Seine Füße baumelten über dem Rand. Da war das Netz unter ihm. Knapp zwei Meter reichte es hinaus. Nicht weit genug. Anderson würde ihn mühelos darüber hinwegwerfen.
   »H-i-1-f-e!«
   Zu seiner Überraschung kam Hilfe.
   Er hörte Anderson ächzen. Plötzlich hatte er wieder die Plattform unter sich. Der Himmel kippte in sein Blickfeld, als Anderson auf den Rücken fiel und ihn mit sich riss. Immer noch umklammerten ihn die Hände des Ersten Offiziers, dann lösten sie sich. Johanson rollte sich zur Seite, robbte von Anderson weg und sprang auf.
   »Leon!«, stieß er hervor.
   Seinen Augen bot sich ein groteskes Bild. Anderson versuchte fuchtelnd, auf die Beine zu kommen. Anawak hatte sich von hinten in seine Jacke verkrallt. Sie waren allesamt zu Boden gegangen. Eben versuchte Anawak, unter dem gestürzten Mann hervorzukriechen, ohne ihn loszulassen, eine schiere Unmöglichkeit.
   Johanson wollte hinzuspringen.
   »Stopp!«
   Vanderbilt vertrat ihm den Weg. Er hielt eine Pistole in der Hand. Langsam umrundete er die Liegenden, bis er mit dem Rücken zum Durchgang stand.
   »Schöner Versuch«, sagte er. »Aber jetzt reicht’s. Dr. Anawak, haben Sie bitte die Freundlichkeit, unseren Mr. Anderson hier aufstehen zu lassen. Er tut nur seine Pflicht.«
   Widerstrebend löste Anawak seine Finger aus Andersons Kapuzenkragen. Der Erste Offizier schnellte hoch. Er wartete nicht, bis sein Gegner von selber auf die Beine kam, sondern hievte ihn hoch wie einen Sack. Im nächsten Moment flog Anawaks Körper auf die Kante zu.
   »Nein!«, schrie Johanson.
   Anawak versuchte sich festzukrallen. Er schlug auf, schlitterte weiter und rutschte bis hart an den Rand der Plattform.
   Andersons Kopf ruckte zu Johanson, die ausdruckslosen Augen starrten ihn an. Er streckte einen Arm aus, riss ihn zu sich heran und rammte ihm die Faust in den Magen. Johanson japste nach Luft. Wellen von Schmerz breiteten sich in seinen Eingeweiden aus. Wie ein Taschenmesser klappte er zusammen und fiel auf die Knie.
   Der Schmerz war kaum zu ertragen. Er kam nicht mehr hoch.
   Würgend hockte er da, während ihm der Wind das Haar um die Ohren peitschte, und wartete darauf, dass Anderson erneut zuschlug.
 

VIERTER TEIL
ABWÄRTS

   Forschungen zufolge ist der Mensch ab einer gewissen Sub— bzw. Metastufe nicht mehr in der Lage, Intelligenz als solche zu erkennen. Als Intelligenz begreift er nur, was im Rahmen seines Verhaltens liegt. Jenseits dieses Rahmens, im Mikrokosmos etwa, würde er sie schlicht übersehen. Ebenso wird er in einer höheren Intelligenz, einem weit überlegenen Geist, bloßes Chaos erblicken, weil er dessen komplexe Sinnschlüsse nicht zu entwirren vermag. Entscheidungen einer solchen Intelligenz blieben ihm unverständlich, da ihr Parameter zugrunde liegen, die seine intellektuelle Verarbeitungskapazität übersteigen. Auch ein Hund sieht in einem Menschen nur die Macht, der er sich unterordnet, nicht den Geist. Menschliches Verhalten mutet ihm sinnlos an, weil wir auf Grundlage von Überlegungen handeln, die seine Wahrnehmung überfordern. Wiederum werden wir Gott, falls es ihn gibt, nicht als Intelligenz wahrnehmen können, weil sein Denken auf einer Gesamtheit von Überlegungen fußen dürfte, deren Komplexität sich uns bei weitem entzieht. Als Folge ist Gott chaotisch in unseren Augen und mithin kaum der Richtige, um die ortsansässige Fußballmannschaft gewinnen zu lassen oder Kriege zu vereiteln. Ein solches Wesen läge jenseits der äußerstmöglichen Grenze menschlicher Verständnisfähigkeit. Woraus sich zwingend die Frage ableitet, ob das Metawesen Gott seinerseits überhaupt in der Lage ist, uns auf unserer Substufe als Intelligenz wahrzunehmen. Vielleicht sind wir ja nur ein Experiment in einer Petrischale …
Samantha Crowe, aus »Chroniken«

 
Deepflight
 
   Doch Anderson schlug nicht zu.
   Sekunden zuvor hatten die Delphine ein unbekanntes Objekt gemeldet und die Mannschaft der Independence in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt. Gleich darauf erfassten es auch die Sonarsysteme. Etwas von unbestimmter Form und Größe, das sich rasch näherte. Es machte kein Geräusch wie ein Torpedo, und keine Quelle war aufzuspüren, von der es hätte stammen können. Was die Leute auf der Brücke und an den Kontrollinstrumenten besonders nervös machte, war der Umstand, dass sich das Ding nicht nur mit wachsender Geschwindigkeit und völlig lautlos näherte, sondern außerdem senkrecht aus der Tiefe emporstieg. Sie starrten auf die Monitore und sahen im Dunkel des Abgrunds etwas Rundes, Bläuliches erscheinen. Eine wabernde Kugel näherte sich, mehr als zehn Meter im Durchmesser, nahm Gestalt an und wurde größer.
   Als Buchanan den Befehl gab, das merkwürdige Ding abzuschießen, war es bereits zu spät.
   Direkt unter dem Rumpf platzte die Kugel auf.
   Während der letzten Minuten hatte sich das Gas in ihrem Innern immer mehr ausgedehnt und ihren Aufstieg beschleunigt. Jetzt schoss sie mit hoher Geschwindigkeit heran, ein Ball aus dünner, zum Bersten gespannter Gallerte, der plötzlich an der Oberseite aufriss, auseinander klappte und als wehender Fetzen zurückblieb. Das frei werdende Gas wirbelte weiter der Oberfläche entgegen und riss etwas Großes, Rechteckiges mit sich.
   Sich überschlagend raste das verloren gegangene Deepflight auf die Independence zu, Bug voran, und bohrte seine panzerbrechenden Torpedos in ihren Rumpf.
   Der Herzschlag einer Ewigkeit verstrich.
   Dann folgte die Explosion.
 
