Als hätte sie jemand da hingezaubert …
   Irgendjemand musste auf ähnliche Phänomene gestoßen sein.
   Warum wurde er das Gefühl nicht los, dass es zwischen den Würmern und den Quallen einen Zusammenhang gab? Und andererseits, welche halbwegs ernsthafte Erklärung sollte dafür herhalten?
   Es war Blödsinn!
   Blödsinn, ja.
   Aber dem Blödsinn haftet der Charakter von etwas Beginnendem an, dachte er plötzlich. Etwas, auf das wir bis jetzt nur einen kurzen, flüchtigen Blick erhascht haben.
   Das hier war erst der Anfang.
   Noch größerer Blödsinn, schalt er sich.
   Er loggte sich ein bei CNN, um Olsens Meldungen zu überprüfen, als Lund hereinkam und einen Becher schwarzen Tee vor ihn hinstellte. Johanson sah zu ihr auf. Sie grinste verschwörerisch. Seit dem Ausflug zum See hatte sich ihrem Verhältnis eine konspirative Note hinzugesellt, ein kumpeliges Dichthalten.
   Der Duft frisch gebrühten Earl Greys breitete sich aus.
   »So was haben wir an Bord?«, fragte Johanson verwundert.
   »So was haben wir nicht an Bord«, erwiderte sie. »So was bringt man mit, wenn man weiß, dass jemand drauf steht.«
   Johanson hob die Brauen. »Wie fürsorglich. Welchen Gefallen willst du diesmal rausschinden?«
   »Wie wär’s mit danke?«
   »Danke.«
   Sie warf einen Blick auf den Laptop. »Kommst du voran?«
   »Fehlanzeige. Was macht die Analyse der letzten Wasserprobe?«
   »Keine Ahnung. Ich war mit wichtigeren Dingen beschäftigt.«
   »Oh. Was gibt es Wichtigeres?«
   »Hvistendahls Assistent das Händchen zu halten.«
   »Wieso denn das?«
   »Er fütterte die Fische.« Sie zuckte die Achseln.
   »Frischfleisch halt.«
   Johanson musste grinsen. Lund befleißigte sich eines Vokabulars, das eigentlich den Seeleuten vorbehalten war. Auf Forschungsschiffen stießen zwei Welten aufeinander, Crew und Wissenschaftler. Mit den besten Absichten strichen sie umeinander, versuchten sich auf Ausdrucksweise, Lebensart und Macken des jeweils anderen einzustellen, beschnupperten sich eine Weile und fanden irgendwann in vertrauliche Gewässer. Bis dahin herrschte respektvolle Distanz, die man mit Witzeleien kompensierte. Frischfleisch war die Bezeichnung der Matrosen für Neulinge an Bord, denen das seemännische Leben ebenso wenig vertraut war wie das Verhalten ihres Magens nach Verlassen festen Untergrundes.
   »Du hast das erste Mal auch gekotzt«, bemerkte Johanson.
   »Du nicht?«
   »Nein.«
   »Pah.«
   »Wirklich nicht!« Johanson hob die Hand zum Schwur.
   »Du kannst es nachprüfen. Ich bin seefest.«
   »Okay, du bist seefest.« Lund kramte einen Zettel hervor und legte ihn vor Johanson auf den Tisch. Eine Internetadresse war darauf gekritzelt. »Dann kannst du dich ja umgehend ins grönländische Meer begeben. Ein Bekannter von Bohrmann ist dort unterwegs. Er heißt Bauer.«
   »Lukas Bauer?«
   »Du kennst ihn?«
   Johanson nickte langsam. »Ich erinnere mich an einen Kongress vor einigen Jahren in Oslo. Er hielt einen Vortrag. Ich glaube, er beschäftigt sich mit Meeresströmungen.«
   »Er ist Konstrukteur. Er baut alles Mögliche, Tiefseeequipment, Hochdrucktanks — Bohrmann sagte, er hätte den Tiefseesimulator miterfunden.«
   »Und Bauer liegt vor Grönland?« »Schon seit Wochen«, sagte Lund. »Du hast übrigens Recht, was seine Arbeit mit Meeresströmungen angeht. Er führt Messungen durch. Ein weiterer Kandidat auf deiner Suche nach dem Wurm.« Johanson nahm den Zettel. Von dieser Expedition hatte er tatsächlich noch nichts gehört. Lagerten vor Grönland nicht auch Methanvorkommen? »Und wie kommt Skaugen weiter?«, fragte er. »Mühsam.« Lund schüttelte den Kopf. »Er kann nicht so offensiv vorgehen, wie er möchte. — Sie haben ihm einen Maulkorb verpasst, wenn du weißt, was ich meine.« »Wer? Seine Vorgesetzten?« »Statoil ist staatlich. Muss ich deutlicher werden?« »Also wird er nichts in Erfahrung bringen«, konstatierte Johanson.
   Lund seufzte. »Die anderen sind ja nicht blöde. Sie merken, wenn jemand Informationen abpumpen will, ohne ihnen welche zu geben, und sie haben ihren eigenen Schweigekodex.«
   »Ich hab’s dir prophezeit.«
   »Ja, du warst mal wieder ganz besonders schlau.«
   Von draußen erklangen Schritte. Einer von Hvistendahls Leuten steckte den Kopf zur Tür herein. »Konferenzraum«, sagte er. »Wann?« »Sofort. Wir haben die Auswertungen.« Johanson und Lund wechselten einen Blick. In ihren Augen stand die bange Erwartung dessen, was sie im Grunde schon wussten. Johanson klappte den Laptop zu, und sie folgten dem Mann runter aufs Hauptdeck. Draußen an den Scheiben lief der Regen entlang.
   Bohrmann stützte sich mit den Knöcheln auf die Tischplatte. »Bis jetzt haben wir entlang des gesamten Kontinentalrandes dieselbe Situation vorgefunden«, sagte er. »Das Meer ist gesättigt mit Methan. Unsere Ergebnisse und die der Thorvaldson stimmen weitgehend überein, Schwankungen hier und da, unterm Strich das gleiche Bild.« Er machte eine Pause. »Ich will nicht drum herum reden. Etwas beginnt die Hydrate auf weiter Strecke zu destabilisieren.«
   Niemand rührte sich, niemand sagte etwas. Sie starrten ihn einfach an und warteten. Dann begannen die Statoil-Leute durcheinander zu reden. »Was heißt das?« »Methanhydrat löst sich auf? Sie haben gesagt, die Würmer können das Eis nicht destabilisieren!« »Haben Sie eine Erwärmung gemessen? Ohne Erwärmung …« »Welche Konsequenzen …?«
   »Bitte!« Bohrmann hob die Hand. »Es ist so. Ich bin nach wie vor der Ansicht, dass diese Würmer keinen ernsthaften Schaden anrichten können. Andererseits müssen wir festhalten, dass die Zersetzungen erst mit ihrem Auftreten begonnen haben.«
   »Sehr aufschlussreich«, murmelte Stone. »Wie lange schreitet der Prozess schon fort?«, fragte Lund.
