Und er weiß einiges, was uns von Nutzen sein könnte.«
   »Ist er Akademiker?«
   »Nein. Ex-Ausbilder der US-Army. Marine Mammal System.«
   »Verstehe«, sagte Li. »Das werden wir besprechen müssen. Wir haben selber eine Reihe Experten auf diesem Gebiet. Warum wollen Sie ausgerechnet ihn?«
   »Ich will ihn einfach.«
   »Und die dritte Person?«
   »Sie ist die wichtigste von allen. Wir haben es hier gewissermaßen mit Aliens zu tun. Sie werden jemanden brauchen, der sich ausschließlich Gedanken darüber macht, wie man mit Wesen kommunizieren kann, die keine Menschen sind. Nehmen Sie Kontakt zu Dr. Samantha Crowe auf. Sie leitet das SETI-Projekt in Arecibo.«
   Li lachte leise.
   »Sie sind ein kluger Bursche, Leon. Wir hatten ohnehin vor, jemanden von SETI mit hinzuzuziehen. Kennen Sie Dr. Crowe?«
   »Ja. Sie ist in Ordnung.«
   »Gut.«
   »Werden Sie meine Wünsche berücksichtigen?«
   »Ich sehe, was sich tun lässt.« Jemand rief im Hintergrund Lis Namen. »Machen Sie’s gut, Leon. Kommen Sie heil zu uns zurück. Ich muss wieder an die Front.«
   Die Turbo-Prop Hawker Siddeley flog nicht auf direktem Wege in den Norden, sondern erst ein Stück ostwärts. Akesuk hatte den Piloten zu dem kleinen Umweg überredet, damit Anawak die Great Plain of Koukdjuak bewundern konnte, ein Wildschutzgebiet voller kreisrunder Wassertümpel, in dem die größte Gänsekolonie der Welt zu Hause war. Weitere Passagiere aus Cape Dorset und Iqaluit saßen in der Maschine, die alle nach Pond Inlet aufs Land wollten. Die meisten kannten die Aussicht und dösten vor sich hin.
   Anawak hingegen konnte sich nicht satt sehen.
   Ihm war, als erwache er aus einem jahrelangen Schlaf.
   Sie flogen ein Stück die Küste entlang und kreuzten den nördlichen Polarkreis. Geographisch begann hier die Arktis. Unter ihnen lag die eisige Mondlandschaft des Foxe-Beckens mit ihren großen und kleinen Eisaufbrüchen, unterbrochen von Flächen freien Wassers. Nach kurzer Strecke hatten sie wieder Land unter sich, zerklüftet und mit schroffen Berghängen und senkrechten Steinpalisaden. Schnee glitzerte am Grund tiefer, schattiger Schluchten. In gefrorene Seen ergossen sich Rinnsale von Schmelzwasser. Die Landschaft im Licht der tiefer sinkenden Sonne gewann zunehmend an Großartigkeit. Schartige, braune Berge wechselten mit verschneiten Tälern, Gebirgszüge reckten sich ihnen entgegen, fast zur Gänze bedeckt mit Schneeverwehungen. Plötzlich, beinahe übergangslos, zog der Flieger über eine bläulich weiß abgesetzte Uferlinie hinweg, und sie blickten auf eine geschlossene Decke aus Meereis, den Eclipse Sound.
   Anawak vergaß alles um sich herum.
   Er schaute die bizarre Schönheit der hohen Arktis. Riesige, schneeweiße Kristallgebilde ragten aus der weißen Ebene des Sound hervor. Eisberge, die festgefroren waren. Unter ihnen liefen winzig zwei Polarbären dahin, wie gejagt vom Schatten der Turbo-Prop auf der Eisoberfläche. Schimmernde Punkte stoben auf, Möwen. Ein ganzes Stück weiter erhoben sich die gewaltigen Steilhänge und Gletscher der Insel Bylot. Dann hielten sie tiefer gehend auf ein neues Ufer zu, braun marmorierte Landschaft kam näher, Häuser einer Siedlung, eine Landepiste — Pond Inlet, Mittimatalik in der Sprache der Inuit, Wo Mittimata sich befindet.
   Grell stand die Sonne über dem nordwestlichen Horizont. Sie würde nicht untergehen um diese Jahreszeit, nur gegen zwei Uhr morgens für wenige Minuten den Horizont berühren. Es war neun Uhr abends, als sie ihr Ziel erreichten, aber Anawak hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Er sah auf die Plätze seiner Kindheit, und etwas Schweres schien von seiner Brust genommen.
   Akesuk hatte Recht gehabt. Sein Onkel hatte geschafft, was Anawak noch vor vierundzwanzig Stunden für unmöglich gehalten hätte.
   Er hatte ihn heimgebracht.
   Pond Inlet war von ähnlicher Größe und Einwohnerzahl wie Cape Dorset und dennoch ganz anders als der Süden. Seit über 4000 Jahren war die Region ununterbrochen besiedelt gewesen. Niemand hier hatte sich zu architektonischen Wagnissen verstiegen wie in Iqaluit. Akesuk erklärte, dass die Inuit in diesem Teil Nunavuts wesentlich mehr Wert auf Traditionen legten als irgendwo sonst. Vorsichtig fügte er hinzu, dass hier oben auch der Schamanismus noch eine gewisse Rolle spiele, obwohl natürlich alle gläubige Christen seien! Als Anawak nicht darauf einging, ließ er das Thema fallen und begann, eine Reihe von Dingen aufzuzählen, die sie tags drauf in den Supermärkten des Ortes zu erstehen hätten.
   Sie blieben die Nacht über im Hotel. Früh morgens weckte ihn Akesuk, und sie gingen zum Ufer hinunter. Der Onkel sah witternd hinaus und meinte, sie würden das gute Wetter behalten und einer ordentlichen Jagd entgegensehen.