Brücke
 
   Das riesige Schiff erbebte.
   Buchanan, der das Unheil hatte kommen sehen, hielt auf der Brücke mit knapper Not das Gleichgewicht, indem er sich an den Kartentisch klammerte. Andere fanden nichts zum Festhalten und gingen zu Boden. In den Kontrollräumen unterhalb der Insel erzitterte das Schiff so stark, dass Monitore zersplitterten und Ausrüstungsgegenstände durch die Luft flogen. Im CIC wurden Crowe und Shankar von ihren Stühlen gerissen. Überall auf der Independence regierte von einer Sekunde auf die andere heilloses Chaos, mischte sich der unvermittelt einsetzende, durchdringende Alarm mit Geschrei, schlugen Stiefelabsätze auf, klirrte, dröhnte und schepperte es, während sich dumpfes Grollen durch die Gänge, Räume und Levels fortpflanzte.
   Wenige Sekunden nach dem Aufschlag war der größte Teil der Ölschnepfen, wie die Kessel— und Antriebstechniker im Navy-Jargon genannt wurden, tot. Wo die mittschiffs gelegenen Laderäume und der Maschinenraum mit den beiden LM-2500-Gasturbinen aneinander grenzten, hatte die Explosion einen gewaltigen Krater gerissen. Dort klaffte die Schiffshülle auf einer Länge von über 20 Metern auseinander. Wasser drang mit der Gewalt von Vorschlaghämmern ein und erschlug jeden, den das explodierende Tauchboot nicht sofort getötet hatte. Wer es bis dahin schaffte, am Leben zu bleiben, wer gar versuchte, der Hölle zu entkommen, sah sich mit schließenden Schotts konfrontiert. Der einzige Weg, die Independence jetzt noch zu retten, bestand darin, die Leute in den Katakomben des Schiffes zu opfern, indem man sie zusammen mit den tosenden Wassermassen einschloss, um ein weiteres Ausbreiten der Flut zu verhindern.
 
Außenlift
 
   Die Plattform erhielt einen heftigen Schlag. Sie schnellte hoch wie eine Wippe und schleuderte Floyd Anderson über Johanson. Der Erste Offizier ruderte mit den Armen, die Finger gespreizt, aber da war nichts, woran man sich hätte festhalten können. Sein Körper beschrieb einen Salto, der unter anderen Umständen als komisch gegolten hätte. Er krachte mit der Stirn auf die Plattform, drehte sich auf den Rücken und blieb reglos liegen, die Augen starr geöffnet.
   Vanderbilt taumelte. Die Pistole entglitt ihm und schlitterte auf den Rand zu, wo sie wenige Zentimeter vor der Kante liegen blieb. Er sah Johanson beim Versuch, sich aufzurappeln, lief zu ihm und trat ihm in die Rippen. Der Wissenschaftler kippte mit einem erstickten Schrei zur Seite. Vanderbilt hatte nicht die geringste Ahnung, was passiert war, sah man davon ab, dass es nur das Schlimmste sein konnte, aber der Auftrag lautete, Johanson zu beseitigen, und er war fest entschlossen, diesen Auftrag auszuführen. Er bückte sich, um den stöhnenden und blutenden Mann über die Plattform zu wuchten und möglichst über das Netz hinaus zu befördern, als jemand seitlich gegen ihn prallte.
   »Du Schwein!«, schrie Anawak.
   Plötzlich sah er sich mit einem Paar wild gewordener Dreschflegel konfrontiert. Anawak prügelte wie besessen auf ihn ein. Vanderbilt wich zurück. Er brauchte einen Moment, um seiner Verblüffung Herr zu werden. Schützend riss er die Arme über den Kopf, wich seitlich aus und trat den Angreifer gegen die Kniescheibe.
   Anawak wankte und knickte ein. Vanderbilt verlagerte sein Gleichgewicht. Die meisten Menschen, die Jack Vanderbilt kennen lernten, machten sich völlig falsche Vorstellungen von seiner Kraft und Behändigkeit. Sie sahen nur seine Leibesfülle. Tatsächlich war der CIA-Direktor durch alle Schulen des Angriffs und der Selbstverteidigung gegangen, und auch mit zwei Zentnern gelangen ihm immer noch ein paar bemerkenswerte Sprünge. Er nahm Anlauf, katapultierte sich durch die Luft und rammte Anawak den Stiefel gegen das Brustbein. Anawak stürzte auf den Rücken. Sein Mund öffnete sich zu einem O, aber kein Laut drang heraus. Vanderbilt wusste, dass dem anderen gerade die Luft wegblieb. Er beugte sich über ihn, packte Anawak an den Haaren, riss ihn zu sich hoch und versenkte den Ellbogen in seinem Solarplexus.
   Das dürfte fürs Erste reichen. Jetzt zurück zu Johanson. Ab in die See mit ihm, und Anawak gleich hinterher.
   Als er sich aufrichtete, sah er Greywolf auf sich zukommen.
   Vanderbilt ging in Angriffsposition. Er wirbelte um seine Achse, das rechte Bein ausgestreckt, trat zu — und prallte ab.
   Was soll denn das?, dachte er verwirrt. Jeder andere wäre nach der Attacke zu Boden gegangen oder hätte sich unter Schmerzen gekrümmt. Dieser riesige Halbindianer lief einfach weiter. In seinen Augen lag ein unmissverständlicher Ausdruck. Plötzlich wurde Vanderbilt klar, dass er diesen Kampf gewinnen musste, weil er ihn sonst nicht überleben würde. Er überkreuzte die Arme, um den nächsten Schlag zu landen, langte aus und spürte, wie seine Faust einfach weggewischt wurde. Im nächsten Moment grub sich Greywolfs Linke in sein Doppelkinn. Vanderbilt trat mit den Beinen. Der Indianer schob ihn, ohne in seinem Tempo innezuhalten, dem Rand entgegen, holte aus und schlug zu.
   Vanderbilts Gesichtsfeld explodierte.
   Alles wurde rot. Er hörte sein Nasenbein brechen. Der nächste Schlag zertrümmerte die Knochen der linken Wange. Ein gurgelnder Schrei entrang sich seiner Kehle. Wieder kam die Faust herangesaust und bohrte sich zwischen seine Kiefer. Zähne splitterten. Vanderbilt schrie jetzt lauter, vor Schmerz und aus Wut. Er war außer sich. Er hing hilflos im Griff des Riesen und konnte nichts dagegen tun, dass sein Gesicht zu Brei geschlagen wurde.
   Die Beine sackten ihm weg.
   Greywolf ließ ihn los, und Vanderbilt schlug der Länge nach hin. Viel sah er nicht mehr, etwas Himmel, den grauen Asphalt der Plattform mit den aufgemalten gelben Markierungen, alles durch einen blutigen Schleier, und dort, ganz nah, die Waffe. Seine Rechte fingerte danach, bekam sie zu fassen, umspannte den Griff. Er riss den Arm hoch und schoss.
   Einen Augenblick herrschte Ruhe.
   Hatte er getroffen? Er drückte ein weiteres Mal ab, aber dieser Schuss ging in die Luft. Sein Arm war nach hinten gebogen worden. Kurz sah er Anawak über sich auftauchen, dann wurde ihm die Pistole aus der Hand geschlagen, und er blickte wieder in Greywolfs hasserfüllte Augen.
   Schmerz durchflutete ihn.
   Was war geschehen? Er lag nicht mehr auf dem Rücken, sondern stand aufrecht. Oder hing er? Er wusste tatsächlich nicht mehr, wo oben und unten war. Nein, er schwebte. Er flog rückwärts. Durch einen Nebel von Blut erkannte er die Plattform. Da war die Kante. Warum war er außerhalb der Kante? Sie zog über ihn hinweg, entfernte sich nach oben mitsamt den schützenden Netzen, und Vanderbilt begriff, dass sein Leben jetzt enden würde.
   Die Kälte traf ihn wie ein Schock.
   Aufspritzende Gischt. Von Schaum durchzogenes Grün, jede Menge Blasen. Unfähig, sich zu bewegen, sank Vanderbilt hinab. Das Meerwasser wusch das Blut aus seinen Augen, während sein Körper der Tiefe zustrebte. Da war kein Schiff, gar nichts, nur konturloses, dunkler werdendes Grün, aus dem sich ein Schatten näherte.
   Der Schatten war schnell. Er besaß ein Maul, das unmittelbar vor ihm auseinander klaffte.
   Dann war nichts mehr.
 