   »Wir haben uns die Ergebnisse der Thorvaldson- Exkursionen vor einigen Wochen angesehen«, erwiderte Bohrmann. Er bemühte sich um einen beruhigenden Tonfall. »Als Sie erstmals auf den Wurm stießen. Da waren die Messungen noch normal. Es ist also erst danach zu einem Anstieg gekommen.«
   »Was denn nun?«, fragte Stone. »Wird es da unten wärmer oder nicht?«
   »Nein.« Bohrmann schüttelte den Kopf. »Das Stabilitätsfenster hat sich nicht verändert. Wenn Methan austritt, kann es nur auf Prozesse tief im Sediment zurückzuführen sein. Auf alle Fälle tiefer, als diese Würmer bohren können.«
   »Woher wollen Sie das so genau wissen?«
   »Wir haben nachgewiesen …« Bohrmann hielt inne. »Mit Dr. Johansons Hilfe haben wir nachgewiesen, dass die Tiere ohne Sauerstoff eingehen. Sie kommen nur wenige Meter tief.«
   »Sie haben Ergebnisse aus einem Tank«, sagte Stone geringschätzig. Er schien Bohrmann zu seinem neuen Lieblingsfeind erkoren zu haben.
   »Wenn nicht das Wasser wärmer wird, dann vielleicht der Meeresboden?«, schlug Johanson vor.
   »Vulkanismus?«
   »Es ist nur eine Idee.«
   »Eine plausible Idee. Aber nicht in dieser Gegend.«
   »Kann das, was diese Würmer fressen, überhaupt ins Wasser gelangen?«
   »Nicht in solchen Mengen. Sie müssten dazu freies Gas erreicht haben oder in der Lage sein, vorhandenes Hydrat zu schmelzen.«
   »Sie können aber doch kein freies Gas erreichen«, insistierte Stone störrisch.
   »Nein, ich sagte ja …«
   »Ich weiß, was Sie sagten. Ich will Ihnen verraten, wie ich es sehe. Der Wurm hat eine Körperwärme. Jedes Lebewesen gibt Wärme ab. Damit schmilzt er die oberste Schicht, nur ein paar Zentimeter, aber die reichen …«
   »Die Körperwärme eines Tiefseebewohners ist gleich seiner Umgebungswärme«, sagte Bohrmann kühl.
   »Trotzdem, wenn …«
   »Clifford.« Hvistendahl legte dem Projektleiter die Hand auf den Unterarm. Es wirkte freundschaftlich, aber Johanson spürte, dass Stone soeben eine deutliche Warnung erhielt. »Warum warten wir nicht einfach die weiteren Untersuchungen ab?«
   »Ach, Scheiße.«
   »Das bringt nichts, Cliff. Hör auf, Theorien zu bauen.«
   Stone sah zu Boden. Wieder herrschte Schweigen.
   »Und was wären die Folgen, wenn die Methanaustritte nicht aufhören?«, fragte Lund.
   »Da gibt es mehrere Szenarien«, sagte Bohrmann. »Die Wissenschaft beschreibt Phänomene, in deren Verlauf ganze Hydratfelder einfach verschwinden. Sie lösen sich auf, binnen eines Jahres. Es kann sein, dass genau dies hier geschieht, und möglicherweise setzen die Würmer diesen Prozess in Gang. In diesem Fall wird vor Norwegen in den nächsten Monaten ziemlich viel Methan in die Atmosphäre gelangen.«
   »Ein Methanschock wie vor 55 Millionen Jahren?«
   »Nein, dafür ist es immer noch zu wenig. Noch einmal, ich will nicht spekulieren. Aber ich kann mir andererseits nicht vorstellen, dass sich der Prozess endlos fortsetzt ohne Druckabnahme oder Temperaturanstieg, und weder das eine noch das andere verzeichnen wir. In den nächsten Stunden schicken wir den Videogreifer nach unten. Vielleicht sind wir danach klüger. Ich danke Ihnen.«
   Damit verließ er den Konferenzraum.
   Johanson schickte eine E-Mail an Lukas Bauer auf seinem Schiff. Allmählich kam er sich vor wie ein biologischer Ermittler: Haben Sie diesen Wurm gesehen? Können Sie ihn beschreiben? Würden Sie ihn wiedererkennen, wenn wir ihn mit fünf anderen Würmern zu einer Gegenüberstellung laden? Hat dieser Wurm der alten Frau die Handtasche entrissen? Sachdienliche Hinweise nimmt die nächste Forschungsstelle entgegen.
   Nach einigem Zögern schrieb er ein paar verbindliche Worte zu dem damaligen Treffen in Oslo und erkundigte sich, ob Bauer vor Grönland in letzter Zeit außergewöhnlich hohe Methankonzentrationen gemessen habe. Bislang hatte er diesen Punkt in seinen Anfragen ausgespart.
   Als er wenig später an Deck ging, sah er den Videoschlitten an der Kranwinde baumeln, begutachtet von Bohrmanns Geologenteam. Sie holten ihn ein. Ein Stück weiter hockten einige Matrosen auf der großen Handfegerkiste vor der Deckswerkstatt und unterhielten sich. Die Kiste hatte sich im Laufe der Jahre den Rang eines Refugiums erworben, angesiedelt zwischen Ausguck und Wohnzimmer. Ein verschlissenes Stofftuch war darüber gebreitet. Manche nannten sie schlicht die Couch. Von hier aus ließ sich herrlich witzeln über die Doktoren und Diplomanden mit ihren tapernden Bewegungen, die den Platz der Spötter vorsorglich mieden. Aber heute wurde nicht gewitzelt. Die angespannte Stimmung hatte sich auch auf die Mannschaft übertragen.
   Die meisten wussten durchaus, was die Wissenschaftler da taten. Am Kontinentalhang stimmte Verschiedenes nicht, und jeder machte sich Gedanken.