   »Der Frühling hat nicht lange auf sich warten lassen«, stellte er befriedigt fest. »Im Hotel sagen sie, bis zur Packeisgrenze ist es ein halber Tag— Vielleicht einer, je nachdem.«
   »Je nach was?«
   Akesuk zuckte die Achseln.
   »Alles Mögliche kann passieren. Je nachdem halt. Du wirst eine Menge Tiere zu sehen bekommen, Wale, Robben, Polarbären. Der Eisaufbruch ist in diesem Jahr früher gekommen als sonst.«
   Das wundert mich nicht, dachte Anawak, bei dem, was augenblicklich geschieht.
   Die Gruppe umfasste zwölf Leute. Einige kannte Anawak aus dem Flugzeug, andere lernte er in Pond Inlet kennen. Akesuk besprach sich mit den beiden Führern. Sie stellten das Gepäck für die Tour zusammen und deponierten im Lagerraum des Hotels, was sie nicht unmittelbar brauchten. Inzwischen standen vier Qamutiks bereit, die für die Reise vorbereitet worden waren. In Anawaks Erinnerung waren die traditionellen Schlitten von Hunden gezogen worden, jetzt hatte man Schneemobile, Skidoos, mit Doppelseilen vorgespannt. Die Qamutiks selber sahen aus wie früher: Vier Meter lang, mit zwei hölzernen, hoch gebogenen Kufen und einer Vielzahl stramm verknüpfter Querlatten, wiesen sie nirgendwo eine einzige Schraube oder einen Nagel auf. Der komplette Schlitten wurde von Seilen und Riemen zusammengehalten, was Reparaturen erheblich vereinfachte. Auf drei Qamutiks waren hölzerne, nach oben offene Kabinen als Wetterschutz montiert, der Vierte diente als Packschlitten.
   »Du bist nicht warm genug angezogen«, gab Akesuk mit Blick auf Anawaks Anorak zu verstehen.
   »Wieso? Ich hab aufs Thermometer gesehen. Es sind sechs Grad über null.«
   »Du vergisst den Fahrtwind. Hast du zwei Paar Socken in deinen Stiefeln? Wir sind hier nicht in Vancouver.«
   Er hatte tatsächlich so vieles vergessen. Das Gefühl dafür, wie es war, in die Kälte hinauszufahren, stellte sich erst allmählich wieder ein. Es war beinahe beschämend. Natürlich waren kalte Füße das Hauptproblem, sie waren es immer gewesen. Er streifte ein zweites Paar Socken über und einen weiteren Pullover, bis er sich vorkam wie eine wandelnde Tonne. Alle Teilnehmer der Reise hatten etwas von Astronauten mit ihrer Schutzkleidung und den Schneebrillen.
   Akesuk ging mit den Führern ein letztes Mal die Ausrüstung durch.
   »Schlafsäcke, Karibufelle …«
   Seine Augen glänzten. Der dünne, graue Schnurrbart schien sich zu sträuben vor Vergnügen. Anawak sah ihm zu, wie er geschäftig von Schlitten zu Schlitten lief. Ijitsiaq Akesuk war ganz anders als sein Vater. In seiner Gesellschaft kam den Inuit und ihrer Lebensweise plötzlich wieder Bedeutung zu.
   Seine Gedanken wanderten zu der Macht tief unten im Meer.
   Mit dem Beginn ihrer Reise übers Eis würden sie einzig den Regeln der Natur folgen. Um hier draußen zu bestehen, brauchte man eine gewisse pantheistische Grundhaltung. Man durfte sich nicht wichtig nehmen. Man war nicht wichtig, sondern Bestandteil der beseelten Welt, die sich in Tieren, Pflanzen und im Eis manifestierte und gelegentlich auch in Menschen.
   Und in den Yrr, dachte er. Wer immer sie sind, wie immer sie aussehen, wie und wo immer sie leben.
   Es gab einen leichten Ruck, als das Schneemobil anfuhr, in dessen Schlitten Anawak, Akesuk und seine Frau Platz gefunden hatten, und sie glitten über das vereiste und verschneite Meer. Vereinzelt waren breite Wasserlachen zu sehen. Der Schmelzprozess hatte schon hier und da eingesetzt, aber er beschränkte sich auf die oberen Schichten. Sie umrundeten den Uferhügel von Pond Inlet und hielten weiter auf Nordosten zu, bis sie einige Kilometer Abstand zwischen sich und die Küste Baffin Islands gebracht hatten, die südlich aus der Eisfläche wuchs. Auf der gegenüberliegenden Seite reckten sich die Felsen von Bylot Island in den Himmel, umgeben von Eisbergen. Eine gewaltige Gletscherzunge erstreckte sich aus den Gipfeln hinunter zum Ufer. Anawak machte sich klar, dass sie nicht Land, sondern die gefrorene Kruste des Meeres überquerten. Unter ihnen schwammen Fische. Hin und wieder hoben die Kufen des Qamutik ab, wenn sie über Unebenheiten rumpelten und knallten hart wieder auf, aber der Schlitten federte den Aufprall ab.
   Nach einer Weile änderten die beiden Inuit in dem zuvorderst fahrenden Qamutik die Fahrtrichtung, und der Tross folgte. Einen Moment war Anawak verwirrt, dann sah er, dass sie eine klaffende Eisspalte umfuhren, die zu groß war, als dass man sie mit den Schlitten hätte überqueren können. Jenseits der bläulichen Kante war schwarzes, unergründliches Meerwasser zu erkennen.
   »Das kann ein bisschen dauern«, meinte Akesuk.
   »Ja, es kostet Zeit«, nickte Anawak, der sich erinnerte, wie oft sie an solchen Spalten entlanggefahren waren.
   Akesuk krauste die Nase.
   »Nein. Warum sollte es welche kosten? Wir opfern keine Zeit. Wir behalten sie, ob wir nun direkt nach Osten fahren oder erst ein Stück weiter nördlich. Hast du alles vergessen? Hier oben ist nicht wichtig, wie schnell du ankommst. Wenn du einen Umweg fährst, findet dein Leben trotzdem statt. Keine Zeit ist verloren.«
   Anawak schwieg.