Labor
 
   »Um Gottes willen, was tun Sie denn da?«
   »Freilassen.«
   Die Worte hallten in Weavers Kopf wider: Peaks voller Entsetzen ausgestoßene Frage, Lis harscher Befehl, bevor das komplette Labor plötzlich einen Satz getan hatte und in Schieflage geraten war. Auf das Dröhnen der Explosion folgte unbeschreiblicher Lärm, als alles um sie herum umstürzte und zu Bruch ging. Weaver wurde von den Beinen geschleudert, und mit ihr Rubin. In einem Durcheinander umherfliegender Instrumente und Behälter landeten sie nebeneinander hinter dem Labortisch. Ein Donnergrollen fegte durch den Raum. Alles vibrierte. Irgendwo zersprang mit lautem Knallen Glas. Weaver dachte an das Hochsicherheitslabor und hoffte inständig, dass die Abschottung aus Panzerglas und hermetisch verriegelten Schleusen standhielt. Sie robbte auf dem Hintern von Rubin weg, der herumrollte und sich wild umsah.
   Ihr Blick fiel auf den Phiolenkoffer. Er war direkt vor ihre Füße gerutscht. Sie sah ihn, und Rubin sah ihn ebenfalls.
   Einen Moment lang schätzte jeder von ihnen seine Chancen ab. Dann schnellte Weaver nach vorne, aber Rubin war schneller. Er bekam den Koffer zu packen, sprang auf und rannte in den Raum hinein. Weaver fluchte und verließ notgedrungen ihre Deckung. Was immer gerade passiert war, was immer die Folgen wären, was Li auch vorhaben mochte — sie musste den Koffer an sich bringen.
   Zwei der Soldaten lagen am Boden. Einer rührte sich nicht, der andere rappelte sich eben hoch. Der dritte Soldat war auf den Beinen geblieben und hielt seine Waffe unverändert im Anschlag. Li bückte sich, um dem reglosen Mann das Gewehr abzunehmen, ein massives, schwarzes Ding. Im nächsten Moment visierte sie Weaver an. Peak lehnte stocksteif neben der verriegelten Tür.
   »Karen!«, schrie er. »Bleiben Sie stehen. Es wird Ihnen nichts passieren, bleiben Sie gottverdammt nochmal stehen!«
   Seine Stimme ging unter im Geknatter der Waffe. Weaver sprang wie eine Katze hinter die benachbarte Laborinsel. Sie hatte keine Ahnung, womit Li da schoss, aber die Munition zerfetzte den Tisch, als sei er aus Pappe.
   Glassplitter flogen ihr um die Ohren, ein zentnerschweres Mikroskop krachte dicht neben ihr zu Boden. In das Inferno mischte sich gleichmäßig der Bordalarm. Plötzlich sah sie Rubin, der mit angstgeweiteten Augen wieder auf sie zurannte.
   »Mick!«, rief Li. »Sie Idiot! Kommen Sie hierher.«
   Weaver hechtete aus ihrem Versteck. Sie ließ sich gegen den Biologen fallen und entriss ihm den Phiolenkoffer. Im selben Moment erzitterte das Schiff erneut, und der Raum neigte sich. Rubin rutschte über den Boden, rasselte in ein Regal und brachte es zum Umkippen. Eine Flut aus Probengefäßen und Gläsern prasselte auf ihn herab. Er heulte auf und zappelte wie ein Käfer auf dem Rücken. Weaver sah Li aus dem Augenwinkel die Waffe schwenken und den dritten Soldaten über den zerschossenen Tisch springen. Auch er trug eines der gewaltigen schwarzen Dinger, und noch im Sprung zog er es hoch.
   Es gab keinen Weg, wohin sie hätte fliehen können. Also ließ sie sich neben Rubin fallen.
   »Nicht schießen!«, hörte sie Lis Stimme. »Es ist zu …«
   Der Soldat feuerte. Er verfehlte sie. Die Garbe bohrte sich mit gongartigen Aufschlägen ins Panzerglas des Tiefseesimulators und durchpflügte die ovale Scheibe einmal von links nach rechts.
   Plötzlich herrschte unheimliche Stille. Nur der Alarm sonderte in regelmäßigen Abständen sein unbeteiligtes, schnarrendes Geräusch ab. Alle erstarrten und hefteten ihre Blicke wie gebannt auf den Tank. Weaver hörte ein einzelnes, lautes Knacken. Sie wandte den Kopf und sah, wie sich auf der großen Glasplatte Sprünge verästelten.
   Es wurden immer mehr.
   »Oh Gott«, stöhnte Rubin.
   »Mick!«, schrie Li. »Kommen Sie endlich!«
   »Ich kann nicht«, jammerte Rubin. »Mein Bein. Ich hänge fest.«
   »Auch egal«, sagte Li. »Wir brauchen ihn nicht. Raus hier.«
   »Das können Sie doch nicht …«, begann Peak.
   »Sal, öffnen Sie die Tür!«
