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»Welcher Schamane sollte mir …« Anawak hob die Brauen. »Doch nicht etwa du?«
Akesuk zuckte die Achseln und grinste. »Einer muss sich ja um geistlichen Beistand kümmern«, sagte er. »Schau mal!«
In einiger Entfernung hatte sich ein riesiger Polarbär über die letzten Reste des Narwals hergemacht und die Vögel aufgescheucht. Sie stoben um ihn herum oder trippelten in respektvoller Entfernung übers Eis. Ein Sturmvogel stieß immer wieder auf den Eindringling herab. Der Bär zeigte sich unbeeindruckt. Er war weit genug vom Camp entfernt, dass der Wachposten keinen Warnruf auszustoßen brauchte, aber der Mann hatte das Gewehr hochgenommen und sah aufmerksam zu der Stelle hinüber.
»Nanuq«, sagte Akesuk. »Er riecht alles. Auch uns.«
Anawak beobachtete den Bären beim Fressen. Er empfand keine Angst. Nach einer Weile verlor der Koloss das Interesse und machte sich behäbig davon. Einmal drehte er sich um, äugte neugierig zum Camp herüber und verschwand schließlich hinter einer Barriere aus Packeis.
»Wie gemütlich er sich gibt«, flüsterte der Onkel. »Aber er kann laufen, Junge! Er kann laufen!« Akesuk kicherte, griff in seinen Anorak und brachte eine kleine Skulptur zum Vorschein, die er Anawak in den Schoß legte. »Darauf habe ich gewartet. Weißt du, jedes Geschenk braucht seine Zeit. Vielleicht ist jetzt der richtige Moment, dir das zu geben.«
Anawak nahm die Plastik und betrachtete sie. Ein menschliches Gesicht mit Federhaaren, dessen Hinterkopf in einen Vogelkörper auslief.
»Ein Vogelgeist?«
»Ja.« Akesuk nickte. »Toonoo Sharky hat ihn gemacht, ein Nachbar von mir. Ganz angesehener Künstler mittlerweile, hat es bis ins Museum of Modern Arts geschafft. Nimm ihn. Dir steht vieles bevor. Du wirst ihn brauchen, Junge. Er wird deine Gedanken in die richtige Richtung lenken, wenn es so weit ist.«
»Wenn was so weit ist?«
»Dein Bewusstsein wird fliegen.« Akesuk formte die Hände zu Schwingen, ließ sie flattern und grinste. »Aber du bist lange fort gewesen von hier. Ein bisschen aus der Übung. Vielleicht brauchst du einen Mittler, der dir verrät, was der Vogelgeist sieht.«
»Du sprichst in Rätseln.«
»Das ist das Privileg der Schamanen.«
Ein Vogel strich über sie hinweg.
»Eine Rosenmöwe«, lachte Akesuk. »Na, du hast wirklich Glück, Leon, wirklich Glück! Wusstest du, dass jedes Jahr Tausende Vogelliebhaber aus aller Welt anreisen, nur um diese Möwe zu sehen? So selten ist sie. — Nein, du solltest dich nicht sorgen, wirklich nicht. Die Geister haben dir ein Zeichen gesandt.«
Später, als sie endlich in ihre Schlafsäcke gefunden hatten, lag Anawak noch eine Weile wach. Die nächtliche Sonne erhellte die Zeltwand. Einmal hörte er den Ruf der Bärenwache: »Nanuq, Nanuq!« Er dachte an das tiefe, schwarze Nordpolarmeer unter sich, und seine Gedanken, körperlos, schienen durch die Eisdecke hinabzusinken in die unbekannte Welt. Ruhig atmend trieb er auf einer See aus Schlaf dahin und schließlich auf dem Plateau eines gewaltigen Eisbergs, geboren im grönländischen Gletscher, herübergetrieben an die Ostküste von Bylot Island, festgehalten von der zufrierenden See und endlich dem aufbrechenden Eis wieder entrissen von Wind und Wellen und nach Süden getrieben. In seinem Traum stieg Anawak über einen schmalen, verschneiten Pfad bis zum Gipfel des Berges und sah, dass sich dort ein smaragdgrüner Binnensee aus Schmelzwasser gebildet hatte. So weit das Auge reichte, erstreckte sich spiegelglattes, blaues Meer. Der Eisberg würde zerfließen, und er würde hinabsinken in diese stille See zum Urgrund allen Lebens, wo ein Rätsel darauf wartete, gelöst zu werden.
Und vielleicht ein Schamane, ihm dabei zu helfen.
24. Mai
Frost war wie üblich anderer Meinung.
Die Hauptmethanvorkommen lagerten nach Einschätzung der rohstofffördernden Industrie im Pazifik entlang der Westküste Nordamerikas und vor Japan, außerdem im Ochotskischen Meer sowie im Beringmeer und weiter nördlich in der Beaufortsee. Im Atlantik hatten die USA das meiste davon vor der Haustür. Es gab größere Vorkommen in der Karibik und vor Venezuela und starke Konzentrationen im Gebiet der Drake-Straße zwischen Südamerika und der Antarktis. Auch von den norwegischen Hydraten hatte man gewusst, und ebenso bekannt war die Existenz von Lagerstätten im östlichen Mittelmeer und im Schwarzen Meer.
Nur vor der Nordwestküste Afrikas waren sie offenbar dünn gesät. Ganz besonders im Umfeld der Kanarischen Inseln.
Und das wollte Frost nicht einleuchten.
Denn dort stieg kaltes Wasser aus der Tiefe hoch, beladen mit Nährstoffen für Planktonalgen, die ihrerseits wiederum die Grundlagen für die exzellenten kanarischen Fischgründe schufen. Daran gemessen hätten im Gebiet der Kanaren sogar sehr große Hydratmengen lagern müssen — überall, wo organisches Leben in großer Vielfalt vorkam, bildete sich früher oder später Methan in der Tiefsee.
Das Problem mit den Kanaren war, dass sich die verwesenden Reste der Lebewesen nirgendwo absetzen konnten. Nachdem die Inseln Jahrmillionen zuvor aus Vulkanen entstanden waren, ragten sie steil wie Türme vom Meeresboden in die Höhe: Teneriffa, Gran Canaria, La Palma, Gomera und Ferro. Sie alle wuchsen aus Tiefen zwischen drei und dreieinhalb Kilometern zur Oberfläche, vulkanische Felsnadeln, an denen Sedimente und organische Rückstände einfach vorbeitrudelten, anstatt sich festzusetzen. Die gängigen Karten verzeichneten darum im Gebiet der Kanaren gar keine Methanvorkommen. Was nach Ansicht von Stanley Frost die erste Fehlannahme war.
Zweitens ahnte er, dass die Vulkankegel, als deren Spitzen die Inseln aus der See ragten, längst nicht so steil waren, wie es allgemein hieß. Natürlich waren sie steil, aber nicht glatt und senkrecht wie Häuserwände. Frost hatte sich hinreichend mit der Entstehung und dem Wachstum von Vulkanen beschäftigt, um zu wissen, dass selbst der steilste Kegel Grate und Terrassen aufwies. Er war der festen Überzeugung, dass rund um die Inseln eine ganze Menge Methan lagerte und dass bis jetzt lediglich keiner so genau nachgesehen hatte. Dieses Hydrat würde nicht in großen Brocken vorkommen, aber das Gestein als Netz feiner Äderchen durchziehen. Auf den sedimentbedeckten Graten hatte es sich auf alle Fälle angelagert.
Da er zwar Vulkanologe, aber kein Experte für Hydrate war, hatte er im Chateau Gerhard Bohrmann zu Rate gezogen. Sie waren übereingekommen, der Sache auf den Grund zu gehen. Frost hatte daraufhin eine Liste von Inseln erstellt, die ihm gefährdet erschienen. Dazu gehörten außer La Palma auch Hawaii, die Kapverden, Tristan de Cunha weiter südlich und Réunion im Indischen Ozean. Jede davon war eine potenzielle Zeitbombe, aber La Palma war und blieb ohne Beispiel. Wenn zutraf, was Frost befürchtete, und diese Wesen in der Tiefsee tatsächlich so schlau waren, wie der norwegische Professor meinte, hing die Cumbre-Vieja-Vulkankette auf La Palma über Millionen Menschen wie ein zweitausend Meter hohes Damoklesschwert.
Dank Bohrmanns Bemühungen erhielten Frost und sein Team die berühmte Polarstern für ihre Expedition. Das deutsche Forschungsschiff hatte ebenso wie die Sonne einen Victor 6000 an Bord. Die Polarstern war groß genug, dass ihr Wale nicht gefährlich werden konnten, und außerdem mit Unterwasserkameras nachgerüstet worden, um Angriffe durch Muschelschwärme, Medusen oder andere Organismen rechtzeitig erkennen zu können. Frost hatte keine Vorstellung davon, ob er den Victor je wieder sehen würde, wenn er ihn einmal hinuntergelassen hatte, nachdem dort unten alles Mögliche verschwand. Es war ein Versuch auf gut Glück, aber niemand sperrte sich dagegen.
Der Victor tauchte an der Westseite von La Palma. Die Polarstern lag in Sichtweite vom Festland, als er runterging. Der Roboter suchte die steile Flanke des Vulkankegels systematisch ab, bis er in knapp 400 Metern Tiefe auf eine Anordnung überkragender Terrassen stieß, die wie Balkone aus der Wand standen und weitflächige Sedimentbedeckungen aufwiesen.
Dort fand er die Hydratvorkommen, die Frost vorausgesagt hatte. Sie verschwanden unter wimmelnden, rosaweißen Leibern mit Zangenkiefern.
8. Juni
»Warum arbeiten diese Würmer so eifrig am Fundament einer Ferieninsel, wo sie doch vor Japan oder vor unserer Haustür viel mehr anrichten könnten?«, sagte Frost. »Ich meine, die Ostsee war ein Ballungsraum. Die amerikanische Ostküste und Honshu sind es auch, aber da reichen die Wurmpopulationen bei weitem noch nicht aus, um es richtig rappeln zu lassen. Und jetzt entdecken wir sie hier. Vor einer Urlaubsinsel im afrikanischen Westen. Also was soll das alles? Machen die Viecher Urlaub?«
Er stand, wie gewohnt mit Baseballkappe und Ölarbeiteroverall angetan, hoch oben an der Westseite des Zentralgebirges, das sich über die gesamte Insel zog. Während die Felsen im Norden den berühmten Erosionskrater Caldera de Taburiente umschlossen, setzte sich der Gebirgskamm mit unzähligen Vulkanen bis zur Südspitze fort.
Frost war in Begleitung von Bohrmann und zwei Repräsentanten der De-Beers-Unternehmensgruppe, einer Geschäftsführerin und einem Technischen Leiter mit Namen Jan van Maarten. Der Hubschrauber parkte ein Stück abseits der Sandpiste, auf der sie standen. Sie überblickten eine begrünte Kraterlandschaft von beeindruckender Schönheit. Ein Kegel reihte sich an den nächsten. Schwarze Lavafelder wälzten sich hinab zur Küste, gesprenkelt mit erstem zarten Grün. Die Vulkane La Palmas spuckten nicht regelmäßig Lava, allerdings konnte der nächste Ausbruch jederzeit bevorstehen. Erdgeschichtlich waren die Inseln junges Land. Erst 1971 war im äußersten Süden ein neuer Vulkan entstanden, der Teneguia, der die Insel um einige Hektar vergrößert hatte. Genau genommen bildete der komplette Kamm einen einzigen großen Vulkan mit vielen Auslässen, weshalb man bei Ausbrüchen meist einfach nur vom Cumbre Vieja sprach.
»Die Frage ist«, sagte Bohrmann, »wo man ansetzen muss, um den meisten Schaden anzurichten.«
»Sie glauben tatsächlich, da hat sich jemand solche Gedanken gemacht?« Die Geschäftsführerin runzelte die Stirn.