   »Vielleicht«, fügte sein Onkel lächelnd hinzu, »war das unser größtes Problem im vergangenen Jahrhundert, dass uns die Quallunaaq die Zeit gebracht haben. Wir mussten lernen, dass es auch vergeudete Zeit gibt. Die Quallunaaq denken, Warten sei verlorene Zeit und damit verlorene Lebenszeit. Ich schätze, als du klein warst, haben wir das alle geglaubt. Auch dein Vater hat es geglaubt, und weil er keine Möglichkeit sah, etwas Sinnvolles und Wertvolles zu tun, kam er zu der Überzeugung, sein Leben sei wertlos, weil es aus ungenutzter, vergeudeter Zeit bestand. Wertlose Lebenszeit. Ein wertloses Leben.«
   Anawak sah ihn an. »Du solltest nicht ihn bedauern, sondern meine Mutter«, sagte er.
   »Sie hat ihn auch bedauert«, gab Akesuk zurück und begann eine Unterhaltung mit Mary-Ann.
   Tatsächlich mussten sie mehrere Kilometer fahren, bis sich die Spalte so weit verengte, dass sie auf die andere Seite wechseln konnten. Einer der Inuit-Führer koppelte sein Schneemobil ab und jagte es mit hoher Geschwindigkeit hinüber. Von dort warf er den Qamutiks nacheinander Seile zu, zog sie über die Spalte, und es ging weiter. Anawaks Onkel schob gleichmütig einen dünnen, speckigen Streifen in den Mund und hielt Anawak die Dose mit den übrigen Streifen hin.
   Zögernd griff Anawak zu. Es war Narwalhaut. Wenn sie früher auf dem Eis unterwegs gewesen waren, hatten sie immer Vorräte an Narwalhaut mitgenommen. Er wusste, dass sie große Mengen Vitamin C enthielt, mehr als jede Zitrone oder Orange. Er kaute darauf herum und schmeckte das Aroma frischer Nüsse.
   Der Geschmack löste eine Kettenreaktion von Bildern und Empfindungen aus. Er hörte Stimmen, aber es waren nicht die Stimmen der Expeditionsteilnehmer, sondern die anderer Menschen, mit denen er vor über zwanzig Jahren unterwegs gewesen war. Er spürte die Hand seiner Mutter, die ihm übers Haar strich.
   »Meereisspalten, Presseisbarrieren …« Der Onkel lachte. »Das ist kein Highway hier, Junge. Mal ehrlich, hast du nichts von alledem jemals vermisst?«
   Falls Akesuk die sentimentale Stimmung bemerkt hatte, in die er unvermittelt geraten war, und versuchte, sie mit seiner Frage zu verstärken, bewirkte er das Gegenteil. Anawak schüttelte den Kopf. Vielleicht war es bloßer Trotz, aber er sagte nur knapp: »Nein.«
   Im selben Moment schämte er sich seiner Antwort.
   Akesuk zuckte die Achseln.
   Wer den größten Teil seines Lebens auf Vancouver Island verbracht hatte, noch dazu als Erforscher marinen Lebens, stand der Natur näher als jeder menschlichen Errungenschaft. Dennoch war es etwas anderes, im Clayoquot Sound Wale zu beobachten, als über die konturlose Weiße dieses Meerarms dahinzugleiten, immer weiter hinaus, braune Tundra zur Rechten und die gletscherbedeckten Gipfel von Bylot Island zur Linken. Während das Klima im Westen Kanadas für Menschen wie geschaffen schien, präsentierte sich die Arktis als spektakuläre Hölle. Wunderschön zwar, aber sich selber genug und tödlich für jeden, der sich der Illusion menschlicher Vorherrschaft ergab. Die Siedlungen wirkten wie trotzige Versuche, etwas in Besitz zu nehmen, was sich nicht besitzen ließ. Die Reise auf den Qamutiks zur Meereiskante geriet zum Trip ins Unbewusste. Anawaks letzter Rest Zeitgefühl hatte sich nach einer weiteren sonnenbeschienenen Nacht davongemacht. Sie reisten zum Urgrund der Welt. Selbst einem Rationalisten, der keinen Gott anbetete und jeder wissenschaftlichen Erklärung den Vorzug gab, kam es plötzlich einleuchtend vor, warum der Polarbär, wie die Inuit einander an langen Abenden erzählten, so melancholisch dahertrottete. Weil er in Liebe zu einer verheirateten Menschenfrau blind geworden war für die Realität. Die Frau hatte ihrem Mann, der wochenlang glücklos auf der Jagd gewesen war, aus Mitleid das Versteck ihres Liebhabers verraten, obgleich der Bär sie eindringlich gewarnt hatte, ihm von ihren geheimen Zusammenkünften zu erzählen. Doch der Bär hörte mit, während sie ihn verriet, und als der Jäger nach ihm Ausschau hielt, schlich er sich zum Iglu seiner Geliebten, um sie zu töten. Er hob die Pranke, doch dann überkam ihn Trauer. Welchen Sinn sollte es haben, ihr Leben zu zerstören? Der Verrat war begangen. Er wanderte einsam und mit schweren Schritten davon.
   Die Luft prickelte kalt auf Anawaks Haut.