   Alles musste jetzt sehr schnell gehen. Bohrmann ließ das Schiff extrem langsam fahren, um eine Stelle zu beproben, die ihm nach Auswertung der Videobilder und Messdaten des Fächerecholots geeignet erschien. Direkt unter der Sonne befand sich ein ausgedehntes Hydratfeld Beproben hieß in diesem Fall, ein Ungetüm hinabzulassen, das dem Jura der Meeresforschung zu entstammen schien. Der Videogreifer ein tonnenschweres stählernes Maul, repräsentierte nicht unbedingt den letzten Stand der Technik. Es war die rabiateste, aber auch zuverlässigste Art, dem Meeresboden ein Stück seiner Geschichte zu entreißen, und das im wörtlichen Sinne. Der Greifer bohrte sich in den Untergrund, drang tief ein, biss eine klaffende Wunde und riss zentnerweise Schlamm, Eis, Fauna und Gestein heraus, um alles in die Welt der Menschen zu hieven. Einige der Matrosen nannten ihn treffenderweise den T-Rex. Wenn man ihn sah, wie er mit aufgerissenen Kiefern am Heckgalgen hing, bereit, sich ins Meer zu stürzen, drängte sich der Vergleich tatsächlich auf. Ein Ungeheuer im Dienste der Wissenschaft.
   Wie alle Ungeheuer jedoch war der Videogreifer zwar mit erstaunlichen Fähigkeiten ausgestattet, zugleich aber plump und dumm. Im Innern waren eine Kamera und starke Scheinwerfer angebracht. Man konnte sehen, was der Greifer sah, und ihn im richtigen Moment von der Kette lassen. Das war erstaunlich. Dumm war die Unfähigkeit des T-Rex, sich anzuschleichen. So vorsichtig man ihn auch absetzte — und dieser Vorsicht waren Grenzen gesetzt, weil es einer gewissen Wucht bedurfte, um ihn ins Sediment eindringen zu lassen! —, man vertrieb die meisten Bodenbewohner schon allein durch die Bugwelle, die das gigantische Maul vor sich herschob.
   Sobald es herabfuhr auf Fische, Würmer, Krebse und alles, was schneller Bewegungen fähig war, registrierten die empfindlichen Sinne der Tiere die herannahende Gefahr, lange bevor der Greifer aufschlug. Selbst ausgeklügeltere Systeme kündigten sich auf diese Weise an. Ein amerikanischer Tiefseeforscher hatte es schließlich frustriert und gallig auf den Punkt gebracht:
   »Es gibt jede Menge Leben da unten. Unser Problem ist, dass es jedes Mal zur Seite geht, wenn wir kommen.«
   Jetzt wurde der Greifer vom Heckgalgen abgelassen. Johanson wischte sich den Regen aus den Augen und ging ins Monitorlabor. Der Matrose am Windenfahrstand bediente den Joystick, mit dem der Greifer abgesenkt und angehoben wurde. In den letzten Stunden hatte er bereits den Videoschlitten gesteuert, aber er wirkte konzentriert und aufgeräumt. Das musste er auch sein. Stundenlang das blasstrübe Bild des Meeresbodens zu betrachten, konnte hypnotisierende Wirkung haben. Ein unachtsamer Moment, und Geräte im Kostenrahmen von Ferraris blieben für alle Zeiten unten.
   Drinnen herrschte Dämmerlicht. Die Gesichter der Umstehenden und Sitzenden leuchteten fahl im Licht der Bildschirme. Die Welt entrückte vollends. Es gab nur noch den Meeresboden, dessen Oberfläche die Wissenschaftler studierten wie eine chiffrierte Landschaft, in der jede Einzelheit Aussagen über alles traf, multicodierte Botschaften, Gottes verschlungene Sprache.
   Draußen am Heckgalgen rauschte der Greifer abwärts.
   Das Wasser schien aus den Monitoren spritzen zu wollen, dann sank das stählerne Maul durch Planktonregen. Es wurde blaugrün, grau, schwarz. Helle Punkte schossen seitlich weg wie Kometen, winzige Krabben, Krill, Undefinierbares. Die Reise des Greifers mutete an wie der Vorspann zu alten Star-Trek -Folgen, nur fehlte die Musik. Im Labor herrschte Totenstille. Der Tiefenmesser lief rasend schnell durch. Dann plötzlich kam Meeresboden ins Bild, der ebenso gut Mondoberfläche hätte sein können, und die Winde stoppte.
   »Minus 714«, sagte der Matrose am Joystick. Bohrmann beugte sich vor: »Noch nicht.« Muscheln zogen durchs Bild, wie sie mit Vorliebe auf Gashydraten siedelten. Die meisten von ihnen waren unter sich aufbäumenden, zuckenden rosa Leibern verschwunden. Johanson beschlich der Gedanke, dass die Würmer nicht nur ins Eis vordrangen, sondern auch die Muscheln in ihren Schalen fraßen. Er sah deutlich, wie die zangenbewehrten Rüssel hervorschossen, Stücke aus dem Muschelfleisch rissen und ins Innere der schlauchförmigen Körper beförderten. Vom weißen Methaneis war nichts auszumachen unter der kriechenden Belagerung, aber jeder im Raum wusste, dass es dort war, direkt unter ihnen. Überall stiegen Blasen auf und schwemmten kleine schimmernde Brocken nach oben, Hydratsplitter. »Jetzt«, sagte Bohrmann. Der Boden raste auf die Kamera zu. Kurz schien es, als bäumten sich die Würmer auf, um den Greifer in Empfang zu nehmen. Dann wurde alles schwarz. Das stählerne Maul presste sich ins Methan und schloss sich langsam.
   »Was zum Teufel …?«, zischte der Matrose.
   Über die Kontrollanzeige der Winde liefen Zahlen.
   Blieben stehen, liefen weiter. »Der Greifer sackt weg. Er bricht durch.« Hvistendahl drängte sich nach vorn. »Was passiert denn da?« »Das gibt’s doch nicht. Da unten ist überhaupt kein Widerstand mehr.«
   »Hoch damit«, schrie Bohrmann. »Schnell.«
   Der Matrose zog den Joystick zu sich heran. Die Anzeige stoppte, dann lief sie rückwärts. Der Greifer fuhr hoch, das Maul geschlossen. Die Außenkameras zeigten ein riesiges Loch, das plötzlich entstanden war Dicke, tanzende Blasen stiegen daraus empor. Dann wölbte sich eine gewaltige Menge Gas hinterher. Es schoss auf den Greifer zu, hüllte ihn ein, und plötzlich verschwand alles in einem kochenden Wirbel.
 
Grönländische See
 
   Einige hundert Kilometer nördlich vom Standort der Sonne hatte Karen Weaver eben aufgehört zu zählen.