»Es ist alles hypothetisch«, sagte Frost. »Aber wenn wir voraussetzen, dass ein intelligenter Geist dahinter steckt, geht er strategisch sehr geschickt vor. Nach dem Desaster in der Nordsee hat natürlich jeder angenommen, das nächste Unheil drohe in unmittelbarer Nähe dicht besiedelter Küsten und Industrielandschaften. Und tatsächlich haben wir Würmer dort gefunden, aber in eher kleiner Anzahl. Daraus könnte man schließen, dass die Truppenstärke des Feindes, um es mal so zu nennen, nachgelassen hat. Oder dass er Zeit braucht, um mehr von diesen Würmern zu produzieren. Man lenkt unsere Aufmerksamkeit ständig auf die falschen Punkte. Gerhard und ich sind mittlerweile der Überzeugung, dass diese halbherzigen Invasionen vor Nordamerika und Japan Ablenkungsmanöver sind.«
»Aber was bringt es, die Hydrate vor La Palma zu zerstören?«, fragte die Frau. »Hier ist ja nun tatsächlich nicht viel los.«
Die De-Beers-Leute waren ins Spiel gekommen, als Frost und Bohrmann auf die Suche nach einem schon existierenden System gegangen waren, mit dem man die Eis fressenden Würmer absaugen konnte. Vor Namibia und Südafrika wurde der Meeresboden seit Jahrzehnten nach Diamanten abgesucht. Mehrere Gesellschaften waren daran beteiligt, allen voran der internationale Diamantenriese De Beers, der von Schiffen und seegestützten Plattformen aus bis in Tiefen von 180 Metern baggerte. Vor einigen Jahren hatte De Beers begonnen, neue Konzepte zu entwickeln, die tiefer kamen, ferngesteuerte Unterwasser-Bulldozer mit Saugrüsseln, die Sand und Gestein durch Rohrleitungen in Begleitschiffe pumpten. Eine der jüngsten Entwicklungen sah ein flexibles System vor, das völlig ohne Grundgefährt auskam — ein ferngesteuerter Saugrüssel, der auch an Steilhängen operieren konnte. Theoretisch war das System in der Lage, bis in Tiefen von mehreren tausend Metern vorzustoßen, aber dafür musste man den Rüssel überhaupt erst mal in einer solchen Länge bauen.
Der Stab hatte beschlossen, die mit dem Projekt befasste Gruppe auf Seiten des Diamantenkonzerns einzuweihen. Die beiden De-Beers-Vertreter wussten zu diesem Zeitpunkt nur, dass ihr System vor dem Hintergrund der weltweiten Naturkatastrophen eine wichtige Rolle spielen könnte und dass man sehr schnell einen Saugrüssel von mehreren Hundert Meter Länge benötigen würde. Frost hatte vorgeschlagen, auf den Cumbre zu fliegen, weil er den Leuten ein möglichst klares Bild dessen vermitteln wollte, was auf die Menschheit zukommen würde, wenn die Mission scheiterte.
»Täuschen Sie sich nicht«, sagte er. »Hier ist jede Menge los.«
Sein Haar, das unordentlich unter der Kappe hervorkringelte, zitterte im kühlen Passatwind. Der Himmel spiegelte sich in seiner getönten Brille. Er glich wie üblich einer Mischung aus Fred Feuerstein und Terminator, wie er da stand, und seine Stimme donnerte mitten hinein in die Stille des Hangs mit seinen friedlichen Kiefernhainen, als wolle er die nächsten zehn Gebote verteilen.
»Wir stehen hier, weil der Vulkanismus die Kanaren vor zwei Millionen Jahren ins Meer gespien hat. Alles hier macht einen sehr idyllischen Eindruck, aber das täuscht. Unten in Tijarafe — hübsches kleines Nest übrigens, köstliche quesos de almendras! — feiern sie am 8. September das Teufelsfest, und der Teufel rennt krachend und Feuer spuckend über den Dorfplatz. Warum tut er das? Weil die Inselbewohner ihren Cumbre kennen. Weil Krachen und Feuerspucken zum Alltag gehören. Die Intelligenz, der wir das Gewürm verdanken, weiß es ebenfalls. Sie weiß, wie die Insel entstanden ist. — Und wer solche Dinge weiß, kennt im Allgemeinen auch die Schwachstellen.«
Frost ging ein paar Schritte zur Kante des Hangs. Das bröckelige Lavagestein knirschte unter seinen Doc-Martens-Stiefeln. Tief unter ihnen brachen sich glitzernd die Atlantikwellen.
»1949 ist der Cumbre Vieja nochmal so richtig schön zum Leben erwacht, der alte, schlafende Hund, genauer gesagt einer seiner Krater, der Vulkan von San Juan. Mit bloßem Auge ist es kaum auszumachen, aber seitdem durchzieht ein mehrere Kilometer langer Riss den Westhang zu unseren Füßen. Möglicherweise reicht er bis in die untere Struktur La Palmas. Teile des Cumbre Vieja sind damals etwa vier Meter in Richtung Meer abgesackt. Ich habe das Gebiet in den letzten Jahren oft vermessen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Westflanke mit der nächsten Eruption vollends wegbricht, weil einige Gesteinsschichten enorm viel Wasser enthalten. Sobald neue, heiße Magma im Vulkanschlot hochsteigt, wird sich dieses Wasser stoßartig ausdehnen und verdampfen. Der entstehende Druck könnte die instabile Seite mühelos absprengen, außerdem drücken die Ost— und die Südflanke dagegen. Als Folge würden rund 500 Kubikkilometer Gestein abrutschen und ins Meer stürzen.«
»Davon habe ich gelesen«, sagte van Maarten. »Offizielle Vertreter der Kanaren halten die Theorie für fragwürdig.«
»Fragwürdig«, donnerte Frost wie die Posaunen von Jericho, »ist höchstens, dass sie sich in allen offiziellen Verlautbarungen um eine klare Stellungnahme drücken, um keine Touristen zu verschrecken. Der Menschheit wird dieses Kapitel nicht erspart bleiben. Ein paar kleinere Beispiele hat es schon gegeben. 1741 explodierte in Japan der Oshima-Oshima und erzeugte 30 Meter hohe Wellen. Ähnlich hoch waren sie, als 1888 auf Neu Guinea Ritter Island kollabierte, und der damals abgestürzte Fels betrug gerade mal ein Prozent dessen, was wir hier zu erwarten hätten! Der Kilauea auf Hawaii wird schon seit Jahren durch ein Netz von GPS-Stationen überwacht, die jede kleinste Bewegung registrieren, und er bewegt sich! Die Südostflanke rutscht zehn Zentimeter pro Jahr zu Tal, und wehe, wenn sie Fahrt aufnimmt. Das mag sich keiner von uns vorstellen. Nahezu jeder Inselvulkan neigt dazu, mit zunehmendem Alter immer steiler zu werden. Wenn er zu steil wird, bricht ein Teil von ihm ab. Die Regierung von La Palma stellt sich blind und taub. Die Frage ist nicht, dass es passiert, sondern wann es passiert. In hundert Jahren? In tausend? Einzig das wissen wir nicht. Die hiesigen Vulkanausbrüche pflegen sich nicht anzukündigen.«
»Was geschieht, wenn der halbe Berg ins Meer stürzt?«, fragte die Repräsentantin.
»Die Gesteinsmasse wird Unmengen von Wasser verdrängen«, sagte Bohrmann, »die sich immer höher auftürmen. Der Aufprall erfolgt mit schätzungsweise 350 Stundenkilometern. Das Geröll würde 60 Kilometer weit ins offene Meer hineinreichen, wodurch das Wasser nicht einfach über das Gestein zurückfluten kann. Es kommt zur Bildung einer riesigen Luftblase, die noch weit mehr Wasser verdrängt als der abstürzende Fels. Was nun geschieht, darüber gehen die Meinungen tatsächlich ein bisschen auseinander, allerdings gibt keine der Varianten Anlass zu guter Laune. In unmittelbarer Nähe von La Palma wird der Abbruch eine Riesenwelle erzeugen, deren Höhe zwischen 600 und 900 Metern liegen dürfte. Sie rast mit etwa 1000 Stundenkilometern los. Im Gegensatz zu Erdbeben sind Bergstürze und Erdrutsche Punktereignisse. Die Wellen werden sich radial über den Atlantik ausbreiten und ihre Energie verteilen. Je weiter sie sich vom Ausgangspunkt entfernen, desto flacher werden sie.«
»Klingt tröstlich«, murmelte der Technische Leiter.
»Nur bedingt. Die Kanarischen Inseln werden im selben Augenblick ausgelöscht. Eine Stunde nach dem Abbruch trifft ein 100 Meter hoher Tsunami auf die afrikanische West-Sahara-Küste. Zum Vergleich: Der in Nordeuropa hat in den Fjorden 40 Meter erreicht, und das Ergebnis ist bekannt. Sechs bis acht Stunden später überrollt eine 50 Meter hohe Welle die Karibik, verwüstet die Antillen und überschwemmt die Ostküste der USA zwischen New York und Miami. Unmittelbar darauf prallt sie mit gleicher Wucht gegen Brasilien. Kleinere Wellen erreichen Spanien, Portugal und die Britischen Inseln. Die Auswirkungen wären verheerend, auch für Zentraleuropa, wo die komplette Ökonomie zusammenbrechen würde.«
Die De-Beers-Leute wurden blass. Frost grinste in die Runde. »Hat zufällig jemand Deep Impact gesehen?«
»Den Film? Diese Welle war aber doch viel höher«, sagte die Repräsentantin. »Mehrere hundert Meter.«
»Um New York auszulöschen, reichen 50 Meter. Beim Aufprall wird so viel Energie freigesetzt, wie die gesamten Vereinigten Staaten in einem Jahr verbrauchen. Die Höhe der Häuser müssen Sie in Ihrer Betrachtung vernachlässigen, ein Tsunami ist ein Problem für die Fundamente. Der Rest stürzt einfach ein, wie hoch er auch gebaut sein mag. Und keiner von uns ist Bruce Willis, wenn ich das hinzufügen darf.« Er machte eine Pause und zeigte den Hang hinab. »Um die hiesige Westflanke zu destabilisieren, brauchen Sie entweder einen Ausbruch des Cumbre Vieja oder eine unterseeische Rutschung. Daran arbeiten die Würmer. Sozusagen an einer Miniausgabe dessen, was sie in Nordeuropa angerichtet haben, aber es dürfte reichen, um einen Teil der untermeerischen Vulkansäule abrutschen und in die Tiefe stürzen zu lassen. Die Folge wäre ein kleines Erdbeben, genug, um die Statik des Cumbre durcheinander zu bringen. Möglicherweise führt dieses Erdbeben sogar zu einer Eruption, auf alle Fälle wird der Westhang seinen Halt verlieren. So oder so, es wird rappeln. Die Katastrophe wird eintreten. Vor Norwegen haben die Würmer ein paar Wochen gebraucht, hier könnte es schneller gehen.«
»Wie viel Zeit bleibt uns?«
»So gut wie keine. Die raffinierten kleinen Biester haben sich Stellen im Ozean gesucht, auf die man nicht gleich kommt. Sie nutzen die Fortpflanzungsfähigkeit von Impulswellen im offenen Meer. Die Nordsee war ein Treffer, aber so richtig dreckig geht’s der menschlichen Zivilisation erst, wenn am anderen Ende der Welt ein harmlos aussehendes kleines Inselchen kollabiert.«
Van Maarten rieb sich das Kinn.
»Wir haben einen Prototyp des Rüssels gebaut, der auf 300 Meter runtergehen kann. Er funktioniert. Mit größeren Tiefen haben wir bis jetzt keine Erfahrungen gemacht, aber …«
»Wir könnten den Rüssel verlängern«, schlug die Repräsentantin vor.
»Das müssten wir praktisch aus dem Hut zaubern. Aber gut, wenn wir alles andere stoppen … Was mir eher Sorgen bereitet, ist das dazugehörige Schiff.«
»Ich glaube kaum, dass Sie mit einem Schiff auskommen werden«, sagte Bohrmann. »Ein paar Milliarden Würmer ergeben eine gewaltige Biomasse. Die müssen Sie irgendwohin pumpen.«
»Das ist nicht unser Problem. Wir können einen Pendelverkehr einrichten. Ich meine das Schiff, von dem aus wir den Rüssel steuern. Wenn wir ihn auf 400 oder 500 Meter verlängern, müssen wir ihn irgendwo lagern. Das ist ein halber Kilometer Schlauch! Bleischwer und um einiges dicker als ein Tiefseekabel, das Sie einfach in einem Schiffsbauch zusammenrollen können. Außerdem, wenn der Rüssel bewegt wird, muss das Schiff stabil genug sein, um diese Bewegungen auszugleichen. Angriffe sollten uns nicht weiter ängstigen, aber die Hydrostatik birgt ihre Tücken. Sie können den Schlauch nicht einfach backbord oder steuerbord raushängen lassen, ohne die Schwimmstabilität zu gefährden.«
»Also ein Baggerschiff?«
»Nicht in der Größe.« Der Mann überlegte. »Vielleicht ein Bohrschiff? Nein, zu schwerfällig. Besser eine schwimmende Plattform. Wir arbeiten ja schon mit so was. Ein Pontonsystem, am besten eine klassische Halbtaucher-Konstruktion wie in der Offshoretechnik, nur dass wir sie nicht mit Trossen verankern werden, sondern wie ein richtiges Schiff über die See bewegen. Das Ding muss manövrierfähig sein.« Er ging ein Stück abseits und begann etwas von Resonanzfrequenzen und Seegangserregung vor sich hin zu murmeln. Dann kam er zurück. »Ein Halbtaucher ist gut. Höchste Seegangsstabilität, flexibel, der ideale Träger für einen Kranausleger, der ordentlich was stemmen muss. Vor Namibia liegt so ein Ding, das wir schnell umbauen könnten. Es verfügt über 6000-V-Düsenpropeller, und ein paar Seitenstrahler bekommen wir notfalls auch noch angeschraubt.«
»Die Heerema?«, fragte die Geschäftsführerin.