   Wo die Natur sich dem Menschen genähert hatte, war sie verraten worden. Seither, sagten die Legenden, fielen Bären Menschen an. Hier draußen war ihr Reich. Sie waren die Stärkeren. Dennoch hatte der Mensch sie besiegt und sich selber gleich mit. Auch wenn Anawak seiner Heimat zwei Jahrzehnte lang den Rücken gekehrt hatte, wusste er sehr genau, dass Industriechemikalien wie DDT oder hochgiftiges PCB aus Asien, Nordamerika und Europa mit Winden und Meeresströmungen bis ins Nordpolarmeer gelangten. Die toxische Fracht reicherte sich im Gewebe von Walen, Robben und Walrosse an, von denen sich Eisbären und Menschen ernährten, und alle wurden krank. In der Muttermilch von Inuitfrauen waren PCB-Werte gemessen worden, die bis um das 20fache über dem lagen, was die Weltgesundheitsorganisation als Grenzwert angab. Kinder litten unter neurologischen Störungen und schnitten bei Intelligenztests immer schlechter ab. Die Wildnis wurde vergiftet, weil die Quallunaat das Prinzip nicht verstanden oder verstehen wollten, nach dem der Planet Erde funktionierte — eine gewaltige Umwälzpumpe aus Luft-und Meeresströmungen, in der früher oder später alles überallhin verteilt wurde.
   War es ein Wunder, dass jemand da unten beschlossen hatte, alldem ein Ende zu setzen?
   Nach zwei Stunden Fahrt steuerten sie erneut die Küste von Baffin Island an. Verspannt vom langen Sitzen und Abfedern der Kufenstöße, stapften sie über das flache Presseis an Land und die schneefreie Tundra hinauf, vorbei an flechtenbewachsenen Felsbrocken. Zwischen moosigen und wasserdurchzogenen Morastflächen leuchteten vereinzelt Blüten auf, purpurroter Steinbrech und Fingerkraut. Sie hatten Glück mit der Jahreszeit. Später im Sommer würden hier Milliarden Mücken unterwegs sein.
   Das Gelände stieg sanft an. Einer der Skidoo-Fahrer führte sie auf ein Plateau mit Blick auf das Meer und die weißen Berge, zeigte ihnen die Relikte alter Behausungen aus der Thule-Zeit und zwei schlichte Kreuze. Deutsche Walfänger lagen hier begraben. Mehrere Siksiks, arktische Erdhörnchen, jagten einander über die Hochebene und verschwanden in Erdlöchern. Mary-Ann fand ein paar Steine und begann damit auf geschickte Weise zu jonglieren. Anawak sah ihr zu, und plötzlich erinnerte er sich auch daran. Eine Inuit-Sportart, so alt wie die Welt. Er versuchte es ihr nachzutun, das Ergebnis war jämmerlich und rief kollektives Gelächter hervor. So waren die Inuit. Ein albernes Volk, das sich ausschüttete vor Lachen, bloß wenn jemand ausrutschte.
   Nach einem kurzen Lunch mit Sandwiches und Kaffee fuhren sie weiter, bezwangen eine noch größere Wasserspalte und hielten auf Bylot Island zu. Unter den Antriebsraupen der Skidoos spritzte Schmelzwasser nach allen Seiten. Packeis türmte sich zu bizarren Barrieren und zwang sie zu neuerlichen Umwegen. Nach kurzer Fahrt glitten sie unterhalb der Klippen von Bylot Island dahin. Die Luft war erfüllt vom Kreischen der Vögel. Dreizehenmöwen nisteten zu tausenden in den Felsspalten, ganze Schwärme flogen an und ab. Schließlich wurde der Konvoi langsamer und hielt erneut.
   »Machen wir einen Spaziergang«, sagte Akesuk.
   »Wir haben doch gerade einen gemacht«, wunderte sich Anawak.
   »Der ist drei Stunden her, Junge.«
   Drei Stunden? Du lieber Himmel.
   Im Gegensatz zur sanft ansteigenden Tundra von Baffin Island erwies sich Bylot Island schon in der Uferregion als ziemlich steil. Der Spaziergang geriet mehr zu einer Kletterpartie. Akesuk zeigte ihm eine weiße Spur aus Vogelexkrementen in einer Gesteinsspalte hoch über ihren Köpfen.
   »Gerfalken«, sagte er. »Schöne Tiere.«
   Er begann eine Reihe sonderbarer Lockpfiffe auszustoßen, aber die Falken ließen sich nicht blicken.
   »Weiter innen hätten wir gute Chancen, sie zu sehen. Und auf Füchse, Schneegänse, Eulen, Falken und Bussarde zu stoßen.« Akesuk grinste spöttisch. »Oder auch nicht. So ist die Arktis. Man kann einfach keine Verabredungen treffen. Unzuverlässiges Pack, Tiere wie Inuit. Nicht wahr, Junge?«
   »Ich bin kein Quallunaaq, wenn du das meinst«, konterte Anawak.
   »Oh.« Sein Onkel sah witternd in die Luft. »Nun gut. Ich denke, wir sparen uns einen weiteren Aufstieg. Wir holen es nach. Du wirst irgendwann wiederkommen, nun, da du kein Quallunaaq mehr bist. Fahren wir zur Eiskante, das müssten wir schaffen bei dem schönen Wetter.«
   Von nun an hörte die Zeit endgültig auf zu existieren. Während sie nach Osten vorstießen und Bylot Island hinter sich ließen, wurde das Eis rauer, und die Stöße der Kufen nahmen an Wucht zu. Hier hatten kalte Winde dafür gesorgt, dass die Schmelzwasserpfützen wieder leicht überfroren waren. Es klirrte, als führen sie durch Glas. Anawak richtete sich auf und entdeckte eine kleine Wasserspalte. Er machte den Fahrer des Qamutik darauf aufmerksam, aber der Mann hatte die Spalte schon gesehen. Er drehte sich zu Anawak um, während er mit unverminderter Geschwindigkeit weiter über das Eis drosch, und grinste anerkennend.
   »Du hast ja doch nicht alles verlernt«, lachte Akesuk.
   Anawak sah ihn einen Moment lang unentschlossen an. Dann lachte er mit. Er war stolz. Nicht zu fassen. Er war stolz darauf, diese dämliche Spalte gesehen zu haben.