   Sofern Peak etwas erwiderte, war es nicht zu verstehen. Es gab einen ohrenbetäubenden Knall, als die Scheibe auseinander flog. Tonnen von Meerwasser kamen ihnen entgegengeschossen. Weaver rannte los. Hinter ihr tosten die Wassermassen durch das Labor und zerstörten, was noch nicht zu Bruch gegangen war.
   »Karen!«, hörte sie Rubin. »Bitte lass mich nicht …«
   Seine Stimme riss ab. Alles war voller Gischt. Sie sah Peak durch die offene Labortür humpeln. Li folgte ihm. Im Hinauslaufen schlug ihre Hand auf eine Stelle neben der Tür, und Weaver erkannte in plötzlichem Schrecken, was das zu bedeuten hatte.
   Li wollte sie einschließen.
   Die Flut klatschte gegen ihren Rücken und trug sie ein Stück nach vorne. Sie stürzte hart auf ihre Knie, kam wieder auf die Beine. Sie war durchnässt bis auf die Knochen, aber den Phiolenkoffer hielt sie fest umschlungen. Japsend und bemüht, vom Wasser nicht zurückgerissen zu werden, kämpfte sie sich auf die Tür zu, die sich langsam schloss, legte die letzten Meter in einem einzigen Sprung zurück, prallte gegen den Rahmen und wirbelte hinaus auf die Rampe.
 
Außenlift
 
   Greywolf und Anawak halfen Johanson auf die Beine. Der Biologe war schwer angeschlagen, aber bei Bewusstsein.
   »Wo ist Vanderbilt?«, murmelte er.
   »Fischen«, sagte Greywolf.
   Anawak fühlte sich, als sei er unter einen Eilzug geraten. Er war kaum in der Lage, aufrecht zu stehen, so sehr schmerzte ihn die Stelle, wo ihn Vanderbilts Ellbogen getroffen hatte.
   »Jack«, wiederholte er immer wieder. »Mein Gott, Jack.« Greywolf hatte ihn gerettet. Es schien zur Tradition zu werden, dass Greywolf ihn rettete. »Wo kommst du plötzlich her?«
   »Ich war vorhin ein bisschen rüde«, sagte Greywolf. »Wollte mich entschuldigen.«
   »Rüde? Bist du wahnsinnig? Du hast keinen Grund, dich für irgendetwas zu entschuldigen!«
   »Ich find’s gut, dass er sich entschuldigen wollte«, ächzte Johanson.
   Greywolf grinste gequält. Sein Gesicht unter der kupferfarbenen Haut hatte einen wächsernen Ton angenommen. Was ist los mit ihm?, dachte Anawak. Greywolfs Schulten bogen sich nach vorn, seine Augenlider flatterten …
   Plötzlich sah er, dass Greywolfs T-Shirt voller Blut war. Einen Moment lang gab er sich der Illusion hin, es stamme von Vanderbilt. Dann erkannte er, dass der Fleck größer wurde und dass all das Blut aus Greywolfs Bauch quoll. Er streckte die Arme aus, um den Riesen aufzufangen, als erneut ein Donnerschlag aus dem Bauch der Independence drang. Das Schiff schwankte. Johanson taumelte gegen ihn. Anawak sah Greywolf nach vorn kippen und über die Kante verschwinden. »Jack!« Er fiel auf die Knie und rutschte zu der Stelle, wo Greywolf verschwunden war. Der Halbindianer hing in einem der Netze und sah zu ihm hoch. Darunter wogte das Meer.
   »Jack, gib mir deine Hand« Greywolf rührte sich nicht. Er lag nur da und starrte Anawak an, die Hände auf den Bauch gepresst. Noch mehr Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor. Vanderbilt! Das verdammte Schwein hatte ihn getroffen. »Jack, es wird alles gut.« Worte wie aus einem Film.
   »Gib mir die Hand. Ich ziehe dich hoch, wir kriegen das alles wieder hin.«
   Neben ihm robbte Johanson heran. Er legte sich auf den Bauch und versuchte, nach unten ins Netz zu langen, aber es war zu tief.
   »Du musst irgendwie hochkommen«, sagte Anawak hilflos. Dann fasste er einen Entschluss. »Nein, bleib da. Ich komme zu dir runter. Ich hieve dich raus, und Sigur hilft von oben.«
   »Vergiss es«, sagte Greywolf gequetscht.
   »Jack …«
   »Es ist besser so.«
   »Red keinen Mist«, herrschte Anawak ihn an. »Komm mir bloß nicht mit dieser Kinoscheiße, von wegen, lasst mich zurück, kümmert euch nicht um mich, blabla.« »Leon, mein Freund …« »Nein! Ich sage nein!« Aus Greywolfs Mund floss ein dünner Streifen Blut. »Leon …«
   Er lächelte. Plötzlich wirkte er sehr entspannt.
   Dann richtete er sich mit einem Ruck auf, rollte sich über die Netzkante ab und stürzte in die Wellen.
 