»Richtig.«
»Wollten wir die nicht ausmustern?«
»Schrottreif ist sie nicht. Die Heerema verfügt über zwei Hauptverdrängungskörper, das Deck ruht auf sechs Säulen, also alles, wie es sein muss. Gut, sie stammt von 1978, aber für diesen Zweck dürfte es reichen. Es wäre der schnellste Weg. Wir haben keinen Bohrturm, sondern zwei Kranausleger. Über einen davon werden wir den Schlauch runterlassen. Das Hochpumpen ist ebenfalls kein Problem. Und wir können Schiffe anlanden, um die Würmer fortzuschaffen.«
»Klingt nett«, sagte Frost. »Wann können wir damit rechnen?« »Unter normalen Umständen in einem halben Jahr.« »Und unter diesen?«
»Ich kann nichts versprechen. Sechs bis acht Wochen, wenn wir sofort loslegen.« Der Techniker sah ihn an. »Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht. Wir sind gut in so was. Trotzdem, falls wir es in der Zeit schaffen, betrachten Sie es bitte als ein Wunder.«
Frost nickte. Er sah hinaus auf den Atlantik. Blau und schön lag er vor ihm. Er versuchte sich vorzustellen, wie das Wasser plötzlich sechshundert Meter in die Höhe wuchs.
»Das ist gut«, sagte er. »Wunder sind im Augenblick sehr gefragt.«
DRITTER TEIL
12. August
Samantha Crowe legte ihre Notizen aus der Hand und schaute hinaus.
Der CH-53 Super Stallion ging schnell tiefer. Eine steife Brise rüttelte den 30 Meter langen Transporthubschrauber durch. Er schien auf die helle Plattform im Meer zuzufallen, und Crowe fragte sich, wie ein derart riesiges Ding überhaupt die Meere befahren konnte — und zugleich: Wie kann man auf etwas so Kleinem landen?
950 Kilometer nordöstlich von Island lag die USS Independence LHD-8 über dem Grönländischen Tiefseebecken, eine schwimmende Stadt, fremd und schroff, mit der Ausstrahlung eines Raumgleiters aus Alien. Zwei Hektar Freiheit und 97000 Tonnen Diplomatie, wie es die Navy ausdrückte. Der größte taktische Helikopterträger der Welt würde für die nächsten Wochen ihr Zuhause sein, ihre neue Adresse würde lauten: USS Independence LHD8, 75° nördlicher Breite, 3500 Meter über dem Meeresboden.
Ihr Auftrag: ein Gespräch zu führen. Die Maschine kurvte. Mit Schwung drehte der Super Stallion auf den Landepunkt ein und setzte federnd auf. Durchs Seitenfenster sah sie einen Mann in gelber Arbeitsjacke, der den Helikopter in seine Parkposition winkte. Jemand von der Crew half ihr, die Gurte zu lösen und ihre Ausrüstung abzulegen, den Helm mit Kopfhörern, Rettungsweste, Schutzbrille. Der Flug war rau gewesen, und Crowe fühlte sich wackelig auf den Beinen. Mit unsicheren Schritten verließ sie die Maschine über die Rampe im Heck, trat unter dem Schwanz des Super Stallion hervor und schaute sich um.
Nur wenige Maschinen waren auf dem Flugdeck zu sehen. Die Leere steigerte den surrealen Eindruck. Sie erblickte eine schier endlose asphaltierte Fläche, gesprenkelt mit Befestigungspunkten, 257,25 Meter lang und 32,6 Meter breit. Crowe wusste das sehr genau. Sie war Mathematikerin mit einem Faible für exakte Zahlen, also hatte sie im Vorfeld versucht, so viel wie möglich über die USS Independence herauszubekommen, aber soeben kapitulierte die Theorie vor der Wirklichkeit. Die echte Independence hatte nichts mit Schemazeichnungen und technischen Daten zu tun. Ein schwerer Geruch von Öl und Kerosin lag in der Luft, heißes Gummi und Salz mischten sich hinein, und alles wurde von einem scharfen Wind übers Deck gefegt, der an ihrem Overall zerrte.
Kein Ort, an den man gerne reiste.
Männer in farbigen Jacken und Ohrenschützern liefen umher. Einer kam auf sie zu, während Soldaten ihr Gepäck ins Freie schleppten. Er trug eine weiße Jacke. Crowe versuchte sich zu erinnern. Weiß, das waren die Sicherheitsverantwortlichen. Die Gelben dirigierten die Hubschrauber an Deck, rot Gekleidete sorgten für Treibstoff und Gefechtsmaterial. Gab es nicht auch Braune? Und welche in Lila? Wofür waren die Braunen noch gleich zuständig?
Die Kälte fuhr ihr unter die Haut.
»Folgen Sie mir«, schrie der Mann gegen den Lärm der langsamer werdenden Rotorflügel an. Er zeigte hinüber zu dem einzigen Aufbau des Trägers. Wie ein mehrstöckiger, von überdimensionalen Antennen und Sensoren gekrönter Häuserblock entwuchs er der Steuerbordseite. Crowes Rechte tastete mechanisch zur Hüfte, während sie hinter ihm her ging. Dann fiel ihr ein, dass sie durch den Overall nicht an ihre Zigaretten kam. Auch im Hubschrauber hatte sie nicht rauchen dürfen. Es machte ihr nichts aus, bei windigem Wetter in die Arktis zu fliegen, aber der stundenlange Verzicht auf Nikotin war ganz und gar nicht nach ihrem Geschmack.
Ihr Begleiter öffnete ein Luk. Crowe betrat die Insel, wie der Aufbau im Navy-Jargon hieß. Nachdem sie eine Doppelschleuse passiert hatte, schlug ihr frische, saubere Luft entgegen. Wie eine Höhle wirkte die Insel auf Crowe, erstaunlich eng. Der Deckverantwortliche übergab sie einem hoch gewachsenen Schwarzen in Uniform, der sich als Major Salomon Peak vorstellte. Sie schüttelten einander die Hände. Peak wirkte steif, als sei er den Umgang mit Zivilisten nicht gewohnt. Crowe hatte während der letzten Wochen mehrfach mit ihm konferiert, allerdings nur telefonisch. Sie durchschritten einen winkligen Flur und kletterten über steile, leiterartige Niedergänge tiefer ins Innere des Schiffs, gefolgt von den Soldaten mit dem Gepäck. An einer Wand prangte in großen Lettern LEVEL 02.
»Sie werden sich frisch machen wollen«, sagte Peak und öffnete eine von vielen identisch aussehenden Türen zu beiden Seiten. Dahinter lag ein überraschend geräumiges, ansprechend eingerichtetes Zimmer, mehr eine kleine Suite. Crowe hatte gelesen, dass privater Raum an Bord eines Hubschrauberträgers auf das erträgliche Minimum reduziert war und die Soldaten in Schlafsälen nächtigten. Peak hob die Brauen, als sie eine entsprechende Bemerkung machte.
»Wir würden Sie wohl kaum zu den Marines stecken«, sagte er. Dann umspielte ein Lächeln seine Mundwinkel.
»Auch die Navy weiß, was sie ihren Gästen schuldig ist. Das hier ist Flaggland.«
»Flaggland?«
»Unser Excelsior. Quartiere für Admiräle und ihre Stäbe, wenn welche an Bord kommen. Augenblicklich laufen wir nicht unter voller Besatzung, wir haben also allen Platz der Welt. Die weiblichen Teilnehmer der Expedition sind in Flaggland untergebracht, die männlichen im Offiziersland. Darf ich?« Er ging an ihr vorbei und stieß eine weitere Tür auf. »Eigenes Bad und WC.«
»Ich bin beeindruckt.«
Die Soldaten trugen ihr Gepäck herein.
»Es gibt eine kleine Bar unter dem Fernseher«, sagte Peak. »Nichtalkoholisch. Reicht Ihnen eine halbe Stunde, bis ich Sie zu einem Rundgang abhole?«
»Vollauf.«
Crowe wartete, bis er die Tür hinter sich geschlossen hatte. Hastig ging sie auf die Suche nach einem Aschenbecher. Sie fand ihn in einem Sideboard, wurstelte sich aus dem Overall und kramte nach den Zigaretten in ihrer Sportjacke. Erst als sie dem zerdrückten Päckchen eine entnommen, sie angezündet und den ersten Zug inhaliert hatte, fühlte sie sich wieder wie ein vollständiger Mensch.
Paffend saß sie auf der Bettkante.
Eigentlich war es traurig. Zwei Päckchen am Tag waren verflucht traurig, und auch, dass sie nicht aufhören konnte.
Zweimal hatte sie es versucht. Zweimal nicht geschafft.
Vielleicht wollte sie es auch einfach nicht schaffen.
Nach der zweiten Zigarette ging sie unter die Dusche. Anschließend schlüpfte sie in Jeans, Turnschuhe und Sweatshirt, rauchte noch eine und schaute in sämtliche Schubladen und Schränke. Als es klopfte, hatte sie das Innenleben ihrer Kabine so gründlich studiert, dass sie eine vollständige Inventarliste hätte anfertigen können. Sie wusste eben einfach gern Bescheid.
Vor der Tür stand nicht Peak. Es war Leon Anawak.
»Ich sagte doch, wir sehen uns wieder«, grinste er.
Crowe lachte.
»Und ich sagte, Sie finden Ihre Wale wieder. Schön, Sie zu sehen, Leon. Der Mann, dem ich mein Hiersein verdanke, richtig?«
»Wer sagt das?«
»Li.«
»Ich glaube, Sie wären auch ohne mich hier. Aber ich hab ein bisschen nachgeholfen. Sie müssen wissen, ich habe von Ihnen geträumt.«
»Meine Güte!«
»Keine Bange, Sie erschienen mir als guter Geist. Wie war der Flug?«
»Rumpelig. Ich bin die Letzte, was?«
»Wir anderen sind schon in Norfolk an Bord gegangen.«
»Ja, ich weiß. Aber ich kam einfach nicht weg aus Arecibo. Man soll’s nicht glauben, aber es kann auch Arbeit machen, ein Projekt nicht zu betreiben. SETI ist erst mal eingemottet. Im Moment hat keiner Geld, um den Weltraum nach grünen Männchen abzusuchen.«
»Wir werden vielleicht mehr grüne Männchen finden, als uns lieb ist«, sagte Anawak. »Kommen Sie. Peak wird in einer Minute hier sein. Wir zeigen Ihnen, was die Independence alles drauf hat. Danach sind Sie dran. Alle sind sehr gespannt. Ihren Spitznamen haben Sie übrigens schon weg.«
»Meinen Spitznamen? Wie heiße ich denn?«
»Miss Alien.«
»Du lieber Himmel. Eine Zeit lang nannten mich alle Miss Foster, nachdem Jodie mich in diesem Film gespielt hat.« Crowe schüttelte den Kopf. »Na ja, warum nicht? Hab ich meine Autogrammkarten eingesteckt? Gehen wir, Leon.«
Peak führte sie durch die Welt von LEVEL 02. Sie hatten ihre Wanderung im Vorschiff begonnen und bewegten sich nun wieder in Richtung Mitte. Crowe hatte den riesigen Fitness-Raum im Bug bewundert, vollgestellt mit Laufbändern und Kraftmaschinen und so gut wie leer.
»Normalerweise herrscht hier enormes Gedränge«, sagte Peak. »Die Independence bietet Quartier für dreitausend Mann. Jetzt sind wir nicht mal 200 Leute an Bord.«
Sie spazierten durch den Wohntrakt der jüngeren Offiziere, Abteilungen für je vier bis sechs Mann, mit bequemen Kojen, reichlich Stauraum, Klapptischen und Stühlen.
»Gemütlich«, sagte Crowe.
Peak zuckte die Achseln.