   Der Nachmittag zauberte Sonnenhunde an den Himmel. So nannten die Inuit die seltsamen Erscheinungen beiderseits der Sonne, große strahlende Ringe, wenn sich das Licht an winzigen Eiskristallen brach. In der Ferne stapelte sich Packeis zu riesigen, stark zerklüfteten Barrieren. Dann plötzlich lag glattes, offenes Wasser zu ihrer Rechten. Eine Robbe tauchte auf, schaute kurz herüber, verschwand. Ein Stück weiter erschien ihr Kopf erneut, neugierig starrend. Sie ließen das Wasserloch hinter sich und hielten auf ein weiteres zu, riesig in seinen Ausmaßen, bis Anawak erkannte, dass es gar kein Wasserloch war, sondern die Eiskante. Dahinter begann das offene Meer.
   Nach einer Weile stießen sie auf ein Zeltlager. Der Tross hielt an. Herzliche Begrüßung. Einige kannten sich, die anderen wurden ausführlich vorgestellt. Die Camper stammten aus Pond Inlet und Igloolik. Sie hatten einen Narwal erlegt, ihn zerteilt und die Kadaverreste weiter östlich nahe der Eiskante gelassen, ungefähr dort, wohin Anawaks Gruppe unterwegs war. Stücke der Haut wurden herumgereicht, man fachsimpelte über die Jagd. Zwei Jäger stießen hinzu, die mit ihren Skidoos von der Eiskante kamen und nach Hause wollten. Sie hatten Jagdkanus auf ihren Qamutiks festgezurrt und zwei am Vortag geschossene Robben. Einer der beiden meinte, die Tiere würden dem zurückweichenden Eis früher zu ihren Nahrungsgründen und Brutstätten folgen als sonst um diese Zeit. Dabei schwenkte er eine Winchester 5.6 und empfahl ihnen, Vorsicht walten zu lassen. Auf seiner Mütze stand: Arbeit ist nur was für Menschen, die nichts vom Jagen verstehen. Anawak fragte ihn, ob ihm am Verhalten der Wale etwas aufgefallen sei, ob sie besonders aggressiv reagierten oder gar angriffen, was die Jäger verneinten. Plötzlich scharte sich das ganze Camp um sie. Alle kannten die Berichte, jeder wusste bis ins Kleinste, was die Welt in Atem hielt, aber es schien, als sei die Arktis bislang von jeglicher Anomalie verschont geblieben.
   Gegen Abend verließen sie das Camp.
   Die beiden Jäger fuhren zurück nach Pond Inlet, Anawaks Tross bewegte sich weiter auf die Kante zu. Nach einer Weile passierten sie die Überreste des erlegten Narwals. Scharen von Vögeln balgten sich lautstark um die Fleischfetzen. Sie fuhren weiter, um möglichst viel Abstand zwischen sich und den Kadaver zu legen, hielten schließlich aber doch in Sichtweite. Etwa 30 Meter von der Eiskante schlugen die Führer das Lager auf. Boxen wurden von den Schlitten gelöst, der Funkmast aufgestellt, um den Kontakt zur Außenwelt nicht zu verlieren. Binnen kurzem hatten die Führer fünf Zelte errichtet, vier für die Reisenden und ein Küchenzelt, mit Bodenbrettern und Isoliermatten ausgelegt. Drei weiß gestrichene Sperrholzplatten ergaben ein provisorisches Toilettenhäuschen, im Innern ein Eimer, ausgehängt mit einem blauen Plastiksack und versehen mit einer zerkratzten Emaillebrille.
   »Wurde auch Zeit«, strahlte Akesuk.
   Er verschwand als Erster auf dem Honigtopf, wie die Inuit ihre Wanderklos nannten, während das Camp weiter aufgebaut wurde. Die Inuit-Führer schlugen vor, mit den abgekoppelten Skidoos ein Rennen zu veranstalten. Anawak ließ sich die nötigen Handgriffe zeigen, aber Skidoo-Fahren erwies sich als einfach. Nach kurzer Zeit rasten sie in wilden Kurven über das glitzernde Eis, und er fühlte sein Herz leichter werden.
   Er liebte es, hier zu sein.
   Sie fuhren mehrere Rennen, bis ein Mann aus Igloolik als Sieger aus dem Turnier hervorging. Hunger meldete sich. Mary-Ann scheuchte sie aus dem Küchenzelt, also rotteten sie sich draußen zusammen, dick eingepackt gegen die Kälte, gegen die Schlitten gelehnt, und eine junge Frau begann eine Inuit-Geschichte zu erzählen von der Sorte, die immer wieder und wieder ein bisschen anders erzählt werden. Anawak erinnerte sich, wie sich solche Geschichten mitunter über Tage hingezogen hatten. Die Inuit waren nicht der Meinung, dass man alles in einem Schwung zu Ende erzählen müsse. Die Tage auf dem Eis waren lang. Geschichten waren lang. Warum sie nicht verteilen?
   Es ging auf Mitternacht, als Mary-Ann das Dinner auftischte. Sie hatte sich selber übertroffen. Es duftete verführerisch nach gegrilltem Wandersaibling, Karibu-Chops mit Reis und gebratenen Eskimo-Potatoes, einer lokalen Wurzelart. Dazu gab es literweise heißen schwarzen Tee. Das Küchenzelt war darauf angelegt, allen Teilnehmern Platz zu bieten, aber es hielt sein Versprechen nicht und erwies sich als zu klein. Akesuk wurde ärgerlich und schimpfte auf den Mann, der ihnen das Zelt vermietet hatte. Davon wurde es nicht größer, also stellten sie ihre Essteller auf Schlittenrahmen und Vorratskisten und aßen, bis sie beinahe platzten.
   Gegen halb zwei, als einer nach dem anderen müde wurde, förderte Akesuk eine Flasche Champagner aus den Tiefen seines Gepäcks. Er zwinkerte Anawak listig zu. Mary-Ann krauste die Nase und ging schlafen. Schließlich waren nur noch Anawak und sein Onkel wach und der Mann, der Gewehr bei Fuß auf einer hochgedrückten Packeisscholle stand und für die Bärenwache eingeteilt war.