Labor
 
   Rubin verging Hören und Sehen. Das Wasser aus dem Tank toste über ihn hinweg. Er fragte sich, was um Himmels willen passiert war in den letzten Sekunden. Alles war aus den Fugen geraten. Dann spürte er plötzlich, dass die wirbelnden Wassermassen das Regal von seinem Bein hoben, und er kam frei und tauchte prustend auf.
   Gott sei Dank, dachte er. Du hast das Schlimmste überstanden.
   Für eine richtige Überschwemmung würde das Wasser aus dem Simulator nicht reichen. Es war eine ganze Menge, aber sobald es sich im Raum verteilt hatte, würde es kaum höher als einen Meter stehen.
   Er rieb sich die Augen.
   Wo war Li?
   Neben ihm trieb der Körper eines der Soldaten. Ein anderer stemmte sich weiter hinten benommen aus dem Wasser.
   Li war fort.
   Sie hatten ihn zurückgelassen.
   Fassungslos saß Rubin im Wasser und starrte auf die verschlossene Tür. Allmählich klärten sich seine Gedanken. Er musste hier raus. Etwas in dem Schiff war in die Luft geflogen. Wahrscheinlich sanken sie schon. Wenn er nicht innerhalb der nächsten paar Minuten höhere Gefilde erreichte, drohten ihm ernsthafte Schwierigkeiten.
   Er wollte aufstehen, als es um ihn herum zu leuchten begann.
   Blitze zuckten.
   Schlagartig wurde ihm bewusst, dass nicht nur Wasser aus dem Tank gelangt war! Er versuchte hochzukommen, glitt aus und stürzte zurück. Das Wasser spritzte auf. Rubin geriet mit dem Kopf unter die Oberfläche, paddelte mit den Händen und spürte Widerstand.
   Glatt. Beweglich.
   Lichtblitze erschienen vor seinen Augen, dann bekam er plötzlich keine Luft mehr, als die Gallerte begann, sein Gesicht zu überziehen. Wie irrsinnig zerrte Rubin daran, aber das Zeug war nicht zu packen. Er glitt daran ab, und wo er es in die Hände bekam, veränderte es augenblicklich seine Form oder löste sich einfach auf, und neues Gewebe kam hinterher.
   Nein, dachte er. Nein, Nein!
   Er öffnete den Mund und spürte, wie das Zeug hineinkroch. Das machte ihn vollends wahnsinnig. Ein dünner Ausläufer schlängelte sich seine Speiseröhre hinab, weitere drangen in seine Nasenlöcher. Er würgte, schlug wild um sich, bäumte sich auf, und plötzlich begannen seine Ohren zu schmerzen. Grauenhaft war dieser Schmerz, als bohre ein unbarmherziger Folterknecht mit Messern darin herum, und ein letzter, glasklarer Gedanke sagte ihm, dass die Gallerte auf dem Weg in seinen Schädel war.
   Ob es pure Neugierde oder ein gezieltes Vorhaben des Organismus war, menschliche Hirne zu untersuchen, ob er gewohnheitsmäßig seit Jahrmillionen in alles kroch, was sich seiner Ansicht nach zu untersuchen lohnte, darüber hatte sich Rubin seit dem Unfall im Welldeck pausenlos Gedanken gemacht.
   Jetzt machte er sich über gar nichts mehr Gedanken.
 
Greywolf
 
   So friedlich. So ruhig.
   Vanderbilt hatte das wahrscheinlich anders empfunden. Er hatte Angst gehabt. Sein Tod war grausam gewesen, und genau so hatte er sein sollen. Aber ohne Angst war es etwas völlig anderes.
   Greywolf sank in die Tiefe.
   Er hielt die Luft an. Trotz der schrecklichen Schmerzen in seinem Bauch wollte er so lange wie möglich die Luft anhalten. Nicht weil er glaubte, dass es sein Leben verlängern würde. Es war ein letzter Akt des Willens, ein Akt der Kontrolle. Er würde bestimmen, wann das Wasser in seine Lungen drang.
   Licia war da unten. Alles, was er je gewollt hatte, was ihm wichtig gewesen war, befand sich unter Wasser. Eigentlich nur konsequent, dass er endlich diesen Weg ging. Es war überfällig.
   Wenn du zu Lebzeiten ein guter Mensch gewesen bist, wirst du dereinst als Orca wiedergeboren werden.
   Er sah einen schwarzen Schatten über sich hinwegziehen. Ein weiterer folgte. Die Tiere beachteten ihn nicht. Genau, dachte Greywolf, ich bin euer Freund. Ihr lasst mich in Ruhe. Natürlich wusste er, dass die Erklärung viel profaner war, dass ihn die Tiere schlicht übersahen. Diese Orcas waren niemandes Freund. Sie waren schon längst nicht mehr sie selbst, sondern wurden missbraucht von einer Rasse, die nicht weniger skrupellos vorging als der Mensch.
   Aber auch das würde wieder in Ordnung kommen.
   Irgendwann. Und der Graue Wolf würde ein Orca werden.
   Konnte es einen schöneren letzten Gedanken geben?
   Er atmete aus.
 