»Ansichtssache. Wenn auf dem Dach richtig Betrieb ist, bekommen Sie so schnell kein Auge zu. Wenige Meter über Ihnen starten und landen Helikopter und Jets. Die größten Probleme haben wir natürlich mit den Neulingen. Zu Anfang sind alle vollkommen übermüdet.«
»Und wann gewöhnt man sich an den Krach?« »Nie. Aber man gewöhnt sich daran, nicht mehr durchzuschlafen. Ich war mehrere Male auf einem Träger, jedes Mal monatelang. Nach einer Weile ist es ganz normal, in einer Art ständiger Bereitschaft dazuliegen. Dafür verlernen Sie, in Ruhe zu schlafen. Die erste Nacht zu Hause ist die Hölle. Sie warten auf das Brüllen von Turbinen, das Aufknallen von Fahrwerk und Befestigungshaken, das Rumrennen in den Gängen, die ständigen Durchsagen, aber stattdessen tickt nur irgendwo ein Wecker.«
Vorbei an der riesigen Messe gelangten sie mittschiffs an ein Schott mit Zahlenschloss. Dahinter lag ein großer, abgedunkelter Raum. Es war der erste Bereich, den Crowe bevölkert sah. Vor Konsolen mit blinkenden Lämpchen saßen Männer und Frauen und starrten auf Großbildschirme, die sich entlang der Wände aneinander reihten.
»Auf LEVEL 02 finden sich die meisten Befehls— und Führungsräume«, erklärte Peak. »Früher war alles im Inselaufbau untergebracht, aber so was birgt Risiken. Die Sucher feindlicher Raketensysteme schalten sich meist auf die heißesten und größten Strukturen eines Schiffes. Dazu gehört natürlich auch die Insel. Ein paar Treffer, und es ist, als ob Ihnen einer den Kopf von den Schultern schießt, also haben wir einen Großteil der Kommandoräume unters Dach verlegt.«
»Dach?«
»Navy-Sprache. Das Flugdeck.«
»Und was genau tun Sie hier?«
»Nun, dieser Raum ist das CIC …«
»Ach ja. Das Combat Information Center.«
Die Augen in dem schmalen Ebenholzgesicht blitzten kurz auf. Crowe lächelte und nahm sich vor, fortan den Mund zu halten.
»Das CIC ist das Nervenzentrum unserer Sensorik«, sagte Peak. »Sämtliche Daten laufen in diesem Raum zusammen, schiffseigene Systeme, Satelliten, alles in Echtzeit, versteht sich. Luft— und Schiffsabwehr, Schadenbehebung, Kommunikation … im Gefechtsfall ist hier der Teufel los. Die leeren Plätze dort drüben, ich schätze, da werden Sie viel Zeit verbringen, Dr. Crowe.«
»Samantha. Oder einfach Sam.«
»Von dort schauen und horchen wir unter Wasser«, fuhr Peak fort, ohne auf ihr Angebot einzugehen. »U-Boot-Überwachung, SOSUS Sonarnetz, Surtass LFA und Verschiedenes mehr. Was immer sich der Independence nähert, wir bekommen es mit.« Peak zeigte auf einen riesigen Monitor unter der Decke. Ein Patchwork von Diagrammen und Karten war darauf zu sehen. »Das Big Picture. Es fasst alle Daten zusammen, die im Schiff auflaufen, und erstellt ein Panorama. Das Gleiche sieht der Skipper auf den Monitoren der Brücke in verkleinerter Form.«
Peak führte sie weiter durch die angrenzenden Räume. Fast alle lagen im Dämmerlicht, nur erleuchtet durch Großschirmanzeigen, Monitore und Displays. An das CIC schloss sich das LFOC an, das Landing Force Operations Center. »Es fungiert als Einsatzzentrale für Landungstruppen. Jede Gefechtseinheit verfügt über ihre eigene Konsole. Satellitenaufnahmen und Aufklärungsflieger zeigen im Ernstfall die Position feindlicher Brigaden an.« Unüberhörbar schwang Stolz in Peaks Stimme mit. »Im LFOC lassen sich blitzschnell Truppen verschieben und Strategien entwickeln. Der Zentralcomputer verbindet den Kommandeur zu jeder Zeit mit seinen Einheiten vor Ort.«
Auf einigen Bildschirmen erkannte Crowe das Flugdeck. Eine Frage drängte sich auf, die Peak vielleicht sauer aufstoßen würde, aber sie stellte sie trotzdem: »Was nützt uns das alles, Major? Unser Feind sitzt in der Tiefsee.«
»Richtig.« Peak sah sie irritiert an. »Dann werden wir von hier aus eben Tiefseeoperationen leiten. Wo ist das Problem?«
»Ich bitte um Verzeihung. Ich war wohl zu lange im Weltraum.«
Anawak grinste. Er hatte sich bisher jeden Kommentars enthalten und trottete einfach mit. Crowe empfand es als wohltuend, ihn dabeizuhaben. Peak zeigte ihnen weitere Kontrollräume. Dem CIC benachbart lag das JIC, das Joint Intelligence Center.
»Die Daten sämtlicher nachrichtendienstlicher Systeme werden hier entschlüsselt und interpretiert«, sagte Peak. »Nichts nähert sich der Independence, was nicht genauestens in Augenschein genommen wurde, und wenn es den Jungs nicht gefällt, wird es abgeschossen.«
»Hohe Verantwortung«, murmelte Crowe.
»Einiges interpretiert der Computer vor. Aber Sie haben natürlich Recht.« Peak machte eine umfassende Handbewegung. »CIC und JIC sind wissenschaftlicher Arbeitsbereich, außerdem laufen pausenlos Nachrichten aus aller Welt ein, flimmern uns CNN und NBC über die Bildschirme und ein Dutzend weiterer relevanter Fernsehsender. Sie werden Zugriff auf jede erdenkliche Information uns sämtliche Datenbanken der Defense Mapping Agency haben. Das heißt, Sie kommen in den Genuss, mit den Tiefseekarten der Navy zu arbeiten — bei weitem genauer als alles, was der freien Forschung zur Verfügung steht.«
Weiter ging es abwärts. Nacheinander besichtigten sie das bordeigene Einkaufszentrum, leere Schlafsäle und Aufenthaltsräume und den riesigen Sanitätsbereich auf LEVEL 03, ein antiseptisches, verlassenes Areal mit 600 Betten, sechs OPs und einer überdimensionierten Intensivstation. Crowe stellte sich vor, was hier in Kriegszeiten los sein musste. Blutende, schreiende Menschen, dahinhastende Ärzte und Schwestern. Zunehmend kam ihr die Independence wie ein Geisterschiff vor — nein, eher eine Geisterstadt. Sie stiegen zurück auf LEVEL 02 und gingen weiter nach achtern, bis sie zu einer Rampe gelangten, breit genug, dass Autos darauf fahren konnten.
»Der Tunnel führt vom Bauch des Schiffes im Zickzack in die Insel«, sagte Peak. »Die Independence ist so konstruiert, dass man sich mit einem Jeep über die strategisch wichtigen Ebenen bewegen kann. Auch die Marines marschieren durch den Tunnel aufs Deck. Wir gehen abwärts.«
Ihre Schritte hallten von den Stahlwänden wider. Crowe fühlte sich an ein Parkhaus erinnert, dann öffnete sich der Rampentunnel zu einem riesigen Hangar. Crowe wusste, dass er mindestens ein Drittel der gesamten Schiffslänge und die Höhe zweier Decks einnahm. Es war zugig hier. Zu beiden Seiten öffneten sich gewaltige Hangartore und führten auf außen liegende Plattformen. Fahlgelbe Beleuchtung mischte sich mit dem eindringenden Tageslicht zu einer diffusen Stimmung. Zwischen den Seitenspanten lagen kleine, verglaste Büros und Kontrollpunkte. Ein schienenartiges Beförderungssystem mit Haken zog sich die Decke entlang. Crowe sah große Gabelstapler und zwei Hummer-Geländefahrzeuge im Hintergrund.
»Im Allgemeinen steht das Hangardeck voller Fluggerät«, meinte Peak. »Aber auf dieser Mission kommen wir mit den sechs Super-Stallion -Helikoptern aus, die auf dem Dach geparkt sind. Jeder evakuiert im Notfall fünfzig Personen. Außerdem haben wir zwei Super-Cobra- Kampfhubschrauber für schnelle Einsätze an Bord.« Er zeigte auf die torartigen Durchlässe zu beiden Seiten. »Die Außenplattformen sind Lifts, mit denen wir gewöhnlich Fluggerät von hier aufs Dach fahren. Jeder trägt über 30 Tonnen.«
Crowe trat zum Hangartor auf der Steuerbordseite und sah hinaus aufs Meer. Grau und eisig erstreckte es sich bis zu einem leeren Horizont. Eisberge verirrten sich selten in diese Gegend. Der Ostgrönlandstrom trieb sie die Küste entlang, mehr als 300 Kilometer entfernt. Hier zogen nur gelegentlich Felder matschigen Treibeises durch.
Anawak gesellte sich neben sie.
»Eine von vielen möglichen Welten, stimmt’s?«
Crowe nickte stumm.
»Gibt es unter Ihren Szenarien für außerirdische Zivilisationen auch eine Unterwasservariante?«
»Wir haben alles im Repertoire, Leon. Sie werden lachen, aber wenn ich über außerirdische Lebensformen nachdenke, schaue ich zuallererst auf unseren Planeten. Ich schaue in die Tiefsee und ins Erdinnere, zu den Polen, in die Luft. Solange Sie Ihre eigene Welt nicht kennen, können Sie sich von anderen keine Vorstellung machen.«
Anawak nickte. »Ich denke, das ist unser größtes Problem.«
Sie folgten Peak die Rampe abwärts. Sie verband die Ebenen wie ein riesiges Treppenhaus. Der Tunnel mündete in einen ebenerdigen Flur, der ins Heck führte. Sie waren nun tief im Herzen der Independence. Seitlich stand ein Schott offen, aus dem kaltes Kunstlicht drang. Beim Eintreten erkannte Crowe die Biologin, mit der sie im Verlauf der letzten Wochen über Videotelefon gesprochen hatte. Sue Oliviera stand an einem von mehreren Labortischen im Gespräch mit zwei Männern, die sich als Sigur Johanson und Mick Rubin vorstellten.
Das komplette Deck schien zu einem Labor umfunktioniert worden zu sein. Tische und Gerätschaften waren inselartig gruppiert. Crowe sah Wasserbecken und Kühltruhen. Zwei große, miteinander verbundene Container waren mit Biohazard-Warnschildern gekennzeichnet, offenbar ein Hochsicherheitstrakt. Dazwischen erhob sich etwas von den Ausmaßen eines kleinen Hauses, umspannt von einem Rundlauf. Stählerne Steigleitern führten hinauf. Dicke Rohre und Kabelstränge verbanden die Wände des Kastens mit schrankartigen Apparaturen. Ein großes, ovales Fenster bot Einblick ins diffus beleuchtete Innere, das mit Wasser gefüllt zu sein schien.
»Sie haben ein Aquarium an Bord?«, fragte Crowe. »Wie hübsch.«
»Ein Tiefseesimulator«, erklärte Oliviera. »Das Original steht in Kiel. Um einiges größer. Dafür hat dieser hier ein Panoramafenster aus Panzerglas. Der Druck im Innern würde Sie umbringen, andere hält er am Leben. Augenblicklich bevölkern ein paar Hundert weiße Krabben den Tank, die vor Washington gefangen und sofort in Hochdruckbehälter verfrachtet wurden. Es ist das erste Mal, dass es uns gelungen ist, die Gallerte am Leben zu halten. Zumindest glauben wir das. Sie hat sich bislang nicht blicken lassen, aber wir sind sicher, dass sie in diesen Krabben steckt und sie steuert.«
»Faszinierend«, sagte Crowe. »Aber der Simulator ist nicht nur wegen der Krabben an Bord, oder?«
Johanson lächelte geheimnisvoll. »Man weiß nie, was einem ins Netz geht.«
»Also ein Kriegsgefangenenlager.«
»Kriegsgefangenenlager!« Rubin lachte. »Gute Idee.«
Crowe sah sich um. Die Halle war nach allen Seiten hermetisch abgeschlossen.
»Ist das hier nicht üblicherweise ein Fahrzeugdeck?«, fragte sie.
Peak hob die Brauen. »Ja. Wenn wir dieses Schott durchqueren, gelangen wir in die hintere Hälfte der Independence und haben den Flugzeughangar über uns. Sie haben viel gelesen, kann das sein?«
»Ich bin neugierig«, sagte Crowe bescheiden.
»Bleibt zu hoffen, dass Sie Ihre Neugier in Erkenntnisse umsetzen.«
»Was für ein Muffel«, flüsterte Crowe Anawak zu, während sie das Labor verließen und dem ebenerdigen Tunnel ins Heck folgten.