   50 Runden um das Schiff. Jetzt lief sie einfach weiter, deckauf, deckab, darauf bedacht, den wissenschaftlichen Betrieb nicht zu stören. Ausnahmsweise passte es ihr gut, dass Lukas Bauer keine Zeit für sie hatte. Sie brauchte Bewegung. Am liebsten hätte sie Eisberge bestiegen oder sonst was unternommen, um ihren Überschuss an Adrenalin abzubauen. Viel konnte man an Bord eines Forschungsschiffs nicht tun. Im Kraftraum war sie gewesen und hatte sich an den drei läppischen Maschinen zu Tode gelangweilt, also lief sie. Deckauf, deckab. Vorbei an Bauers Assistenten, die den fünften Drifter vorbereiteten, vorbei an den Matrosen, die ihrer Arbeit nachgingen oder zusammenstanden und ihr hinterhersahen, wahrscheinlich mit anzüglichen Kommentaren auf den Lippen.
   Vor ihrem halb geöffneten Mund bildeten sich in regelmäßiger Folge weiße Wolken.
   Deckauf, deckab.
   Sie musste an ihrer Ausdauer arbeiten. Ausdauer war ihr schwacher Punkt. Dafür war sie ungemein kräftig. Nackt sah Karen Weaver aus wie eine Bronzeskulptur, mit schimmernder Haut, unter der sich beeindruckende Muskelstränge entlangzogen. Zwischen ihren Schulterblättern breitete ein kunstvoll tätowierter Falke seine Schwingen aus, eine bizarre Kreatur mit aufgerissenem Schnabel und vorgestreckten Klauen. Zugleich hatte Karen Weaver nichts gemein mit der Grobschlächtigkeit von Bodybuilderinnen. Im Grunde wäre ihr Körper wie geschaffen gewesen für eine Modelkarriere, nur dass sie zu klein war und ihre Schultern zu breit. Ein kleiner, gut gebauter Panzer, süchtig nach Adrenalin und bevorzugt am Rande irgendeines Abgrunds anzutreffen In diesem Fall erstreckte sich der Abgrund dreieinhalb Kilometer tief. Die Juno kreuzte über dem Grönländischen Abyssal, einer Tiefseeebene unterhalb der Framstraße, aus der kaltes arktisches Wasser nach Süden strömte. Am Zirkelpunkt zwischen Island, Grönland, Nordnorwegen und Svalbard lag eine der beiden Lungen der Weltmeere. Was hier geschah, interessierte Lukas Bauer. Und es interessierte auch Karen Weaver, beziehungsweise ihre Leser.
   Bauer winkte sie heran.
   Vollkommen kahl, mit kolossalen Brillengläsern und weißem Spitzbart, kam er dem Prototyp des vergeistigten Professors näher als jeder Wissenschaftler, den Weaver je kennen gelernt hatte. Er war sechzig und hatte einen runden Rücken, aber in dem mageren, gebeugten Körper steckte eine unbändige Energie. Weaver bewunderte Menschen wie Lukas Bauer. Sie bewunderte das Übermenschliche an ihnen, die Kraft des Willens.
   »Kommen Sie her, Karen!«, rief Bauer mit heller Stimme. »Ist das nicht unglaublich? In dieser Gegend stürzen rund 17 Millionen Kubikmeter Wasser pro Sekunde nach unten. 17 Millionen!« Er strahlte sie an. »Das ist 20-mal mehr, als sämtliche Flüsse der Erde führen.«
   »Doktor.« Weaver legte ihm die Hand auf den Unterarm. »Das haben Sie mir schon dreimal erzählt.«
   Bauer blinzelte. »So? Was Sie nicht sagen.«
   »Dafür haben Sie versäumt, mir zu erklären, wie Ihr Drifter funktioniert. Wenn ich Pressearbeit für Sie machen soll, müssen Sie sich ein bisschen mehr mit mir beschäftigen.«
   »Na ja, der Drifter, der autarke Drifter … ich dachte, das sei klar, oder nicht? Deswegen sind Sie ja hier.«
   »Ich bin hier, um Computersimulationen von Strömungswegen zu erstellen, damit die Leute sehen können, wohin Ihre Drifter unterwegs sind. Schon vergessen?«
   »Ach so, Sie können ja auch gar nicht, Sie haben ja kein … Nun, ich bin leider ein bisschen knapp in der Zeit. Ich muss noch so vieles erledigen. Warum sehen Sie nicht einfach zu und …«
   »Doktor! Nicht schon wieder. Sie wollten mir was über die Funktionsweise erzählen.«
   »Ja, sicher. In meinen Publikationen …«
   »Ich habe Ihre Publikationen gelesen, Doktor, und etwa die Hälfte begriffen. Und ich bin wissenschaftlich vorgebildet. Populärwissenschaftliche Artikel müssen unterhalten, sie müssen in einer Sprache verfasst sein, die jeder kapiert.«
   Bauer sah sie gekränkt an. »Ich finde meine Abhandlungen durchweg verständlich.«
   »Ja Sie. Und zwei Dutzend Kollegen weltweit.«
   »Ach was. Wenn man den Text aufmerksam studiert «
   »Nein, Doktor. Erklären Sie’s mir.«
   Bauer runzelte die Stirn, dann lächelte er nachsichtig. »Keiner meiner Studenten dürfte sich das trauen. Mich so oft zu unterbrechen. Nur ich selber darf mich unterbrechen.« Er zuckte die mageren Schultern. »Aber was soll ich machen? Ich kann Ihnen nun mal nichts abschlagen. Nein, das kann ich nicht. Ich hab Sie gern, Karen. Sie sind eine … also, eine … Sie erinnern mich an … na, egal. Schauen wir uns den Drifter an.«
   »Und danach reden wir über die bisherigen Ergebnisse Ihrer Arbeit. Ich bekomme Anfragen.«
   »So? Von wem denn?«
   »Von Zeitschriften, Fernsehmagazinen und Instituten.«
   »Interessant.«
   »Nein, nur logisch. Die Konsequenz meiner Arbeit. Manchmal frage ich mich, ob Sie überhaupt verstehen, was Pressearbeit eigentlich ist.«
   Bauer grinste verschmitzt. »Erklären Sie’s mir.«
   »Gerne, wenn auch zum zehnten Mal. Aber erst erzählen Sie mir was.«
   »Nein, das ist schlecht«, rief Bauer aufgeregt. »Wir müssen die Drifter zu Wasser lassen, und gleich danach muss ich dringend …«
   »Danach müssen Sie tun, was Sie mir versprochen haben«, ermahnte ihn Weaver.
   »Aber, Kind, ich bekomme ebenfalls Anfragen. Ich korrespondiere mit Wissenschaftlern in aller Welt! Sie glauben ja gar nicht, was die von mir wollen. Vorhin erhielt ich eine E-Mail, da fragt mich jemand nach einem Wurm. Ein Wurm, stellen Sie sich das mal vor! Und ob wir erhöhte Methankonzentrationen gemessen haben.