Peak
 
   »Sind Sie eigentlich vollkommen wahnsinnig geworden?«
   Peaks Stimme hallte an den Wänden der Rampe wider. Li eilte ihm voraus. Er versuchte, den pochenden Schmerz in seinem Fußgelenk zu ignorieren und mit ihr Schritt zu halten. Sie hatte das Maschinengewehr weggeworfen und hielt stattdessen ihre Pistole in der Hand.
   »Gehen Sie mir nicht auf die Nerven, Sal.« Li steuerte den nächsten Niedergang an. Nacheinander kletterten sie ins nächsthöhere Level. Hier mündete der Gang zum geheimen Bereich. Aus dem Bauch des Schiffes drang enervierendes Wimmern und Dröhnen. Dann folgte eine neuerliche Explosion. Der Boden wankte heftig und neigte sich, sodass sie einen Moment innehalten mussten. Vermutlich hatten einige Schotts dem Wasserdruck nicht mehr standgehalten. Die Independence wies mittlerweile eine deutliche Schieflage auf, und sie mussten den Gang aufwärts laufen. Aus dem Kontrollraum kamen ihnen Männer und Frauen entgegengerannt. Sie starrten auf Li in Erwartung von Befehlen, aber die Kommandantin stapfte einfach weiter.
   »Nicht auf die Nerven?« Peak verstellte ihr den Weg. Er fühlte, wie sein Entsetzen blanker Wut wich. »Sie knallen wahllos Leute ab. Andere lassen Sie umbringen. Was soll das, verdammt? Das ist unverhältnismäßig! Das war nie geplant und nie besprochen!«
   Li sah ihn an. Ihr Gesicht war vollkommen ruhig, aber die blauen Augen flackerten. Nie zuvor hatte Peak dieses Flattern darin gesehen. Plötzlich wurde ihm klar, dass diese hoch gebildete, vielfach ausgezeichnete Soldatin einen ausgemachten Dachschaden hatte.
   »Mit Vanderbilt war es besprochen«, sagte Li.
   »Mit der CIA?«
   »Mit Vanderbilt von der CIA.«
   »Sie haben sich mit diesem Drecksack auf einen derartigen Irrsinn eingelassen?« Peak kräuselte angewidert die Lippen. »Ich könnte kotzen, Jude. Wir sollten helfen, das Schiff zu evakuieren.«
   »Außerdem ist es abgesprochen mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten«, fügte Li hinzu.
   »Niemals!«
   »Mehr oder weniger.«
   »Nicht so! Das glaube ich Ihnen nicht!«
   »Er würde es billigen.« Sie drängte sich an ihm vorbei. »Jetzt gehen Sie mir endlich aus dem Weg. Wir verlieren Zeit.«
   Peak hastete ihr hinterher. »Diese Menschen haben Ihnen nichts getan. Sie haben ihr Leben riskiert. Die ziehen doch am gleichen Strang wie wir! Warum konnten wir sie nicht einfach festsetzen?«
   »Wer nicht für mich ist, ist gegen mich. Haben Sie das noch nicht gemerkt, Sal?« »Johanson war nicht gegen Sie.«
   »Doch, von Anfang an.« Sie wirbelte herum und sah zu ihm hoch. »Sind Sie eigentlich blind oder verblödet, oder was? Sehen Sie nicht, was passieren würde, wenn Amerika diese Schlacht nicht für sich entscheidet? Jeder andere, der sie gewinnen würde, hätte uns im selben Moment eine Niederlage zugefügt.«
   »Es geht aber nicht um Amerika! Es geht um die ganze Welt.«
   »Die Welt ist Amerika!«
   Peak starrte sie an. »Sie sind verrückt«, flüsterte er.
   »Nein, ich bin Realist, Sie schwarzer Esel. Und Sie tun, was ich sage. Sie stehen unter meinem Kommando!« Li setzte sich wieder in Bewegung. »Los jetzt. Wir haben einen Auftrag zu erfüllen. Ich muss mit dem Tauchboot runter, bevor uns das ganze Schiff um die Ohren fliegt. Helfen Sie mir, die beiden Torpedos mit Rubins Gift zu finden, danach können Sie sich meinetwegen absetzen.«
 