Akesuk zuckte die Achseln und grinste. »Einer muss sich ja um geistlichen Beistand kümmern«, sagte er. »Schau mal!«
In einiger Entfernung hatte sich ein riesiger Polarbär über die letzten Reste des Narwals hergemacht und die Vögel aufgescheucht. Sie stoben um ihn herum oder trippelten in respektvoller Entfernung übers Eis. Ein Sturmvogel stieß immer wieder auf den Eindringling herab. Der Bär zeigte sich unbeeindruckt. Er war weit genug vom Camp entfernt, dass der Wachposten keinen Warnruf auszustoßen brauchte, aber der Mann hatte das Gewehr hochgenommen und sah aufmerksam zu der Stelle hinüber.
»Nanuq«, sagte Akesuk. »Er riecht alles. Auch uns.«
Anawak beobachtete den Bären beim Fressen. Er empfand keine Angst. Nach einer Weile verlor der Koloss das Interesse und machte sich behäbig davon. Einmal drehte er sich um, äugte neugierig zum Camp herüber und verschwand schließlich hinter einer Barriere aus Packeis.
»Wie gemütlich er sich gibt«, flüsterte der Onkel. »Aber er kann laufen, Junge! Er kann laufen!« Akesuk kicherte, griff in seinen Anorak und brachte eine kleine Skulptur zum Vorschein, die er Anawak in den Schoß legte. »Darauf habe ich gewartet. Weißt du, jedes Geschenk braucht seine Zeit. Vielleicht ist jetzt der richtige Moment, dir das zu geben.«
Anawak nahm die Plastik und betrachtete sie. Ein menschliches Gesicht mit Federhaaren, dessen Hinterkopf in einen Vogelkörper auslief.
»Ein Vogelgeist?«
»Ja.« Akesuk nickte. »Toonoo Sharky hat ihn gemacht, ein Nachbar von mir. Ganz angesehener Künstler mittlerweile, hat es bis ins Museum of Modern Arts geschafft. Nimm ihn. Dir steht vieles bevor. Du wirst ihn brauchen, Junge. Er wird deine Gedanken in die richtige Richtung lenken, wenn es so weit ist.«
»Wenn was so weit ist?«
»Dein Bewusstsein wird fliegen.« Akesuk formte die Hände zu Schwingen, ließ sie flattern und grinste. »Aber du bist lange fort gewesen von hier. Ein bisschen aus der Übung. Vielleicht brauchst du einen Mittler, der dir verrät, was der Vogelgeist sieht.«
»Du sprichst in Rätseln.«
»Das ist das Privileg der Schamanen.«
Ein Vogel strich über sie hinweg.
»Eine Rosenmöwe«, lachte Akesuk. »Na, du hast wirklich Glück, Leon, wirklich Glück! Wusstest du, dass jedes Jahr Tausende Vogelliebhaber aus aller Welt anreisen, nur um diese Möwe zu sehen? So selten ist sie. — Nein, du solltest dich nicht sorgen, wirklich nicht. Die Geister haben dir ein Zeichen gesandt.«
Später, als sie endlich in ihre Schlafsäcke gefunden hatten, lag Anawak noch eine Weile wach. Die nächtliche Sonne erhellte die Zeltwand. Einmal hörte er den Ruf der Bärenwache: »Nanuq, Nanuq!« Er dachte an das tiefe, schwarze Nordpolarmeer unter sich, und seine Gedanken, körperlos, schienen durch die Eisdecke hinabzusinken in die unbekannte Welt. Ruhig atmend trieb er auf einer See aus Schlaf dahin und schließlich auf dem Plateau eines gewaltigen Eisbergs, geboren im grönländischen Gletscher, herübergetrieben an die Ostküste von Bylot Island, festgehalten von der zufrierenden See und endlich dem aufbrechenden Eis wieder entrissen von Wind und Wellen und nach Süden getrieben. In seinem Traum stieg Anawak über einen schmalen, verschneiten Pfad bis zum Gipfel des Berges und sah, dass sich dort ein smaragdgrüner Binnensee aus Schmelzwasser gebildet hatte. So weit das Auge reichte, erstreckte sich spiegelglattes, blaues Meer. Der Eisberg würde zerfließen, und er würde hinabsinken in diese stille See zum Urgrund allen Lebens, wo ein Rätsel darauf wartete, gelöst zu werden.
Und vielleicht ein Schamane, ihm dabei zu helfen.
24. Mai
Frost
Frost war wie üblich anderer Meinung.
Die Hauptmethanvorkommen lagerten nach Einschätzung der rohstofffördernden Industrie im Pazifik entlang der Westküste Nordamerikas und vor Japan, außerdem im Ochotskischen Meer sowie im Beringmeer und weiter nördlich in der Beaufortsee. Im Atlantik hatten die USA das meiste davon vor der Haustür. Es gab größere Vorkommen in der Karibik und vor Venezuela und starke Konzentrationen im Gebiet der Drake-Straße zwischen Südamerika und der Antarktis. Auch von den norwegischen Hydraten hatte man gewusst, und ebenso bekannt war die Existenz von Lagerstätten im östlichen Mittelmeer und im Schwarzen Meer.
Nur vor der Nordwestküste Afrikas waren sie offenbar dünn gesät. Ganz besonders im Umfeld der Kanarischen Inseln.
Und das wollte Frost nicht einleuchten.
Denn dort stieg kaltes Wasser aus der Tiefe hoch, beladen mit Nährstoffen für Planktonalgen, die ihrerseits wiederum die Grundlagen für die exzellenten kanarischen Fischgründe schufen. Daran gemessen hätten im Gebiet der Kanaren sogar sehr große Hydratmengen lagern müssen — überall, wo organisches Leben in großer Vielfalt vorkam, bildete sich früher oder später Methan in der Tiefsee.
Das Problem mit den Kanaren war, dass sich die verwesenden Reste der Lebewesen nirgendwo absetzen konnten. Nachdem die Inseln Jahrmillionen zuvor aus Vulkanen entstanden waren, ragten sie steil wie Türme vom Meeresboden in die Höhe: Teneriffa, Gran Canaria, La Palma, Gomera und Ferro. Sie alle wuchsen aus Tiefen zwischen drei und dreieinhalb Kilometern zur Oberfläche, vulkanische Felsnadeln, an denen Sedimente und organische Rückstände einfach vorbeitrudelten, anstatt sich festzusetzen. Die gängigen Karten verzeichneten darum im Gebiet der Kanaren gar keine Methanvorkommen. Was nach Ansicht von Stanley Frost die erste Fehlannahme war.
Zweitens ahnte er, dass die Vulkankegel, als deren Spitzen die Inseln aus der See ragten, längst nicht so steil waren, wie es allgemein hieß. Natürlich waren sie steil, aber nicht glatt und senkrecht wie Häuserwände. Frost hatte sich hinreichend mit der Entstehung und dem Wachstum von Vulkanen beschäftigt, um zu wissen, dass selbst der steilste Kegel Grate und Terrassen aufwies. Er war der festen Überzeugung, dass rund um die Inseln eine ganze Menge Methan lagerte und dass bis jetzt lediglich keiner so genau nachgesehen hatte. Dieses Hydrat würde nicht in großen Brocken vorkommen, aber das Gestein als Netz feiner Äderchen durchziehen. Auf den sedimentbedeckten Graten hatte es sich auf alle Fälle angelagert.
Da er zwar Vulkanologe, aber kein Experte für Hydrate war, hatte er im Chateau Gerhard Bohrmann zu Rate gezogen. Sie waren übereingekommen, der Sache auf den Grund zu gehen. Frost hatte daraufhin eine Liste von Inseln erstellt, die ihm gefährdet erschienen. Dazu gehörten außer La Palma auch Hawaii, die Kapverden, Tristan de Cunha weiter südlich und Réunion im Indischen Ozean. Jede davon war eine potenzielle Zeitbombe, aber La Palma war und blieb ohne Beispiel. Wenn zutraf, was Frost befürchtete, und diese Wesen in der Tiefsee tatsächlich so schlau waren, wie der norwegische Professor meinte, hing die Cumbre-Vieja-Vulkankette auf La Palma über Millionen Menschen wie ein zweitausend Meter hohes Damoklesschwert.
Dank Bohrmanns Bemühungen erhielten Frost und sein Team die berühmte Polarstern für ihre Expedition. Das deutsche Forschungsschiff hatte ebenso wie die Sonne einen Victor 6000 an Bord. Die Polarstern war groß genug, dass ihr Wale nicht gefährlich werden konnten, und außerdem mit Unterwasserkameras nachgerüstet worden, um Angriffe durch Muschelschwärme, Medusen oder andere Organismen rechtzeitig erkennen zu können. Frost hatte keine Vorstellung davon, ob er den Victor je wieder sehen würde, wenn er ihn einmal hinuntergelassen hatte, nachdem dort unten alles Mögliche verschwand. Es war ein Versuch auf gut Glück, aber niemand sperrte sich dagegen.
Der Victor tauchte an der Westseite von La Palma. Die Polarstern lag in Sichtweite vom Festland, als er runterging. Der Roboter suchte die steile Flanke des Vulkankegels systematisch ab, bis er in knapp 400 Metern Tiefe auf eine Anordnung überkragender Terrassen stieß, die wie Balkone aus der Wand standen und weitflächige Sedimentbedeckungen aufwiesen.
Dort fand er die Hydratvorkommen, die Frost vorausgesagt hatte. Sie verschwanden unter wimmelnden, rosaweißen Leibern mit Zangenkiefern.
8. Juni
La Palma, Kanaren, vor Westafrika
»Warum arbeiten diese Würmer so eifrig am Fundament einer Ferieninsel, wo sie doch vor Japan oder vor unserer Haustür viel mehr anrichten könnten?«, sagte Frost. »Ich meine, die Ostsee war ein Ballungsraum. Die amerikanische Ostküste und Honshu sind es auch, aber da reichen die Wurmpopulationen bei weitem noch nicht aus, um es richtig rappeln zu lassen. Und jetzt entdecken wir sie hier. Vor einer Urlaubsinsel im afrikanischen Westen. Also was soll das alles? Machen die Viecher Urlaub?«
Er stand, wie gewohnt mit Baseballkappe und Ölarbeiteroverall angetan, hoch oben an der Westseite des Zentralgebirges, das sich über die gesamte Insel zog. Während die Felsen im Norden den berühmten Erosionskrater Caldera de Taburiente umschlossen, setzte sich der Gebirgskamm mit unzähligen Vulkanen bis zur Südspitze fort.
Frost war in Begleitung von Bohrmann und zwei Repräsentanten der De-Beers-Unternehmensgruppe, einer Geschäftsführerin und einem Technischen Leiter mit Namen Jan van Maarten. Der Hubschrauber parkte ein Stück abseits der Sandpiste, auf der sie standen. Sie überblickten eine begrünte Kraterlandschaft von beeindruckender Schönheit. Ein Kegel reihte sich an den nächsten. Schwarze Lavafelder wälzten sich hinab zur Küste, gesprenkelt mit erstem zarten Grün. Die Vulkane La Palmas spuckten nicht regelmäßig Lava, allerdings konnte der nächste Ausbruch jederzeit bevorstehen. Erdgeschichtlich waren die Inseln junges Land. Erst 1971 war im äußersten Süden ein neuer Vulkan entstanden, der Teneguia, der die Insel um einige Hektar vergrößert hatte. Genau genommen bildete der komplette Kamm einen einzigen großen Vulkan mit vielen Auslässen, weshalb man bei Ausbrüchen meist einfach nur vom Cumbre Vieja sprach.
»Die Frage ist«, sagte Bohrmann, »wo man ansetzen muss, um den meisten Schaden anzurichten.«
»Sie glauben tatsächlich, da hat sich jemand solche Gedanken gemacht?« Die Geschäftsführerin runzelte die Stirn.
»Es ist alles hypothetisch«, sagte Frost. »Aber wenn wir voraussetzen, dass ein intelligenter Geist dahinter steckt, geht er strategisch sehr geschickt vor. Nach dem Desaster in der Nordsee hat natürlich jeder angenommen, das nächste Unheil drohe in unmittelbarer Nähe dicht besiedelter Küsten und Industrielandschaften. Und tatsächlich haben wir Würmer dort gefunden, aber in eher kleiner Anzahl. Daraus könnte man schließen, dass die Truppenstärke des Feindes, um es mal so zu nennen, nachgelassen hat. Oder dass er Zeit braucht, um mehr von diesen Würmern zu produzieren. Man lenkt unsere Aufmerksamkeit ständig auf die falschen Punkte. Gerhard und ich sind mittlerweile der Überzeugung, dass diese halbherzigen Invasionen vor Nordamerika und Japan Ablenkungsmanöver sind.«
»Aber was bringt es, die Hydrate vor La Palma zu zerstören?«, fragte die Frau. »Hier ist ja nun tatsächlich nicht viel los.«
Die De-Beers-Leute waren ins Spiel gekommen, als Frost und Bohrmann auf die Suche nach einem schon existierenden System gegangen waren, mit dem man die Eis fressenden Würmer absaugen konnte. Vor Namibia und Südafrika wurde der Meeresboden seit Jahrzehnten nach Diamanten abgesucht. Mehrere Gesellschaften waren daran beteiligt, allen voran der internationale Diamantenriese De Beers, der von Schiffen und seegestützten Plattformen aus bis in Tiefen von 180 Metern baggerte. Vor einigen Jahren hatte De Beers begonnen, neue Konzepte zu entwickeln, die tiefer kamen, ferngesteuerte Unterwasser-Bulldozer mit Saugrüsseln, die Sand und Gestein durch Rohrleitungen in Begleitschiffe pumpten. Eine der jüngsten Entwicklungen sah ein flexibles System vor, das völlig ohne Grundgefährt auskam — ein ferngesteuerter Saugrüssel, der auch an Steilhängen operieren konnte. Theoretisch war das System in der Lage, bis in Tiefen von mehreren tausend Metern vorzustoßen, aber dafür musste man den Rüssel überhaupt erst mal in einer solchen Länge bauen.