   Natürlich haben wir das, aber wie kann er das wissen? Da muss ich doch …«
   »Das kann ich alles übernehmen. Machen Sie mich zur Komplizin.«
   »Sobald ich …«
   »Falls Sie mich wirklich gern haben.«
   Bauer machte runde Augen. »Ach so! Verstehe.« Er begann zu kichern. Die runden Schultern schüttelten sich vor unterdrücktem Lachen. »Sehen Sie, darum habe ich nie geheiratet, man wird ständig nur erpresst. Gut, ich gelobe Besserung. Jetzt kommen Sie, kommen Sie.«
   Weaver folgte ihm. Der Drifter hing am Ausleger über der grauen Wasseroberfläche. Er war mehrere Meter lang und steckte in einem Stützgestell. Über die Hälfte der Konstruktion nahm eine schlanke schimmernde Röhre ein. Den oberen Teil bildeten zwei kugelförmige Glasbehälter.
   Bauer rieb sich die Hände. Der Daunen-Anorak war ihm eindeutig zu groß. Er sah darin aus wie ein sonderbarer arktischer Vogel.
   »Also, dieses Ding geben wir in die Strömung«, sagte er. »Es wird mittreiben, sozusagen als virtuelle Wasserpartikel. Erst mal steil nach unten, hier nämlich stürzt das Wasser, wie ich vorhin sagte … also, man sieht natürlich keinen Prozess des Sturzes, verstehen Sie, aber es stürzt … nun, wie soll ich das erklären?«
   »Möglichst ohne Fremdwörter.«
   »Gut, gut. Passen Sie auf! Im Grunde ist es ganz einfach. Man muss wissen, dass Wasser nicht immer gleich schwer ist. Das leichteste Wasser ist süß und warm. Salziges Wasser ist schwerer als süßes Wasser, je salziger, je schwerer. Salz hat schließlich ein Gewicht, nicht wahr? Kaltes Wasser ist wiederum schwerer als warmes Wasser, es hat eine höhere Dichte, also wird Wasser umso schwerer, je mehr es abkühlt.«
   »Und kaltes, salziges Wasser ist das schwerste Wasser überhaupt«, ergänzte Weaver.
   »Richtig, sehr richtig!«, freute sich Bauer. »Darum gibt es nicht einfach nur Meeresströmungen, sondern sie wälzen sich durch verschiedene Etagen. Warme Strömungen an der Oberfläche, die kältesten am Boden, und dazwischen haben wir die Tiefenströmungen. Nun ist es so, dass eine warme Strömung an der Oberfläche über tausende von Kilometern reisen kann, bis sie in kalte Gebiete vordringt, wo das Wasser dann natürlich abkühlt, nicht wahr? Und wenn das Wasser kälter wird …«
   »Wird es schwerer.«
   »Bravo, jawohl. Es wird schwerer und sinkt nach unten. Aus dem Oberflächenstrom wird ein Tiefenstrom oder gar ein Bodenstrom, und das Wasser fließt zurück. Umgekehrt funktioniert das genauso. Von unten nach oben, von kalt nach warm. Auf diese Weise sind alle großen Meeresströmungen auf der Welt ständig in Bewegung. Alle sind miteinander verbunden, es findet ein ständiger Austausch statt.«
   Der Drifter wurde zur Meeresoberfläche hinuntergelassen. Bauer hastete zur Reling und beugte sich weit darüber. Dann drehte er sich um und winkte Weaver ungeduldig herbei. »Na, kommen Sie. Kommen sie schon. Hier sehen Sie es besser.« Sie trat neben ihn. Bauer sah mit leuchtenden Augen hinaus.
   »Ich träume davon, dass solche Drifter in allen Strömungen mittreiben«, sagte er. »Das wäre wirklich phantastisch. Wir würden unglaublich viel erfahren.«
   »Wofür sind die beiden Glaskugeln?«
   »Wie? Was? Ach so. Auftriebskörper. Damit der Drifter in der Wassersäule schweben kann. Am Fuß hat er Gewichte, aber das Herzstück ist die Stange dazwischen. Darin sitzt alles. Steuerelektronik, Microcontroller, Energieversorgung. Aber auch ein Hydrokompensator. Ist das nicht phantastisch? Ein Hydrokompensator!«
   »Es wäre noch phantastischer, wenn Sie mir erzählen, was das ist.«
   »Oh, äh … natürlich.« Bauer zupfte an seinem Spitzbart. »Tja, wir haben überlegt, wie wir den Drifter … — Also, es ist ja so: Flüssigkeiten sind so gut wie inkompressibel, man kann sie nicht zusammenstauchen. Wasser bildet eine Ausnahme. Viel ist auch da nicht drin, aber ein bisschen können Sie es durchaus, ähm … quetschen. Und das tun wir. Wir komprimieren es in der Stange, sodass immer die gleiche Wassermenge darin ist, aber mal schwereres und mal leichteres Wasser. Damit verändert der Drifter bei gleichem Volumen sein Gewicht.«
   »Genial.«
   »In der Tat! Wir können ihn so programmieren, dass er das ganz von alleine macht: Kompression, Dekompression, Kompression, Dekompression, sinken, steigen, sinken, völlig ohne unser Zutun … hübsch, nicht?«
   Weaver nickte. Sie sah zu, wie das lange Gebilde in die grauen Wellen tauchte.
   »Der Drifter kann auf diese Weise Monate und Jahre autark im Meer treiben und akustische Signale abgeben. So können wir ihn orten und Geschwindigkeit und Verlauf von Strömungen rekonstruieren. — Ah, er taucht ab. Weg ist er.«
   Der Drifter war im Meer verschwunden. Bauer nickte befriedigt.
   »Und wohin treibt er nun?«, fragte Weaver.
   »Das ist die spannende Frage.«
   Weaver sah ihn einfach an. Bauers Blick flackerte, dann ließ er ein Seufzen der Resignation hören.