Rampe
 
   Weaver schwankte eine Sekunde, wohin sie sich wenden sollte, als sie vom oberen Ende der Rampe Stimmen hörte. Li und Peak waren verschwunden. Wahrscheinlich auf dem Weg in Rubins Geheimlabor, um den Giftstoff zu holen. Sie lief zum Knick und sah Anawak und Johanson aufeinander gestützt die Rampe herunterkommen.
   »Leon«, rief sie. »Sigur!«
   Sie rannte auf die beiden zu und umarmte sie. Sie musste ihre Arme sehr weit ausstrecken, aber sie hatte das dringende Bedürfnis, die Männer an sich zu drücken. Ganz besonders einen von ihnen. Offenbar schoss sie dabei übers Ziel hinaus, denn Johanson stöhnte auf.
   Sie zuckte zurück. »Entschuldige …«
   »Sind nur die Knochen.« Er wischte sich das Blut aus dem Bart. »Der Geist ist willig, und so weiter. Was ist passiert?«
   »Was ist euch passiert?«
   Der Boden rumpelte unter ihren Füßen. Ein lang gezogenes Quietschen drang aus dem Rumpf der Independence. Ganz leicht neigte sich der Boden ein Stück weiter bugwärts.
   Sie berichteten einander in hastigen Worten. Anawak war sichtlich mitgenommen von Greywolfs Tod.
   »Hat einer von euch eine Ahnung, was mit dem Schiff geschehen ist?«, fragte er.
   »Nein, aber ich fürchte, darüber können wie uns jetzt nicht den Kopf zerbrechen.« Weaver sah sich gehetzt um. »Ich schätze, wir müssen zwei Dinge gleichzeitig erledigen. Lis Tauchgang verhindern und uns irgendwie in Sicherheit bringen.«
   »Du meinst, sie wird ihren Plan ausführen?«
   »Klar wird sie das«, knurrte Johanson. Er legte den Kopf in den Nacken. Vom Flugdeck drang Lärm zu ihnen herunter. Sie hörten das Knattern von Rotoren. »Merkt ihr was? Die Ratten verlassen das Schiff.«
   »Was ist los mit Li?« Anawak schüttelte fassungslos den Kopf. »Warum hat sie Sue erschossen?«
   »Sie wollte auch mich umbringen. Li wird jeden töten, der ihr im Wege steht. Sie war nie interessiert an einer friedlichen Lösung.«
   »Aber mit welchem Ziel?«
   »Egal«, sagte Johanson. »Ihr Zeitplan dürfte sich stark verknappt haben. Jemand muss sie aufhalten. Sie darf dieses Zeug nicht nach unten bringen.«
   »Richtig«, sagte Weaver. »Dafür bringen wir das nach unten.«
   Erst jetzt schien Johanson den Kasten in Weavers Händen zu bemerken. Er riss die Augen auf.
   »Sind das die Pheromon-Extrakte?«
   »Ja. Sues Vermächtnis.«
   »Gut, aber wie hilft uns das im Augenblick weiter?«
   »Na ja, ich habe eine Idee.« Sie zögerte. »Keine Ahnung, ob sie funktioniert. Ich hatte sie schon gestern, aber sie schien mir nicht wirklich durchführbar zu sein. — Inzwischen hat sich einiges geändert.«
   Sie erklärte es ihnen.
   »Klingt gut«, beschied Anawak. »Aber das erfordert äußerste Schnelligkeit. Im Grunde bleiben uns nur Minuten. Sobald der Kahn absäuft, sollten wir irgendwo auf dem Trockenen sein.«
   »Ich weiß vor allen Dingen nicht, wie genau wir es bewerkstelligen können«, gab Weaver zu.
   »Aber ich.« Anawak zeigte zur Rampe. »Wir brauchen ein Dutzend subkutaner Spritzen. Darum kümmere ich mich. Ihr geht runter und macht das Tauchboot klar.« Er überlegte. »Und wir brauchen … Warte mal! Meinst du, im Labor findest du jemanden …?«
   »Ja. Finde ich. Wo willst du die Spritzen auftreiben?«
   »Im Hospital.«
   Über ihnen verstärkte sich der Lärm. Sie sahen einen Helikopter im Durchgang zum Backbordlift auftauchen und dicht über die Wellen hinwegziehen. Der Stahl des Hangardecks ächzte. Das ganze Schiff begann sich zu verformen.
   »Beeil dich«, sagte Weaver.
   Anawak sah ihr in die Augen. Einen Moment lang hingen sie aneinander fest. Verdammt, dachte Weaver, warum erst jetzt?
   »Verlass dich drauf«, sagte er.
 
Evakuierung
 
   Im Gegensatz zu den meisten Menschen auf der Independence wusste Crowe ziemlich genau, was geschehen war. Die Rumpfkameras hatten den Aufstieg der leuchtenden Kugel auf die Monitore übertragen. Der Ball hatte aus Gallerte bestanden, so viel stand fest, und als er geplatzt war, hatte sich Gas aus seinem Innern ausgedehnt. Methangas möglicherweise. Inmitten der wild trudelnden Blasen hatte sie einen Umriss zu erkennen geglaubt, der ihr bekannt vorkam: Es war ein Tauchboot gewesen, das da auf die Independence zugerast kam.
   Ein Deepflight, bestückt mit Torpedos.
   Unmittelbar nach der Explosion war die Hölle ausgebrochen. Shankar war mit dem Schädel gegen die Konsole geprallt und blutete heftig. Crowe hatte ihm aufgeholfen, dann waren Soldaten und Techniker ins CIC gestürmt und hatten sie nach draußen bugsiert. Der heisere Intervallton des Alarms trieb sie vorwärts. In den Niedergängen drängten sich die Menschen, aber noch schien die Mannschaft der Independence die Situation unter Kontrolle zu haben. Ein Offizier nahm sie in Empfang und lief mit ihnen zu einer heckwärts gelegenen Treppe, die nach oben führte.
   »Durch die Insel raus aufs Flugdeck«, sagte er. »Nicht stehen bleiben. Anweisungen abwarten.«
   Crowe schob den benommenen Shankar die Treppe hinauf. Sie war klein und zierlich und Shankar groß und schwer, aber sie nahm all ihre Kraft zusammen.
   »Beweg dich, Murray!«, keuchte sie.
   Shankars Hände umfassten zitternd die Sprossen. Er zog sich unter Mühen nach oben. »Ich hatte mir eine Kontaktaufnahme immer anders vorgestellt«, hustete er.
   »Du hast eben die falschen Filme gesehen.«
   Eine Zigarette fehlte ihr jetzt zur Beruhigung. Bekümmert dachte sie an die eine, die sie erst Sekunden vor der Explosion angesteckt hatte. Sie lag qualmend im CIC. So eine Schande. Was hätte sie für eine Zigarette gegeben! Noch einmal eine rauchen, bevor hier alle den Löffel abgaben. Irgendetwas sagte ihr, dass ihre Überlebenschancen nicht besonders hoch waren.
   Nein, fuhr es ihr durch den Kopf. Blödsinn! Wir sind ja gar nicht auf Rettungsboote angewiesen.
   Wir haben die Helikopter!
   Erleichterung durchflutete sie. Shankar hatte das obere Ende des Niedergangs erreicht. Hände streckten sich ihm entgegen. Crowe folgte ihm und fragte sich, ob sie nicht soeben genau die Art von Kontakt erlebten, in der die menschliche Rasse so bewandert war — aggressiv, unbarmherzig, tödlich.
   Soldaten zogen sie ins Innere der Insel.
   Hey, Miss Alien, dachte sie. Immer noch fasziniert von der Möglichkeit intelligenten Lebens im All?
   »Haben Sie eine Zigarette?«, fragte sie einen der Soldaten.
   Der Mann starrte sie an.
   »Sind Sie noch bei Trost? Machen Sie, dass Sie nach draußen kommen!«
 