Der Stab hatte beschlossen, die mit dem Projekt befasste Gruppe auf Seiten des Diamantenkonzerns einzuweihen. Die beiden De-Beers-Vertreter wussten zu diesem Zeitpunkt nur, dass ihr System vor dem Hintergrund der weltweiten Naturkatastrophen eine wichtige Rolle spielen könnte und dass man sehr schnell einen Saugrüssel von mehreren Hundert Meter Länge benötigen würde. Frost hatte vorgeschlagen, auf den Cumbre zu fliegen, weil er den Leuten ein möglichst klares Bild dessen vermitteln wollte, was auf die Menschheit zukommen würde, wenn die Mission scheiterte.
»Täuschen Sie sich nicht«, sagte er. »Hier ist jede Menge los.«
Sein Haar, das unordentlich unter der Kappe hervorkringelte, zitterte im kühlen Passatwind. Der Himmel spiegelte sich in seiner getönten Brille. Er glich wie üblich einer Mischung aus Fred Feuerstein und Terminator, wie er da stand, und seine Stimme donnerte mitten hinein in die Stille des Hangs mit seinen friedlichen Kiefernhainen, als wolle er die nächsten zehn Gebote verteilen.
»Wir stehen hier, weil der Vulkanismus die Kanaren vor zwei Millionen Jahren ins Meer gespien hat. Alles hier macht einen sehr idyllischen Eindruck, aber das täuscht. Unten in Tijarafe — hübsches kleines Nest übrigens, köstliche quesos de almendras! — feiern sie am 8. September das Teufelsfest, und der Teufel rennt krachend und Feuer spuckend über den Dorfplatz. Warum tut er das? Weil die Inselbewohner ihren Cumbre kennen. Weil Krachen und Feuerspucken zum Alltag gehören. Die Intelligenz, der wir das Gewürm verdanken, weiß es ebenfalls. Sie weiß, wie die Insel entstanden ist. — Und wer solche Dinge weiß, kennt im Allgemeinen auch die Schwachstellen.«
Frost ging ein paar Schritte zur Kante des Hangs. Das bröckelige Lavagestein knirschte unter seinen Doc-Martens-Stiefeln. Tief unter ihnen brachen sich glitzernd die Atlantikwellen.
»1949 ist der Cumbre Vieja nochmal so richtig schön zum Leben erwacht, der alte, schlafende Hund, genauer gesagt einer seiner Krater, der Vulkan von San Juan. Mit bloßem Auge ist es kaum auszumachen, aber seitdem durchzieht ein mehrere Kilometer langer Riss den Westhang zu unseren Füßen. Möglicherweise reicht er bis in die untere Struktur La Palmas. Teile des Cumbre Vieja sind damals etwa vier Meter in Richtung Meer abgesackt. Ich habe das Gebiet in den letzten Jahren oft vermessen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Westflanke mit der nächsten Eruption vollends wegbricht, weil einige Gesteinsschichten enorm viel Wasser enthalten. Sobald neue, heiße Magma im Vulkanschlot hochsteigt, wird sich dieses Wasser stoßartig ausdehnen und verdampfen. Der entstehende Druck könnte die instabile Seite mühelos absprengen, außerdem drücken die Ost— und die Südflanke dagegen. Als Folge würden rund 500 Kubikkilometer Gestein abrutschen und ins Meer stürzen.«
»Davon habe ich gelesen«, sagte van Maarten. »Offizielle Vertreter der Kanaren halten die Theorie für fragwürdig.«
»Fragwürdig«, donnerte Frost wie die Posaunen von Jericho, »ist höchstens, dass sie sich in allen offiziellen Verlautbarungen um eine klare Stellungnahme drücken, um keine Touristen zu verschrecken. Der Menschheit wird dieses Kapitel nicht erspart bleiben. Ein paar kleinere Beispiele hat es schon gegeben. 1741 explodierte in Japan der Oshima-Oshima und erzeugte 30 Meter hohe Wellen. Ähnlich hoch waren sie, als 1888 auf Neu Guinea Ritter Island kollabierte, und der damals abgestürzte Fels betrug gerade mal ein Prozent dessen, was wir hier zu erwarten hätten! Der Kilauea auf Hawaii wird schon seit Jahren durch ein Netz von GPS-Stationen überwacht, die jede kleinste Bewegung registrieren, und er bewegt sich! Die Südostflanke rutscht zehn Zentimeter pro Jahr zu Tal, und wehe, wenn sie Fahrt aufnimmt. Das mag sich keiner von uns vorstellen. Nahezu jeder Inselvulkan neigt dazu, mit zunehmendem Alter immer steiler zu werden. Wenn er zu steil wird, bricht ein Teil von ihm ab. Die Regierung von La Palma stellt sich blind und taub. Die Frage ist nicht, dass es passiert, sondern wann es passiert. In hundert Jahren? In tausend? Einzig das wissen wir nicht. Die hiesigen Vulkanausbrüche pflegen sich nicht anzukündigen.«
»Was geschieht, wenn der halbe Berg ins Meer stürzt?«, fragte die Repräsentantin.
»Die Gesteinsmasse wird Unmengen von Wasser verdrängen«, sagte Bohrmann, »die sich immer höher auftürmen. Der Aufprall erfolgt mit schätzungsweise 350 Stundenkilometern. Das Geröll würde 60 Kilometer weit ins offene Meer hineinreichen, wodurch das Wasser nicht einfach über das Gestein zurückfluten kann. Es kommt zur Bildung einer riesigen Luftblase, die noch weit mehr Wasser verdrängt als der abstürzende Fels. Was nun geschieht, darüber gehen die Meinungen tatsächlich ein bisschen auseinander, allerdings gibt keine der Varianten Anlass zu guter Laune. In unmittelbarer Nähe von La Palma wird der Abbruch eine Riesenwelle erzeugen, deren Höhe zwischen 600 und 900 Metern liegen dürfte. Sie rast mit etwa 1000 Stundenkilometern los. Im Gegensatz zu Erdbeben sind Bergstürze und Erdrutsche Punktereignisse. Die Wellen werden sich radial über den Atlantik ausbreiten und ihre Energie verteilen. Je weiter sie sich vom Ausgangspunkt entfernen, desto flacher werden sie.«
»Klingt tröstlich«, murmelte der Technische Leiter.
»Nur bedingt. Die Kanarischen Inseln werden im selben Augenblick ausgelöscht. Eine Stunde nach dem Abbruch trifft ein 100 Meter hoher Tsunami auf die afrikanische West-Sahara-Küste. Zum Vergleich: Der in Nordeuropa hat in den Fjorden 40 Meter erreicht, und das Ergebnis ist bekannt. Sechs bis acht Stunden später überrollt eine 50 Meter hohe Welle die Karibik, verwüstet die Antillen und überschwemmt die Ostküste der USA zwischen New York und Miami. Unmittelbar darauf prallt sie mit gleicher Wucht gegen Brasilien. Kleinere Wellen erreichen Spanien, Portugal und die Britischen Inseln. Die Auswirkungen wären verheerend, auch für Zentraleuropa, wo die komplette Ökonomie zusammenbrechen würde.«
Die De-Beers-Leute wurden blass. Frost grinste in die Runde. »Hat zufällig jemand Deep Impact gesehen?«
»Den Film? Diese Welle war aber doch viel höher«, sagte die Repräsentantin. »Mehrere hundert Meter.«
»Um New York auszulöschen, reichen 50 Meter. Beim Aufprall wird so viel Energie freigesetzt, wie die gesamten Vereinigten Staaten in einem Jahr verbrauchen. Die Höhe der Häuser müssen Sie in Ihrer Betrachtung vernachlässigen, ein Tsunami ist ein Problem für die Fundamente. Der Rest stürzt einfach ein, wie hoch er auch gebaut sein mag. Und keiner von uns ist Bruce Willis, wenn ich das hinzufügen darf.« Er machte eine Pause und zeigte den Hang hinab. »Um die hiesige Westflanke zu destabilisieren, brauchen Sie entweder einen Ausbruch des Cumbre Vieja oder eine unterseeische Rutschung. Daran arbeiten die Würmer. Sozusagen an einer Miniausgabe dessen, was sie in Nordeuropa angerichtet haben, aber es dürfte reichen, um einen Teil der untermeerischen Vulkansäule abrutschen und in die Tiefe stürzen zu lassen. Die Folge wäre ein kleines Erdbeben, genug, um die Statik des Cumbre durcheinander zu bringen. Möglicherweise führt dieses Erdbeben sogar zu einer Eruption, auf alle Fälle wird der Westhang seinen Halt verlieren. So oder so, es wird rappeln. Die Katastrophe wird eintreten. Vor Norwegen haben die Würmer ein paar Wochen gebraucht, hier könnte es schneller gehen.«
»Wie viel Zeit bleibt uns?«
»So gut wie keine. Die raffinierten kleinen Biester haben sich Stellen im Ozean gesucht, auf die man nicht gleich kommt. Sie nutzen die Fortpflanzungsfähigkeit von Impulswellen im offenen Meer. Die Nordsee war ein Treffer, aber so richtig dreckig geht’s der menschlichen Zivilisation erst, wenn am anderen Ende der Welt ein harmlos aussehendes kleines Inselchen kollabiert.«
Van Maarten rieb sich das Kinn.
»Wir haben einen Prototyp des Rüssels gebaut, der auf 300 Meter runtergehen kann. Er funktioniert. Mit größeren Tiefen haben wir bis jetzt keine Erfahrungen gemacht, aber …«
»Wir könnten den Rüssel verlängern«, schlug die Repräsentantin vor.
»Das müssten wir praktisch aus dem Hut zaubern. Aber gut, wenn wir alles andere stoppen … Was mir eher Sorgen bereitet, ist das dazugehörige Schiff.«
»Ich glaube kaum, dass Sie mit einem Schiff auskommen werden«, sagte Bohrmann. »Ein paar Milliarden Würmer ergeben eine gewaltige Biomasse. Die müssen Sie irgendwohin pumpen.«
»Das ist nicht unser Problem. Wir können einen Pendelverkehr einrichten. Ich meine das Schiff, von dem aus wir den Rüssel steuern. Wenn wir ihn auf 400 oder 500 Meter verlängern, müssen wir ihn irgendwo lagern. Das ist ein halber Kilometer Schlauch! Bleischwer und um einiges dicker als ein Tiefseekabel, das Sie einfach in einem Schiffsbauch zusammenrollen können. Außerdem, wenn der Rüssel bewegt wird, muss das Schiff stabil genug sein, um diese Bewegungen auszugleichen. Angriffe sollten uns nicht weiter ängstigen, aber die Hydrostatik birgt ihre Tücken. Sie können den Schlauch nicht einfach backbord oder steuerbord raushängen lassen, ohne die Schwimmstabilität zu gefährden.«
»Also ein Baggerschiff?«
»Nicht in der Größe.« Der Mann überlegte. »Vielleicht ein Bohrschiff? Nein, zu schwerfällig. Besser eine schwimmende Plattform. Wir arbeiten ja schon mit so was. Ein Pontonsystem, am besten eine klassische Halbtaucher-Konstruktion wie in der Offshoretechnik, nur dass wir sie nicht mit Trossen verankern werden, sondern wie ein richtiges Schiff über die See bewegen. Das Ding muss manövrierfähig sein.« Er ging ein Stück abseits und begann etwas von Resonanzfrequenzen und Seegangserregung vor sich hin zu murmeln. Dann kam er zurück. »Ein Halbtaucher ist gut. Höchste Seegangsstabilität, flexibel, der ideale Träger für einen Kranausleger, der ordentlich was stemmen muss. Vor Namibia liegt so ein Ding, das wir schnell umbauen könnten. Es verfügt über 6000-V-Düsenpropeller, und ein paar Seitenstrahler bekommen wir notfalls auch noch angeschraubt.«
»Die Heerema?«, fragte die Geschäftsführerin.