   »Ich weiß, Sie wollen über meine Arbeit reden.«
   »Und zwar jetzt.«
   »Sie sind ein Quälgeist. Meine Güte, sind Sie hartnäckig. Also gut, gehen wir ins Labor. Aber ich muss Sie warnen. Die Ergebnisse meiner Arbeit sind beunruhigend, gelinde ausgedrückt ….«
   »Die Welt liebt es, sich beunruhigen zu lassen. Haben Sie nicht gehört? Quallenseuchen, Anomalien, Menschen gehen verloren, eine Schiffskatastrophe jagt die nächste. Sie wären in bester Gesellschaft.«
   »So?« Bauer schüttelte den Kopf. »Sie haben wahrscheinlich Recht. Ich werde nie genau verstehen, was Pressearbeit ist. Ich bin nur ein einfacher Professor. Es ist mir einfach zu hoch.«
 
Norwegische See, Kontinentalrand
 
   »Scheiße«, stöhnte Stone. »Das ist ein Blowout!«
   Im Kontrollraum der Sonne starrten alle fasziniert auf den Monitor. Die Hölle schien tief unten ausgebrochen zu sein.
   Bohrmann sagte ins Mikrophon: »Wir müssen hier weg. Kommando an Brücke. Volle Fahrt.«
   Lund drehte sich um und rannte aus dem Raum. Johanson zögerte, dann lief er ihr hinterher. Andere folgten. Hektik brach aus. Plötzlich schien jeder an Bord auf den Beinen zu sein. Er schlitterte auf das Arbeitsdeck, wo Matrosen und Techniker unter Lunds Kommando Kühltanks heranwuchteten. Das Windenkabel über dem Galgen erzitterte, als die Sonne plötzlich Fahrt aufnahm.
   Lund sah ihn und kam zu ihm gelaufen.
   »Was war das?«, rief Johanson.
   »Wir sind auf eine Blase gestoßen. Komm!«
   Sie zog ihn zur Reling. Hvistendahl, Stone und Bohrmann gesellten sich zu ihnen. Zwei der Statoil-Techniker waren an den abschüssigen Rand des Hecks getreten, direkt unter den Galgen, und sahen neugierig hinaus. Bohrmann warf einen Blick auf das straff gespannte Kabel.
   »Was macht der denn da?«, zischte er. »Warum stoppt der Idiot die Winde nicht?«
   Er ließ die Reling los und lief zurück ins Innere.
   Im selben Moment begann das Meer wild zu schäumen. Große weiße Brocken brachen durch die Wasseroberfläche. Die Sonne fuhr jetzt mit voller Geschwindigkeit. Klirrend spannte sich die Zugleine des Greifers. Jemand lief über das Deck auf den Galgen zu und fuchtelte mit den Armen.
   »Weg da«, schrie er die Statoil-Leute unter dem Galgen an. »Haut ab!«
   Johanson erkannte ihn. Es war der Schäferhund, wie ihn die Crew nannte, der Erste Offizier. Hvistendahl drehte sich um. Auch er machte den Männern Zeichen. Dann geschah alles gleichzeitig. Mit einem Mal waren sie inmitten eines brausenden und zischenden Geysirs. Johanson sah die Umrisse des Greifers dicht unter der Wasseroberfläche auftauchen. Unerträglicher Schwefelgestank breitete sich aus. Das Heck der Sonne sackte abwärts, dann schoss das stählerne Maul schräg aus dem brodelnden Inferno heraus und bewegte sich wie eine überdimensionale Schaukel auf die Bordwand zu. Der hintere der beiden Statoil-Leute sah den Greifer kommen und warf sich zu Boden. Der andere riss entsetzt die Augen auf, machte einen unentschlossenen Schritt zurück — und taumelte. Mit einem Satz war der Schäferhund heran und versuchte ihn zu Boden zu ziehen, aber er war nicht schnell genug. Das tonnenschwere Maul krachte gegen den Mann und schleuderte ihn in hohem Bogen durch die Luft. Er flog mehrere Meter weit, schlitterte über die Planken und blieb auf dem Rücken liegen.
   »Oh nein«, keuchte Lund. »Verdammter Mist!«
   Sie und Johanson liefen gleichzeitig zu dem reglosen Körper. Der Erste Offizier und Mitglieder der Crew waren neben dem Mann auf die Knie gegangen. Der Schäferhund blickte kurz auf.
   »Keiner fasst ihn an.«
   »Ich will …«, begann Lund.
   »Arzt holen, los.«
   Lund kaute unruhig an ihren Nägeln. Johanson wusste, wie sehr sie es hasste, zur Untätigkeit verdammt zu sein. Sie trat zu dem schlammtriefenden Greifer, der langsam auspendelte.
   »Öffnen!«, rief sie. »Alles, was noch übrig ist, in die Tanks.«
   Johanson sah aufs Wasser. Immer noch stiegen brodelnd und stinkend Blasen aus dem Meer. Allmählich wurden es weniger. Die Sonne gewann rasch Abstand. Die letzten Brocken des hochgeschwemmten Methaneises trieben auf den Wellen und zerfielen.
   Quietschend öffnete der Greifer sein Maul und entließ zentnerweise Eis und Schlamm. Bohrmanns Laborleute und die Matrosen hasteten umher und versuchten, so viel Hydrat wie möglich im flüssigen Stickstoff zu versenken. Es dampfte und zischte. Johanson kam sich schrecklich nutzlos vor. Er drehte sich weg, ging hinüber zu Bohrmann und half ihm, die Brocken einzusammeln. Das Deck war übersät mit kleinen, borstigen Körpern. Einige zuckten und wanden sich und stülpten ihre Rüssel mit den Kiefern hervor. Die meisten schienen den raschen Aufstieg nicht überlebt zu haben. Der plötzliche Wechsel von Temperatur und Umgebungsdruck hatte sie getötet.
   Johanson hob einen der Brocken auf und betrachtete ihn genauer. Das Eis war von Kanälen durchzogen. Leblose Würmer hingen darin. Er wendete den Brocken hin und her, bis ihn das Knistern und Knacken der zerfallenden Masse daran erinnerte, sie schnellstmöglich unter Verschluss zu bringen. Andere Brocken waren noch stärker durchlöchert, doch richtig begonnen hatte die Zersetzung offenbar erst unterhalb der Wurmkanäle. Kraterartige Zerstörungen klafften im Eis, teilweise bedeckt von schleimigen Fäden.
   Was war damit geschehen?
   Johanson vergaß die Kühlbehälter. Er zerrieb den Schleim zwischen den Fingern. Das Zeug sah aus wie Reste von Bakterienkolonien. Man fand Bakterienmatten auf der Oberfläche von Hydraten, aber was taten sie so tief im Innern der Eisklumpen?
   Sekunden später hatte sich der Brocken zersetzt. Er sah sich um. Das Heck war zu einer schlammigen Pfütze geworden. Der Mann, den der Greifer erwischt hatte, war verschwunden. Auch Lund, Hvistendahl und Stone hatten das Deck verlassen. Johanson sah Bohrmann ein Stück weiter an der Reling lehnen und ging zu ihm hinüber.