   »Dann trinken wir sie eben«, sagte Akesuk.
   Anawak schüttelte den Kopf. »Ich trinke nicht.«
   »Ach richtig!« Akesuk warf einen Blick des Bedauerns auf die Flasche. »Bist du sicher? Ich hatte sie extra eingesteckt, um sie bei einer besonderen Gelegenheit zu öffnen. Die besondere Gelegenheit … na ja, du bist heimgekommen, und ich dachte …«
   »Ich will die Kontrolle nicht verlieren, Iji.«
   »Über was? Über dein Leben oder diesen Augenblick?« Er zuckte die Achseln und steckte die Flasche wieder weg. »Na schön. Es gibt andere besondere Gelegenheiten. Vielleicht machen wir reiche Ernte. Möglich, dass wir einen Weißwal erlegen oder ein dickes, saftiges Walross. Was ist, laufen wir noch ein Stück, bevor wir uns aufs Ohr hauen?«
   »Gerne, Iji.«
   Sie schlenderten bis zur Meereiskante. Anawak ließ seinem Onkel den Vortritt. Der alte Mann wusste besser, wo das Eis stabil war und wo man Gefahr lief einzubrechen. Die Inuit kannten hunderte von Wörtern für jede Art von Eis und Schnee, nur keines, das einfach Schnee oder Eis bedeutete. Derzeit bewegten sie sich auf elastischem Eis. Während Eisberge aus Süßwasser bestanden, weil das Salz komplett ausfror, fanden sich in Treibeis und Meereis Reste davon. Je schneller das Eis fror, desto höher war sein Salzgehalt. Das Eis wurde dadurch elastischer, was im Winter von Vorteil war, da es weniger schnell brach, und im beginnenden Frühling nachteilhaft, weil die Abbruchgefahr nun immer größer wurde. Ein Sturz ins kalte Wasser konnte einen Menschen töten, aber noch gefährlicher war es, wenn einen die Strömung unter die Eisdecke trieb.
   Sie fanden einen Platz nahe der Kante und lehnten sich gegen einen Packeisblock. Vor ihnen erstreckte sich die silbrige See. Dicht unter Wasser sah Anawak Äschen mit stahlblauen Rücken dahinflitzen. Eine Weile schaute er einfach nur hinaus. Auch Akesuk hüllte sich in Schweigen. Sie ließen Zeit verstreichen, und plötzlich — als habe die Natur beschlossen, sie für ihr Ausharren zu belohnen — ragten zwei schraubig gedrehte Einhörner aus dem Wasser wie gekreuzte Degen. Zwei Narwalmännchen zeigten sich wenige Meter von der Kante entfernt. Runde, dunkelgrau gefleckte Köpfe kamen zum Vorschein, dann tauchten die Tiere langsam wieder ab. In spätestens einer Viertelstunde würden sie hier wieder auftauchen. Das war ihr Rhythmus.
   Anawak war fasziniert. Narwale bekam man vor Vancouver Island so gut wie gar nicht zu Gesicht. Lange Zeit hatten sie kurz vor der Ausrottung gestanden. Ihre Hörner, eigentlich verlängerte Stoßzähne, bestanden aus purem Elfenbein, dessentwegen sie jahrhundertelang abgeschlachtet worden waren. Immer noch standen sie auf der Liste der gefährdeten Arten, aber mittlerweile hatte sich ihr Bestand zwischen Nunavut und Grönland wieder auf 10000 erhöht.
   Das Eis knarrte und ächzte leise, wenn es vom Wasser bewegt wurde. Ein Stück entfernt kreischten Vögel über den Kadaverresten des erlegten Wals. Mildes Licht lag auf den Felsen und Gletschern von Bylot Island und zeichnete Schatten über das gefrorene Meer. Dicht über dem Horizont hing eine blasse, eisige Sonne.
   »Du hast mich gefragt, ob ich das alles vermisst habe«, sagte Anawak.
   Akesuk schwieg.
   »Ich habe es gehasst, Iji. Ich habe es gehasst und verachtet. Du wolltest eine Antwort. Da hast du sie.«
   Sein Onkel seufzte.
   »Du hast deinen Vater verachtet«, sagte er.
   »Mag sein. Aber erklär einem zwölfjährigen Jungen den Unterschied zwischen seinem Vater und seinem Volk, wenn beide sich in ihrem Elend überbieten. Mein Vater war kraftlos und ständig betrunken. Er hat gejammert und rumgeheult und meine Mutter so tief zu sich heruntergezogen, bis sie keinen Ausweg mehr sah, als sich umzubringen. Nenn mir eine Familie, die damals keinen Selbstmord zu beklagen hatte. Alle waren so. Es ist schön und gut, wenn sie dir ständig irgendwelche Geschichten erzählen über das stolze, unabhängige Volk der Inuit, aber ich habe davon nicht viel mitbekommen.« Er sah Akesuk an. »Wenn Vater und Mutter innerhalb weniger Jahre zu Wracks werden, drogensüchtig, ohne Lebensmut, wie sollst du das ertragen? Wenn deine Mutter sich erhängt, weil sie sich selber nicht ertragen kann. Und dein Vater hat nichts anderes zu tun, als zu wimmern und sich zu besaufen. Ich bin zu ihm gegangen und habe gesagt, dass er damit aufhören soll. Dass meine Kraft für zwei reicht. Ich habe ihn angeschrien, dass ich arbeiten werde, irgendetwas tun werde, ich wollte ihm helfen, Hauptsache, er legt die Flasche aus der Hand und bekommt wieder ein paar klare Gedanken zusammen wie früher, aber er hat mich nur angeglotzt und weitergewimmert!«
   »Ich weiß.« Akesuk schüttelte den Kopf. »Er war nicht mehr Herr seiner selbst.«
   »Er hat mich zur Adoption freigegeben«, sagte Anawak. Die Bitterkeit von Jahren lag ihm auf der Zunge. »Ich wollte bei ihm bleiben, und dieser Jammerlappen gibt mich frei.«
   »Er ist nicht mit dir fertig geworden. Er wollte dich schützen.«
   »Na und? Hat er sich darum gekümmert, wie ich damit fertig werde? Einen Scheiß hat er! Meine Mutter ist an ihren Depressionen zugrunde gegangen, mein Vater hat sich mit Alkohol abgeschossen, sie haben mich beide aus ihrem Leben geworfen. Hat mir einer geholfen? — Nein! Alle waren viel zu sehr damit beschäftigt, Löcher in den Schnee zu starren und die Not der Inuit zu beklagen. — Auch du, ich erinnere mich genau. Du warst der lustige Onkel Iji, du warst immer für irgendwelche Geschichten gut, aber auf die Reihe bekommen hast du auch nichts. Immer nur Legenden heraufbeschwören, das ist alles, was dir eingefallen ist. Märchenstunde vom freien Volk der Inuit. Ein edles Volk! Ein stolzes Volk! Blabla!«
   »Das war es«, nickte Akesuk. »Ein stolzes Volk.«
   »Wann?«
   Er wartete darauf, dass Akesuk wütend werden würde, aber sein Onkel fuhr sich nur ein paar Mal über den Schnurrbart.