»Richtig.«
»Wollten wir die nicht ausmustern?«
»Schrottreif ist sie nicht. Die Heerema verfügt über zwei Hauptverdrängungskörper, das Deck ruht auf sechs Säulen, also alles, wie es sein muss. Gut, sie stammt von 1978, aber für diesen Zweck dürfte es reichen. Es wäre der schnellste Weg. Wir haben keinen Bohrturm, sondern zwei Kranausleger. Über einen davon werden wir den Schlauch runterlassen. Das Hochpumpen ist ebenfalls kein Problem. Und wir können Schiffe anlanden, um die Würmer fortzuschaffen.«
»Klingt nett«, sagte Frost. »Wann können wir damit rechnen?« »Unter normalen Umständen in einem halben Jahr.« »Und unter diesen?«
»Ich kann nichts versprechen. Sechs bis acht Wochen, wenn wir sofort loslegen.« Der Techniker sah ihn an. »Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht. Wir sind gut in so was. Trotzdem, falls wir es in der Zeit schaffen, betrachten Sie es bitte als ein Wunder.«
Frost nickte. Er sah hinaus auf den Atlantik. Blau und schön lag er vor ihm. Er versuchte sich vorzustellen, wie das Wasser plötzlich sechshundert Meter in die Höhe wuchs.
»Das ist gut«, sagte er. »Wunder sind im Augenblick sehr gefragt.«
DRITTER TEIL
INDEPENDENCE
Ich bin der Überzeugung, dass es — ebenso wie mathematische Grundregeln — universelle, vom Menschen unabhängige Rechte und Werte gibt, allen voran das Recht auf Leben. Das Dilemma ist, wo stehen sie geschrieben? Und wer anders könnte sie verleihen als der Mensch? Wir mögen akzeptieren, dass außerhalb unserer Wahrnehmung Rechte und Werte existieren, aber wir können uns nicht außerhalb unserer Wahrnehmung stellen. Es ist, als solle die Katze darüber befinden, ob Mäuse gefressen werden dürfen oder nicht.
Leon Anawak, aus »Selbsterkenntnis und Bewusstsein«
12. August
Grönländische See
Samantha Crowe legte ihre Notizen aus der Hand und schaute hinaus.
Der CH-53 Super Stallion ging schnell tiefer. Eine steife Brise rüttelte den 30 Meter langen Transporthubschrauber durch. Er schien auf die helle Plattform im Meer zuzufallen, und Crowe fragte sich, wie ein derart riesiges Ding überhaupt die Meere befahren konnte — und zugleich: Wie kann man auf etwas so Kleinem landen?
950 Kilometer nordöstlich von Island lag die USS Independence LHD-8 über dem Grönländischen Tiefseebecken, eine schwimmende Stadt, fremd und schroff, mit der Ausstrahlung eines Raumgleiters aus Alien. Zwei Hektar Freiheit und 97000 Tonnen Diplomatie, wie es die Navy ausdrückte. Der größte taktische Helikopterträger der Welt würde für die nächsten Wochen ihr Zuhause sein, ihre neue Adresse würde lauten: USS Independence LHD8, 75° nördlicher Breite, 3500 Meter über dem Meeresboden.
Ihr Auftrag: ein Gespräch zu führen. Die Maschine kurvte. Mit Schwung drehte der Super Stallion auf den Landepunkt ein und setzte federnd auf. Durchs Seitenfenster sah sie einen Mann in gelber Arbeitsjacke, der den Helikopter in seine Parkposition winkte. Jemand von der Crew half ihr, die Gurte zu lösen und ihre Ausrüstung abzulegen, den Helm mit Kopfhörern, Rettungsweste, Schutzbrille. Der Flug war rau gewesen, und Crowe fühlte sich wackelig auf den Beinen. Mit unsicheren Schritten verließ sie die Maschine über die Rampe im Heck, trat unter dem Schwanz des Super Stallion hervor und schaute sich um.
Nur wenige Maschinen waren auf dem Flugdeck zu sehen. Die Leere steigerte den surrealen Eindruck. Sie erblickte eine schier endlose asphaltierte Fläche, gesprenkelt mit Befestigungspunkten, 257,25 Meter lang und 32,6 Meter breit. Crowe wusste das sehr genau. Sie war Mathematikerin mit einem Faible für exakte Zahlen, also hatte sie im Vorfeld versucht, so viel wie möglich über die USS Independence herauszubekommen, aber soeben kapitulierte die Theorie vor der Wirklichkeit. Die echte Independence hatte nichts mit Schemazeichnungen und technischen Daten zu tun. Ein schwerer Geruch von Öl und Kerosin lag in der Luft, heißes Gummi und Salz mischten sich hinein, und alles wurde von einem scharfen Wind übers Deck gefegt, der an ihrem Overall zerrte.
Kein Ort, an den man gerne reiste.
Männer in farbigen Jacken und Ohrenschützern liefen umher. Einer kam auf sie zu, während Soldaten ihr Gepäck ins Freie schleppten. Er trug eine weiße Jacke. Crowe versuchte sich zu erinnern. Weiß, das waren die Sicherheitsverantwortlichen. Die Gelben dirigierten die Hubschrauber an Deck, rot Gekleidete sorgten für Treibstoff und Gefechtsmaterial. Gab es nicht auch Braune? Und welche in Lila? Wofür waren die Braunen noch gleich zuständig?
Die Kälte fuhr ihr unter die Haut.
»Folgen Sie mir«, schrie der Mann gegen den Lärm der langsamer werdenden Rotorflügel an. Er zeigte hinüber zu dem einzigen Aufbau des Trägers. Wie ein mehrstöckiger, von überdimensionalen Antennen und Sensoren gekrönter Häuserblock entwuchs er der Steuerbordseite. Crowes Rechte tastete mechanisch zur Hüfte, während sie hinter ihm her ging. Dann fiel ihr ein, dass sie durch den Overall nicht an ihre Zigaretten kam. Auch im Hubschrauber hatte sie nicht rauchen dürfen. Es machte ihr nichts aus, bei windigem Wetter in die Arktis zu fliegen, aber der stundenlange Verzicht auf Nikotin war ganz und gar nicht nach ihrem Geschmack.
Ihr Begleiter öffnete ein Luk. Crowe betrat die Insel, wie der Aufbau im Navy-Jargon hieß. Nachdem sie eine Doppelschleuse passiert hatte, schlug ihr frische, saubere Luft entgegen. Wie eine Höhle wirkte die Insel auf Crowe, erstaunlich eng. Der Deckverantwortliche übergab sie einem hoch gewachsenen Schwarzen in Uniform, der sich als Major Salomon Peak vorstellte. Sie schüttelten einander die Hände. Peak wirkte steif, als sei er den Umgang mit Zivilisten nicht gewohnt. Crowe hatte während der letzten Wochen mehrfach mit ihm konferiert, allerdings nur telefonisch. Sie durchschritten einen winkligen Flur und kletterten über steile, leiterartige Niedergänge tiefer ins Innere des Schiffs, gefolgt von den Soldaten mit dem Gepäck. An einer Wand prangte in großen Lettern LEVEL 02.
»Sie werden sich frisch machen wollen«, sagte Peak und öffnete eine von vielen identisch aussehenden Türen zu beiden Seiten. Dahinter lag ein überraschend geräumiges, ansprechend eingerichtetes Zimmer, mehr eine kleine Suite. Crowe hatte gelesen, dass privater Raum an Bord eines Hubschrauberträgers auf das erträgliche Minimum reduziert war und die Soldaten in Schlafsälen nächtigten. Peak hob die Brauen, als sie eine entsprechende Bemerkung machte.
»Wir würden Sie wohl kaum zu den Marines stecken«, sagte er. Dann umspielte ein Lächeln seine Mundwinkel.
»Auch die Navy weiß, was sie ihren Gästen schuldig ist. Das hier ist Flaggland.«
»Flaggland?«
»Unser Excelsior. Quartiere für Admiräle und ihre Stäbe, wenn welche an Bord kommen. Augenblicklich laufen wir nicht unter voller Besatzung, wir haben also allen Platz der Welt. Die weiblichen Teilnehmer der Expedition sind in Flaggland untergebracht, die männlichen im Offiziersland. Darf ich?« Er ging an ihr vorbei und stieß eine weitere Tür auf. »Eigenes Bad und WC.«
»Ich bin beeindruckt.«
Die Soldaten trugen ihr Gepäck herein.
»Es gibt eine kleine Bar unter dem Fernseher«, sagte Peak. »Nichtalkoholisch. Reicht Ihnen eine halbe Stunde, bis ich Sie zu einem Rundgang abhole?«
»Vollauf.«
Crowe wartete, bis er die Tür hinter sich geschlossen hatte. Hastig ging sie auf die Suche nach einem Aschenbecher. Sie fand ihn in einem Sideboard, wurstelte sich aus dem Overall und kramte nach den Zigaretten in ihrer Sportjacke. Erst als sie dem zerdrückten Päckchen eine entnommen, sie angezündet und den ersten Zug inhaliert hatte, fühlte sie sich wieder wie ein vollständiger Mensch.
Paffend saß sie auf der Bettkante.
Eigentlich war es traurig. Zwei Päckchen am Tag waren verflucht traurig, und auch, dass sie nicht aufhören konnte.
Zweimal hatte sie es versucht. Zweimal nicht geschafft.
Vielleicht wollte sie es auch einfach nicht schaffen.
Nach der zweiten Zigarette ging sie unter die Dusche. Anschließend schlüpfte sie in Jeans, Turnschuhe und Sweatshirt, rauchte noch eine und schaute in sämtliche Schubladen und Schränke. Als es klopfte, hatte sie das Innenleben ihrer Kabine so gründlich studiert, dass sie eine vollständige Inventarliste hätte anfertigen können. Sie wusste eben einfach gern Bescheid.
Vor der Tür stand nicht Peak. Es war Leon Anawak.
»Ich sagte doch, wir sehen uns wieder«, grinste er.
Crowe lachte.
»Und ich sagte, Sie finden Ihre Wale wieder. Schön, Sie zu sehen, Leon. Der Mann, dem ich mein Hiersein verdanke, richtig?«
»Wer sagt das?«
»Li.«
»Ich glaube, Sie wären auch ohne mich hier. Aber ich hab ein bisschen nachgeholfen. Sie müssen wissen, ich habe von Ihnen geträumt.«
»Meine Güte!«
»Keine Bange, Sie erschienen mir als guter Geist. Wie war der Flug?«
»Rumpelig. Ich bin die Letzte, was?«
»Wir anderen sind schon in Norfolk an Bord gegangen.«
»Ja, ich weiß. Aber ich kam einfach nicht weg aus Arecibo. Man soll’s nicht glauben, aber es kann auch Arbeit machen, ein Projekt nicht zu betreiben. SETI ist erst mal eingemottet. Im Moment hat keiner Geld, um den Weltraum nach grünen Männchen abzusuchen.«
»Wir werden vielleicht mehr grüne Männchen finden, als uns lieb ist«, sagte Anawak. »Kommen Sie. Peak wird in einer Minute hier sein. Wir zeigen Ihnen, was die Independence alles drauf hat. Danach sind Sie dran. Alle sind sehr gespannt. Ihren Spitznamen haben Sie übrigens schon weg.«
»Meinen Spitznamen? Wie heiße ich denn?«
»Miss Alien.«
»Du lieber Himmel. Eine Zeit lang nannten mich alle Miss Foster, nachdem Jodie mich in diesem Film gespielt hat.« Crowe schüttelte den Kopf. »Na ja, warum nicht? Hab ich meine Autogrammkarten eingesteckt? Gehen wir, Leon.«
Peak führte sie durch die Welt von LEVEL 02. Sie hatten ihre Wanderung im Vorschiff begonnen und bewegten sich nun wieder in Richtung Mitte. Crowe hatte den riesigen Fitness-Raum im Bug bewundert, vollgestellt mit Laufbändern und Kraftmaschinen und so gut wie leer.
»Normalerweise herrscht hier enormes Gedränge«, sagte Peak. »Die Independence bietet Quartier für dreitausend Mann. Jetzt sind wir nicht mal 200 Leute an Bord.«
Sie spazierten durch den Wohntrakt der jüngeren Offiziere, Abteilungen für je vier bis sechs Mann, mit bequemen Kojen, reichlich Stauraum, Klapptischen und Stühlen.
»Gemütlich«, sagte Crowe.
Peak zuckte die Achseln.