   »Was ist da eben passiert?«
   Bohrmann fuhr sich über die Augen. »Wir hatten einen Blowout. Das ist passiert. Der Greifer ist über zwanzig Meter tief eingebrochen. Von unten kam freies Gas hoch. Haben Sie die riesige Blase auf dem Schirm gesehen?«
   »Ja. Wie dick ist das Eis an dieser Stelle?«
   »War, muss man wohl sagen. Siebzig bis achtzig Meter.
   Mindestens.«
   »Dann muss da unten alles in Trümmern liegen.«
   »Offensichtlich. Wir sollten schleunigst herausfinden, ob das ein Einzelfall war.«
   »Sie wollen weitere Proben entnehmen?«
   »Natürlich«, knurrte Bohrmann. »Der Unglücksfall vorhin hätte nicht passieren dürfen. Der Mann an der Winde hat den Greifer weiterhin eingeholt, bei voller Fahrt. Er hätte die Winde stoppen müssen.« Er sah Johanson an. »Ist Ihnen was aufgefallen, als das Gas hochkam?«
   »Ich hatte den Eindruck, dass wir wegsackten.«
   »Schien mir auch so. Das Gas hat die Oberflächen spannung des Wassers herabgesetzt.«
   »Sie meinen, wir hätten sinken können?«
   »Schwer zu sagen. Schon mal was vom Hexenloch gehört?«
   »Vor zehn Jahren fuhr mal einer hinaus und kehrte nicht zurück. Das letzte was man über Funk von ihm hörte, war, dass er sich einen Kaffee kochen wollte. Kürzlich hat ein Forschungsschiff das Wrack gefunden. 50 Seemeilen vor der Küste in einer ungewöhnlich tiefen Senke im Nordseeboden. Die Seeleute nennen die Gegend Hexenloch. Das Wrack weist keinerlei Schäden auf, und es liegt aufrecht auf dem Grund. Als sei es wie ein Stein gesunken — wie etwas, das nicht schwimmen kann.«
   »Klingt nach Bermuda-Dreieck.«
   »Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Genau das ist die Hypothese. Die einzige, die einer näheren Prüfung standhält. Zwischen den Bermudas, Florida und Puerto Rico gibt es immer wieder heftige Blowouts. Wenn das Gas in die Atmosphäre aufsteigt, kann es sogar Flugzeugturbinen entzünden. Ein Methanblowout, um ein Vielfaches größer, als wir ihn eben hatten, und das Wasser wird so dünn, dass Sie einfach wegsacken.« Bohrmann deutete auf die Kühlbehälter. »Wir schicken das Zeug schnellstmöglich nach Kiel. Wir werden es analysieren, und danach werden wir definitiv wissen, was da unten los ist. Und wir werden es herausfinden, das verspreche ich Ihnen. Wir haben einen Mann verloren wegen dieser ganzen Scheiße.«
   »Ist er …?« Johanson sah zu den Aufbauten des Hauptdecks hinüber.
   »Er war sofort tot.«
   Johanson schwieg.
   »Wir werden die nächsten Proben mit dem Autoklav entnehmen, statt den Greifer einzusetzen. Das ist in jedem Fall sicherer. Wir müssen Klarheit erlangen. Ich habe keine Lust mitanzusehen, wie hier bedenkenlos Fabriken auf Grund gesetzt werden.« Bohrmann schnaubte und stieß sich von der Reling ab. »Aber das sind wir ja schon gewohnt, nicht wahr? Wir versuchen, die Welt zu erklären, und keiner hört richtig zu. Was passiert denn? Die Konzerne sind die neuen Auftraggeber der Forschung. Wir beide schippern hier herum, weil Statoil einen Wurm gefunden hat. Toll. Die Industrie bezahlt die Forscher, nachdem der Staat es nicht mehr kann. Von Grundlagenforschung keine Spur. Dieser Wurm wird nicht als Forschungsobjekt gesehen, sondern als Problem, das es aus der Welt zu schaffen gilt. Angewandte Forschung ist gefragt, und bitte schön so, dass man hinterher einen Freibrief in der Tasche hat. Aber vielleicht ist der Wurm ja gar nicht das Problem. Denkt ein Mensch darüber nach? Vielleicht ist es etwas völlig anderes, und indem wir das Problem beseitigen, schaffen wir ein viel größeres. — wissen Sie was? Manchmal könnte ich kotzen.«
   Wenige Seemeilen nordöstlich holten sie schließlich ein Dutzend Bohrkerne aus dem Sediment, ohne dass es zu weiteren Zwischenfällen kam. Der Autoklav, eine fünf Meter lange Röhre mit Isoliermantel und Gestänge drum herum, zog den Kern wie eine Spritze aus dem Meeresboden. Noch unten wurde die Röhre durch Ventile hermetisch verschlossen. Im Innern befand sich damit ein kleines, ausgestanztes Universum: Sediment, Eis und Schlamm samt intakter Oberfläche, Meerwasser und siedelnden Lebewesen, die sich weiterhin wohl fühlten, weil die Röhre Temperatur und Druck aufrechterhielt. Bohrmann ließ die verschlossenen Röhren im Kühlraum des Schiffes aufrecht lagern, um das sorgfältig konservierte Innenleben nicht durcheinander zu bringen. An Bord konnten die Kerne nicht untersucht werden. Erst im Tiefseesimulator herrschten die richtigen Bedingungen. Bis dahin mussten sie sich damit zufrieden geben, Wasserproben zu analysieren und Monitore anzustarren.
   Ungeachtet der Dramatik bekam selbst das ewig gleiche Bild der wurmübersäten Hydrate etwas Ermüdendes. Niemand verspürte Lust auf Konversation. Im blassen Licht der Bildschirme schienen sie selber zu verblassen, Bohrmanns Team, die Ölleute, die Matrosen. Der tote Statoil-Mann leistete den Bohrkernen im Kühlraum Gesellschaft. Das Rendezvous mit der Thorvaldson über dem Standort der geplanten Tiefseefabrik war abgesagt worden, um möglichst schnell Kristiansund zu erreichen, wo sie die Leiche übergeben und die Proben zum nahe gelegenen Flughafen verfrachten wollten. Johanson hockte im Funkraum oder in seiner Kammer und wertete die Rückmeldungen seiner Anfragen aus. Der Wurm war nirgendwo beschrieben, niemand hatte ihn gesehen. Einige der Schreiber gaben ihrer Meinung Ausdruck, es handle sich um den mexikanischen Eiswurm, womit sie dem Erkenntnisstand nichts Wesentliches hinzufügten.