   »Vor deiner Geburt«, sagte er. »Die Menschen meiner Generation sind noch in Iglus geboren worden, und es war selbstverständlich, dass jeder eines bauen konnte. Wenn wir Feuer gemacht haben, benutzten wir Flintsteine statt Streichhölzer. Ein Karibu wurde nicht geschossen, sondern mit Pfeil und Bogen erlegt. Vor einen Qamutik spannte man kein Skidoo, sondern Hunde. Klingt das nicht alles sehr romantisch? Nach längst vergangenen Zeiten?« Akesuk schüttelte den Kopf. »Dabei ist es gerade mal ein halbes Jahrhundert her. — Schau dich um, Junge. Wie leben wir heute? Ich meine, es hat auch sein Gutes, kaum ein Volk weiß so viel über die Welt wie wir. In jedem zweiten Haus findest du einen Computer mit Internetanschluss, auch in meinem. Wir haben einen eigenen Staat bekommen.« Er kicherte. »Neulich gab es ein Rätsel zu knacken auf nuna.vut.com, ganz amüsant auf den ersten Blick. Kennst du noch die alten kanadischen Zwei-Dollar-Noten? Vorne siehst du Königin Elisabeth II. abgebildet, hinten drauf eine Gruppe Inuit. Einer der Männer steht vor dem Kajak, mit der Harpune in der Hand. Sehr idyllisch. Die Frage war: Was zeigt diese Szene wirklich? — Weißt du es?«
   »Ich fürchte, nein.«
   »Aber ich. Sie zeigt das Bild einer Vertreibung, Junge. Die Regierung von Ottawa hatte ein feineres Wort dafür, sie nannte es Umsiedlung. Ein Motiv des Kalten Krieges. Ottawa hatte Angst, die USA oder die Sowjetunion könnten auf die Idee kommen, die unbewohnte kanadische Arktis zu beanspruchen, also siedelten sie die nomadisierenden Inuit von ihren Stammplätzen in der südlichen Polarzone um nach Resolute und Grise Fiord nahe dem Nordpol. Man hat ihnen vorgelogen, dort seien die Jagdgründe besser, aber das Gegenteil war der Fall. Die Inuit mussten in Blech gestanzte Registriernummern tragen, wie Hundemarken. Wusstest du das?«
   »Ich erinnere mich nicht mehr.«
   »Viele deiner Generation, viele der Kinder heute haben keine Ahnung von ihren Eltern und deren Lebensumständen. Und dass es eigentlich noch früher begonnen hat, Mitte der zwanziger Jahre, als die weißen Trapper kamen und das Gewehr mitbrachten. Karibus und Robben wurden dramatisch dezimiert. Von beiden übrigens, Quallunaat und Inuit. Gewehrkugeln statt Pfeil und Bogen, du verstehst. — Die Armut kam über die Inuit. Sie hatten nie sonderlich viel mit Krankheiten zu tun gehabt, aber jetzt traten Polio, Tuberkulose, Masern und Diphtherie auf, also verließen sie ihre Camps und zogen in Siedlungen. Ende der fünfziger Jahre starben unsere Leute reihenweise an Hunger und Infektionskrankheiten, ohne dass die offiziellen Regierungsstellen das zur Kenntnis nahmen. Das Militär begann, Interesse an den nordwestlichen Territorien zu zeigen, und errichtete geheime Nachrichtenstationen in den traditionellen Jagdgründen. Die Inuit, die dort noch siedelten, standen natürlich im Weg. Sie wurden auf Veranlassung der kanadischen Behörden in Flugzeuge gepackt und Hunderte Kilometer weiter nördlich deportiert, unter Zurücklassung ihrer Zelte, Kajaks, Kanus und Schlitten. Auch ich wurde umgesiedelt als junger Mann, und ebenso deine Eltern. Man hat diese Maßnahme damit begründet, hoch im Norden seien die Überlebensmöglichkeiten für die hungernden Inuit besser als in der Nähe der Militärstationen. In Wirklichkeit lagen die neuen Gebiete weit abseits aller Karibu-Wanderrouten und der Plätze, wo die Tiere im Sommer zu kalben pflegten.«
   Akesuk machte eine Pause. Er schwieg lange. Zwischendurch tauchten wieder Narwale auf. Anawak sah ihnen bei ihren Degenfechtereien zu, bis sein Onkel wieder das Wort ergriff:
   »Nachdem wir umgesiedelt worden waren, hat man die Bulldozer in die alten Jagdgründe geschickt. Alles, was an unser Leben hier erinnerte, wurde dem Erdboden gleichgemacht, um uns jeden Gedanken an Rückkehr auszutreiben. Und natürlich blieben die Karibus aus im hohen Norden. Kein Essen, keine Kleidung. Was nützt dir der allergrößte Mut, wenn du nur ein paar Siksiks, Hasen und Fische erbeuten kannst? Wenn du dein Volk sterben siehst und nichts dagegen tun kannst mit all deiner Kraft und Entschlossenheit? — Ich will dir die Einzelheiten ersparen. Innerhalb weniger Jahrzehnte wurden wir ein Fall für die Sozialhilfe. Unser Leben konnten wir nicht wieder aufnehmen, und anders zu leben hatten wir nie gelernt. — Etwa um die Zeit, als du geboren wurdest, fühlte sich die Regierung wieder für uns verantwortlich, also baute sie Kästen für uns, Häuser. Für die Quallunaat eine natürliche Sache. Sie leben in Kästen. Wenn sie sich bewegen, setzen sie sich in einen Kasten, für den sie ebenfalls einen Kasten haben, um ihn darin abzustellen. Sie essen in öffentlichen Kästen, ihre Hunde leben in Kästen, und die Kästen, in denen sie selber leben, sind von weiteren Kästen umgeben, von Mauern und Zäunen. Das war ihr Leben, nicht unseres, aber nun lebten auch wir in Kästen. — Und wozu führt verlorenes Selbstbewusstsein? Zu Alkohol, Drogen und Selbstmord.«
   »Hat mein Vater damals für die Rechte der Inuit gekämpft?«, fragte Anawak leise.