»Ansichtssache. Wenn auf dem Dach richtig Betrieb ist, bekommen Sie so schnell kein Auge zu. Wenige Meter über Ihnen starten und landen Helikopter und Jets. Die größten Probleme haben wir natürlich mit den Neulingen. Zu Anfang sind alle vollkommen übermüdet.«
»Und wann gewöhnt man sich an den Krach?« »Nie. Aber man gewöhnt sich daran, nicht mehr durchzuschlafen. Ich war mehrere Male auf einem Träger, jedes Mal monatelang. Nach einer Weile ist es ganz normal, in einer Art ständiger Bereitschaft dazuliegen. Dafür verlernen Sie, in Ruhe zu schlafen. Die erste Nacht zu Hause ist die Hölle. Sie warten auf das Brüllen von Turbinen, das Aufknallen von Fahrwerk und Befestigungshaken, das Rumrennen in den Gängen, die ständigen Durchsagen, aber stattdessen tickt nur irgendwo ein Wecker.«
Vorbei an der riesigen Messe gelangten sie mittschiffs an ein Schott mit Zahlenschloss. Dahinter lag ein großer, abgedunkelter Raum. Es war der erste Bereich, den Crowe bevölkert sah. Vor Konsolen mit blinkenden Lämpchen saßen Männer und Frauen und starrten auf Großbildschirme, die sich entlang der Wände aneinander reihten.
»Auf LEVEL 02 finden sich die meisten Befehls— und Führungsräume«, erklärte Peak. »Früher war alles im Inselaufbau untergebracht, aber so was birgt Risiken. Die Sucher feindlicher Raketensysteme schalten sich meist auf die heißesten und größten Strukturen eines Schiffes. Dazu gehört natürlich auch die Insel. Ein paar Treffer, und es ist, als ob Ihnen einer den Kopf von den Schultern schießt, also haben wir einen Großteil der Kommandoräume unters Dach verlegt.«
»Dach?«
»Navy-Sprache. Das Flugdeck.«
»Und was genau tun Sie hier?«
»Nun, dieser Raum ist das CIC …«
»Ach ja. Das Combat Information Center.«
Die Augen in dem schmalen Ebenholzgesicht blitzten kurz auf. Crowe lächelte und nahm sich vor, fortan den Mund zu halten.
»Das CIC ist das Nervenzentrum unserer Sensorik«, sagte Peak. »Sämtliche Daten laufen in diesem Raum zusammen, schiffseigene Systeme, Satelliten, alles in Echtzeit, versteht sich. Luft— und Schiffsabwehr, Schadenbehebung, Kommunikation … im Gefechtsfall ist hier der Teufel los. Die leeren Plätze dort drüben, ich schätze, da werden Sie viel Zeit verbringen, Dr. Crowe.«
»Samantha. Oder einfach Sam.«
»Von dort schauen und horchen wir unter Wasser«, fuhr Peak fort, ohne auf ihr Angebot einzugehen. »U-Boot-Überwachung, SOSUS Sonarnetz, Surtass LFA und Verschiedenes mehr. Was immer sich der Independence nähert, wir bekommen es mit.« Peak zeigte auf einen riesigen Monitor unter der Decke. Ein Patchwork von Diagrammen und Karten war darauf zu sehen. »Das Big Picture. Es fasst alle Daten zusammen, die im Schiff auflaufen, und erstellt ein Panorama. Das Gleiche sieht der Skipper auf den Monitoren der Brücke in verkleinerter Form.«
Peak führte sie weiter durch die angrenzenden Räume. Fast alle lagen im Dämmerlicht, nur erleuchtet durch Großschirmanzeigen, Monitore und Displays. An das CIC schloss sich das LFOC an, das Landing Force Operations Center. »Es fungiert als Einsatzzentrale für Landungstruppen. Jede Gefechtseinheit verfügt über ihre eigene Konsole. Satellitenaufnahmen und Aufklärungsflieger zeigen im Ernstfall die Position feindlicher Brigaden an.« Unüberhörbar schwang Stolz in Peaks Stimme mit. »Im LFOC lassen sich blitzschnell Truppen verschieben und Strategien entwickeln. Der Zentralcomputer verbindet den Kommandeur zu jeder Zeit mit seinen Einheiten vor Ort.«
Auf einigen Bildschirmen erkannte Crowe das Flugdeck. Eine Frage drängte sich auf, die Peak vielleicht sauer aufstoßen würde, aber sie stellte sie trotzdem: »Was nützt uns das alles, Major? Unser Feind sitzt in der Tiefsee.«
»Richtig.« Peak sah sie irritiert an. »Dann werden wir von hier aus eben Tiefseeoperationen leiten. Wo ist das Problem?«
»Ich bitte um Verzeihung. Ich war wohl zu lange im Weltraum.«
Anawak grinste. Er hatte sich bisher jeden Kommentars enthalten und trottete einfach mit. Crowe empfand es als wohltuend, ihn dabeizuhaben. Peak zeigte ihnen weitere Kontrollräume. Dem CIC benachbart lag das JIC, das Joint Intelligence Center.
»Die Daten sämtlicher nachrichtendienstlicher Systeme werden hier entschlüsselt und interpretiert«, sagte Peak. »Nichts nähert sich der Independence, was nicht genauestens in Augenschein genommen wurde, und wenn es den Jungs nicht gefällt, wird es abgeschossen.«
»Hohe Verantwortung«, murmelte Crowe.
»Einiges interpretiert der Computer vor. Aber Sie haben natürlich Recht.« Peak machte eine umfassende Handbewegung. »CIC und JIC sind wissenschaftlicher Arbeitsbereich, außerdem laufen pausenlos Nachrichten aus aller Welt ein, flimmern uns CNN und NBC über die Bildschirme und ein Dutzend weiterer relevanter Fernsehsender. Sie werden Zugriff auf jede erdenkliche Information uns sämtliche Datenbanken der Defense Mapping Agency haben. Das heißt, Sie kommen in den Genuss, mit den Tiefseekarten der Navy zu arbeiten — bei weitem genauer als alles, was der freien Forschung zur Verfügung steht.«
Weiter ging es abwärts. Nacheinander besichtigten sie das bordeigene Einkaufszentrum, leere Schlafsäle und Aufenthaltsräume und den riesigen Sanitätsbereich auf LEVEL 03, ein antiseptisches, verlassenes Areal mit 600 Betten, sechs OPs und einer überdimensionierten Intensivstation. Crowe stellte sich vor, was hier in Kriegszeiten los sein musste. Blutende, schreiende Menschen, dahinhastende Ärzte und Schwestern. Zunehmend kam ihr die Independence wie ein Geisterschiff vor — nein, eher eine Geisterstadt. Sie stiegen zurück auf LEVEL 02 und gingen weiter nach achtern, bis sie zu einer Rampe gelangten, breit genug, dass Autos darauf fahren konnten.
»Der Tunnel führt vom Bauch des Schiffes im Zickzack in die Insel«, sagte Peak. »Die Independence ist so konstruiert, dass man sich mit einem Jeep über die strategisch wichtigen Ebenen bewegen kann. Auch die Marines marschieren durch den Tunnel aufs Deck. Wir gehen abwärts.«
Ihre Schritte hallten von den Stahlwänden wider. Crowe fühlte sich an ein Parkhaus erinnert, dann öffnete sich der Rampentunnel zu einem riesigen Hangar. Crowe wusste, dass er mindestens ein Drittel der gesamten Schiffslänge und die Höhe zweier Decks einnahm. Es war zugig hier. Zu beiden Seiten öffneten sich gewaltige Hangartore und führten auf außen liegende Plattformen. Fahlgelbe Beleuchtung mischte sich mit dem eindringenden Tageslicht zu einer diffusen Stimmung. Zwischen den Seitenspanten lagen kleine, verglaste Büros und Kontrollpunkte. Ein schienenartiges Beförderungssystem mit Haken zog sich die Decke entlang. Crowe sah große Gabelstapler und zwei Hummer-Geländefahrzeuge im Hintergrund.
»Im Allgemeinen steht das Hangardeck voller Fluggerät«, meinte Peak. »Aber auf dieser Mission kommen wir mit den sechs Super-Stallion -Helikoptern aus, die auf dem Dach geparkt sind. Jeder evakuiert im Notfall fünfzig Personen. Außerdem haben wir zwei Super-Cobra- Kampfhubschrauber für schnelle Einsätze an Bord.« Er zeigte auf die torartigen Durchlässe zu beiden Seiten. »Die Außenplattformen sind Lifts, mit denen wir gewöhnlich Fluggerät von hier aufs Dach fahren. Jeder trägt über 30 Tonnen.«
Crowe trat zum Hangartor auf der Steuerbordseite und sah hinaus aufs Meer. Grau und eisig erstreckte es sich bis zu einem leeren Horizont. Eisberge verirrten sich selten in diese Gegend. Der Ostgrönlandstrom trieb sie die Küste entlang, mehr als 300 Kilometer entfernt. Hier zogen nur gelegentlich Felder matschigen Treibeises durch.
Anawak gesellte sich neben sie.
»Eine von vielen möglichen Welten, stimmt’s?«
Crowe nickte stumm.
»Gibt es unter Ihren Szenarien für außerirdische Zivilisationen auch eine Unterwasservariante?«
»Wir haben alles im Repertoire, Leon. Sie werden lachen, aber wenn ich über außerirdische Lebensformen nachdenke, schaue ich zuallererst auf unseren Planeten. Ich schaue in die Tiefsee und ins Erdinnere, zu den Polen, in die Luft. Solange Sie Ihre eigene Welt nicht kennen, können Sie sich von anderen keine Vorstellung machen.«
Anawak nickte. »Ich denke, das ist unser größtes Problem.«
Sie folgten Peak die Rampe abwärts. Sie verband die Ebenen wie ein riesiges Treppenhaus. Der Tunnel mündete in einen ebenerdigen Flur, der ins Heck führte. Sie waren nun tief im Herzen der Independence. Seitlich stand ein Schott offen, aus dem kaltes Kunstlicht drang. Beim Eintreten erkannte Crowe die Biologin, mit der sie im Verlauf der letzten Wochen über Videotelefon gesprochen hatte. Sue Oliviera stand an einem von mehreren Labortischen im Gespräch mit zwei Männern, die sich als Sigur Johanson und Mick Rubin vorstellten.
Das komplette Deck schien zu einem Labor umfunktioniert worden zu sein. Tische und Gerätschaften waren inselartig gruppiert. Crowe sah Wasserbecken und Kühltruhen. Zwei große, miteinander verbundene Container waren mit Biohazard-Warnschildern gekennzeichnet, offenbar ein Hochsicherheitstrakt. Dazwischen erhob sich etwas von den Ausmaßen eines kleinen Hauses, umspannt von einem Rundlauf. Stählerne Steigleitern führten hinauf. Dicke Rohre und Kabelstränge verbanden die Wände des Kastens mit schrankartigen Apparaturen. Ein großes, ovales Fenster bot Einblick ins diffus beleuchtete Innere, das mit Wasser gefüllt zu sein schien.
»Sie haben ein Aquarium an Bord?«, fragte Crowe. »Wie hübsch.«
»Ein Tiefseesimulator«, erklärte Oliviera. »Das Original steht in Kiel. Um einiges größer. Dafür hat dieser hier ein Panoramafenster aus Panzerglas. Der Druck im Innern würde Sie umbringen, andere hält er am Leben. Augenblicklich bevölkern ein paar Hundert weiße Krabben den Tank, die vor Washington gefangen und sofort in Hochdruckbehälter verfrachtet wurden. Es ist das erste Mal, dass es uns gelungen ist, die Gallerte am Leben zu halten. Zumindest glauben wir das. Sie hat sich bislang nicht blicken lassen, aber wir sind sicher, dass sie in diesen Krabben steckt und sie steuert.«
»Faszinierend«, sagte Crowe. »Aber der Simulator ist nicht nur wegen der Krabben an Bord, oder?«
Johanson lächelte geheimnisvoll. »Man weiß nie, was einem ins Netz geht.«
»Also ein Kriegsgefangenenlager.«
»Kriegsgefangenenlager!« Rubin lachte. »Gute Idee.«
Crowe sah sich um. Die Halle war nach allen Seiten hermetisch abgeschlossen.
»Ist das hier nicht üblicherweise ein Fahrzeugdeck?«, fragte sie.
Peak hob die Brauen. »Ja. Wenn wir dieses Schott durchqueren, gelangen wir in die hintere Hälfte der Independence und haben den Flugzeughangar über uns. Sie haben viel gelesen, kann das sein?«
»Ich bin neugierig«, sagte Crowe bescheiden.
»Bleibt zu hoffen, dass Sie Ihre Neugier in Erkenntnisse umsetzen.«
»Was für ein Muffel«, flüsterte Crowe Anawak zu, während sie das Labor verließen und dem ebenerdigen Tunnel ins Heck folgten.