   Drei Seemeilen vor Kristiansund erhielt Johanson eine Antwort von Lukas Bauer. Die erste positive Rückmeldung, sofern man den Inhalt als positiv bezeichnen konnte.
   Er las den Text und saugte an seiner Unterlippe.
   Die Kontaktaufnahme zu den Energiekonzernen oblag Skaugen. Von Johanson erwartete man, Institute und Wissenschaftler zu befragen, die in keinem offensichtlichen Zusammenhang mit Ölexplorationen standen. Aber Bohrmann hatte nach dem Unfall mit dem Greifer etwas gesagt, das die Sache in ein anderes Licht rückte.
   Die Industrie bezahlt die Forscher, nachdem der Staat es nicht mehr kann.
   Welche Institute konnten überhaupt noch frei forschen?
   Wenn es zutraf, dass die Forschung zunehmend an den Tropf der Wirtschaft geriet, arbeiteten fast alle Institute in irgendeiner Weise den Konzernen zu. Sie finanzierten sich aus nichtöffentlichen Mitteln. Sie hatten gar keine andere Wahl, wenn sie nicht riskieren wollten, ihre Arbeit einstellen zu müssen. Selbst Geomar in Kiel sah einem finanziellen Engagement der Deutschen Ruhrgas entgegen, die am Institut eine Stiftungsprofessur für Gashydrate plante. So verführerisch es klang, mit Konzerngeldern forschen zu können, stand am Ende doch das Interesse der Sponsoren, Ergebnisse in buchbare Posten umzuwandeln.
   Johanson las noch einmal Bauers Antwort.
   Er war die Sache falsch angegangen. Anstatt in alle Welt hinauszurufen hätte er von vorneherein versteckte Verbindungen zwischen Forschung und Industrie unter die Lupe nehmen müssen. Während sich Skaugen dem Thema über die Konzernetagen näherte, konnte er versuchen, kooperierende Wissenschaftler auszufragen. Irgendeiner würde früher oder später den Mund aufmachen.
   Das Problem war, derartigen Verbindungen auf die Spur zu kommen.
   Nein, kein Problem. Fleißarbeit.
   Er stand auf und verließ den Funkraum, um Lund zu suchen.
 

24. April

Vancouver Island und Clayoquot Sound, Kanada
 
   Ballen, Ferse.
   Anawak wippte ungeduldig auf den Füßen hin und her. Stellte sich auf die Zehen und ließ sich wieder zurückfallen. Abwechselnd. Unablässig. Ballen, Ferse. Ballen, Ferse. Es war früher Morgen. Der Himmel erstrahlte in stechendem Azur, ein Tag wie aus dem Reiseprospekt.
   Er war nervös.
   Ballen, Ferse. Ballen, Ferse.
   Am Ende des hölzernen Piers wartete ein Wasserflugzeug. Sein weißer Rumpf spiegelte sich im Tiefblau der Lagune, gebrochen vom Kräuseln der Wellen. Die Maschine war eine jener legendären Beaver DHC-2, die das kanadische Unternehmen De Havilland erstmals vor über 50 Jahren gebaut hatte und die immer noch im Einsatz waren, weil danach nichts Besseres mehr auf den Markt gekommen war. Bis zu den Polen hatte es die Beaver geschafft. Sie war anspruchslos, robust und sicher.
   Genau richtig für das, was Anawak vorhatte.
   Er sah hinüber zum rotweiß gestrichenen Abfertigungsgebäude. Tofino Airport, nur wenige Autominuten vom Ort entfernt, hatte mit klassischen Flughäfen wenig gemein. Eher fühlte man sich an eine Fallensteller— oder Fischer-Siedlung erinnert. Ein paar niedrige Holzhäuser, malerisch an einer weitläufigen Bucht gelegen, gesäumt von baumbestandenen Hügeln, hinter denen sich die Berge emporreckten. Anawaks Blick suchte die Zufahrt ab, die von der Hauptstraße unter den Riesenbäumen zur Lagune führte. Die anderen mussten jeden Augenblick eintreffen. Er runzelte die Stirn, während er der Stimme lauschte, die aus seinem Mobiltelefon drang.
   »Aber das ist zwei Wochen her«, erwiderte er. »In der ganzen Zeit war Mr. Roberts kein einziges Mal für mich zu sprechen, obwohl er ausdrücklich Wert darauf legte, dass ich ihn auf dem Laufenden halte.«
   Die Sekretärin gab zu bedenken, Roberts sei nun mal ein viel beschäftigter Mann.
   »Das bin ich auch«, bellte Anawak. Er hörte auf zu wippen und bemühte sich, freundlicher zu klingen. »Hören Sie, wir haben hier inzwischen Zustände, für die der Begriff Eskalation geschmeichelt ist. Es gibt klare Zusammenhänge zwischen unseren Problemen und denen von Inglewood. Auch Mr. Roberts wird das so sehen.«
   Eine kurze Pause entstand. »Welche Parallelen sollten das sein?«
   »Wale. Das ist doch offenkundig.«
   »Die Barrier Queen hatte einen Schaden am Ruderblatt.«
   »Ja sicher. Aber die Schlepper sind angegriffen worden.«
   »Ein Schlepper ist gesunken, das ist richtig«, sagte die Frau in höflich desinteressiertem Tonfall. »Von Walen ist mir nichts bekannt, aber ich werde Mr. Roberts gerne ausrichten, dass Sie angerufen haben.«
   »Sagen Sie ihm, es sei in seinem eigenen Interesse.«
   »Er wird sich innerhalb der nächsten Wochen melden.«
   Anawak stockte. »Wochen?«
   »Mr. Roberts ist verreist.«
   Was ist da bloß los, dachte Anawak. Mühsam beherrscht sagte er: »Ihr Boss hat außerdem versprochen, weitere Proben vom Bewuchs der Barrier Queen ins Institut nach Nanaimo zu schicken. Sagen Sie jetzt bitte nicht, auch davon wäre Ihnen nichts bekannt. Ich war selber unten und hab das Zeug vom Rumpf gepflückt. Es sind Muscheln und möglicherweise noch etwas anderes.«
   »Mr. Roberts hätte mich darüber informiert, wenn …«
   »Die Leute in Nanaimo brauchen diese Proben!«
   »Er wird sich nach seiner Rückkehr darum kümmern.«
   »Das ist zu spät! Hören Sie? — Ach, egal. Ich rufe wieder an.« Verärgert steckte er das Telefon weg. Über die Zufahrt kam Shoemakers Land Cruiser herangerumpelt. Kies knirschte unter den Reifen, als der Geländewagen auf den kleinen Parkplatz vor dem Abfertigungsgebäude einbog. Anawak ging ihnen entgegen.