   »Das haben wir alle. Ich war ein junger Mann, als wir vertrieben wurden. Ich habe mitgestritten um Wiedergutmachung. 30 Jahre lang haben wir prozessiert und gerungen. Auch dein Vater. Aber er ist am Ende daran zerbrochen. Nun haben wir seit 1999 unseren Staat, Nunavut, unser Land. Niemand redet uns mehr rein, niemand siedelt uns um. Aber unser Leben, das einzige Leben, das je für uns gemacht war, ist unwiederbringlich verloren.«
   »Also müsst ihr euch ein neues suchen.«
   »Du hast sicher Recht. Was hilft alles Jammern? Wir waren immer Nomaden und ungebunden, aber wir haben uns mit der Vorstellung eines begrenzten Territoriums arrangiert. Bis vor wenigen Jahrzehnten kannten wir keine Organisationsform außer losen Familienverbänden, wir duldeten weder Häuptlinge noch Führer, und jetzt herrschen Inuit über Inuit, wie es sich für einen modernen Verwaltungsstaat gehört. Wir kannten keinen Besitz, jetzt gehen wir den Weg einer modernen Industrienation. Wir beleben die Traditionen wieder, manche schaffen sich Schlittenhunde an, das Iglubauen wird wieder gelehrt und das Feuermachen mit Flintsteinen. Es ist schön, dass diese Werte erneuert werden, aber damit halten wir die Zeit nicht auf. — Und ich will dir sagen, Junge, dass ich gar nicht unzufrieden bin. Die Welt bewegt sich. Heute leben wir als Nomaden im Internet, durchstreifen das Netz der Datenhighways, jagen und sammeln Informationen. Wir nomadisieren durch die ganze Welt. Die jungen Leute chatten mit Menschen aus allen Erdteilen und erzählen ihnen von Nunavut. Immer noch bringen sich viele Menschen in diesem Land um, zu viele. Nun, wir haben ein Trauma zu verarbeiten. Man sollte uns Zeit geben und die Hoffnung der Lebenden nicht den Toten opfern, was meinst du?«
   Anawak sah zu, wie die Sonne sacht den Horizont berührte. »Du hast Recht«, sagte er.
   Und dann, einem Impuls folgend, erzählte er Akesuk alles, was sie im Chateau herausgefunden hatten, woran der Stab arbeitete und welche Vermutung sie hegten über die fremde Intelligenz im Meer. Es sprudelte nur so aus ihm heraus. Er wusste, dass er damit gegen Lis ehernes Gebot verstieß, aber es war ihm gleich. Er hatte ein Leben lang geschwiegen. Akesuk war der letzte Rest Familie, den er noch besaß.
   Sein Onkel lauschte.
   »Möchtest du den Rat eines Schamanen?«, fragte er schließlich.
   »Nein. Ich glaube nicht an Schamanen.«
   »Ja, wer tut das noch? Aber dieses Problem könnt ihr nicht mit Wissenschaft lösen, Junge. Ein Schamane würde dir sagen, dass ihr es mit Geistern zu tun bekommen habt, den Geistern der belebten Welt, die in den Wesen wandern. Die Quallunaat haben begonnen, das Leben zu vernichten. Sie haben die Geister gegen sich aufgebracht, die Meeresgöttin Sedna. Wer immer deine Wesen im Meer sind, ihr werdet nichts erreichen, wenn ihr versucht, gegen sie vorzugehen.«
   »Sondern?«
   »Begreift sie als Teil von euch. Jeder ist des anderen Außerirdischer auf diesem angeblich so vernetzten Planeten. Nehmt Kontakt auf. So wie du Kontakt aufgenommen hast zum fremden Volk der Inuit. Wäre es nicht gut, wenn alles wieder zusammenwüchse?«
   »Es sind keine Menschen, Iji.«
   »Darum geht es nicht. Sie sind Teil derselben Welt, wie deine Hände und Füße Teile desselben Körpers sind. Der Kampf um Herrschaft lässt sich nicht gewinnen. Schlachten kennen nur Opfer. Wen interessiert es denn, wie viele Rassen sich die Erde teilen und wie intelligent sie sind? Lernt, sie zu verstehen, anstatt sie zu bekämpfen.«
   »Klingt nach christlicher Doktrin. Linke Wange, rechte Wange.«
   »Nein«, kicherte Akesuk. »Es ist der Rat eines Schamanen. So was haben wir hier nämlich noch, aber wir machen kein Aufhebens drum.«