Buchanan
 
   Auf der Brücke stand Buchanan mit dem Zweiten Offizier und dem Steuermann zusammen, ließ sich fortwährend auf den neuesten Stand bringen und gab Anweisungen. Er blieb ruhig und besonnen. Wie es aussah, hatte die Explosion einen Teil der Laderäume und des Maschinenraums zerstört. Mit den Laderäumen hätten sie leben können, aber im Maschinenraum war es offenbar zu einer Kettenreaktion in den Kraftstoff-und Flüssigkeitssystemen gekommen. Weitere Explosionen waren die Folge. Nacheinander fielen sämtliche Systeme aus. Der Elektrizitätsbedarf des Schiffes wurde durch eine ganze Serie motorgetriebener Stromaggregate abgedeckt. Neben den beiden LM-2500-Gasturbinen versorgten sechs Dieselelektronik-Generatoren die Independence mit Energie, die sich gerade der Reihe nach verabschiedeten. Tief in den Katakomben unter den Fahrzeug— und Frachtdecks herrschte vermutlich kein Leben mehr. Buchanan hatte die Maschinenraumcrew im Moment, da er die Anweisung zum Schließen der Schotts gegeben hatte, dem Tode preisgegeben, aber er konnte sich jetzt nicht den Luxus leisten, darüber nachzudenken. Sie mussten das Schiff evakuieren. Er wagte keine Aussage zu treffen, wie lange es da unten noch einigermaßen stabil blieb. Der Aufschlag war mittschiffs erfolgt. Dennoch hatten sie nicht verhindern können, dass ein Teil der bugwärts gelegenen Frachträume überflutet wurde, sodass die Independence nun nach vorn wegsackte.
   Es war zu viel Wasser im Rumpf. Unter enormem Druck würde es sich seinen Weg in die Bugspitze bahnen und die Schotts zum nächsthöheren Level aufbrechen. Wenn dann noch die achterlichen Schotts nachgaben, drohte das gesamte Schiff voll zu laufen.
   Buchanan gab sich keinen Illusionen darüber hin, dass es geschehen würde. Es stellte sich lediglich die Frage nach dem Wann. Die Meisterung dieser Krise hing einzig an ihm und seiner Fähigkeit, die Lage richtig zu bewerten. Augenblicklich schätzte er, dass als Nächstes das Fahrzeugfrachtdeck unter dem Labor dran war und ein Teil der angrenzenden Unterkünfte. Das Einzige, was ihn an der ganzen Sache überhaupt tröstete, war der Umstand, dass keine Marines an Bord waren. Im Kriegsfall hätte er rund 3000 Mann von Bord bekommen müssen. Jetzt waren es eben mal 180, und sie hielten sich in den oberen Levels auf.
   Einige der Monitore, die das Big Picture aus dem CIC auf die Brücke übertrugen, waren ausgefallen. Direkt über Buchanans Kopf leuchtete das verplombte rote Telefon, das ihn in Ausnahmesituationen direkt mit dem Pentagon verband. Sein Blick wanderte über die praktisch und logisch angeordneten Kommunikationsgeräte, Navigationsinstrumente und Kartentische. Nichts davon half ihnen jetzt noch weiter.
   Nutzloser Kram.
   Auf dem Dach entwickelte das Landungspersonal hektische Betriebsamkeit. Menschen wurden aus der Insel aufs Flugdeck geführt und in bereitstehende Helikopter gelotst, die mit laufenden Rotoren warteten, alles im Laufschritt. Buchanan sprach kurz mit der Flugleitzentrale und sah wieder durch die grünen Scheiben der Brücke nach draußen. Ein Helikopter hatte bereits abgehoben und entfernte sich schnell vom Schiff. Es konnte nicht schnell genug gehen. Wenn sich der Bug weiter neigte, verwandelte sich das Flugdeck in eine Rutschbahn. Die Fluggeräte waren gut gesichert, aber irgendwann würde es kritisch werden.
 
LEVEL 03
 
   Anawak begegnete nicht vielen Menschen. Er fürchtete, Li und Peak in die Arme zu laufen, aber die beiden waren offenbar in entgegengesetzte Richtung unterwegs. Atemlos und mit schmerzendem Brustkorb hetzte er den Gang zur Krankenstation entlang.
   Das Hospital lag verlassen da. Keine Spur von Angelí und seinem Personal. Er gelangte in verschiedene Räume voller Betten, bevor er endlich einen Raum für medizinisches Equipment fand. Dort sah es aus wie nach einem Erdbeben. Schränke standen offen, der Boden war bedeckt mit Scherben, die unter seinen Schritten knirschten. Nacheinander zog er alle Schubladen auf und kramte in den trümmerübersäten Regalböden, ohne eine einzige Spritze zu finden.
   Wo waren die verdammten Spritzen?
   Wo waren sie normalerweise, wenn man zum Arzt ging? Immer in irgendwelchen Schubladen. Das wusste er genau. In kleinen, weiß lackierten Schränkchen mit vielen Schubladen.
   Tief unter ihm rumorte es. Hohles Stöhnen drang zu ihm herauf. Stahl verbog sich.
   Anawak hastete in den gegenüberliegenden Raum. Auch dort war alles Mögliche zu Bruch gegangen, doch einige der lackierten Schränkchen schienen fest installiert. Er zog sie auf, sah überall hinein, warf achtlos den Inhalt hinter sich und fand im letzten endlich, wonach er suchte. Hastig griff er ein Dutzend der steril verpackten Spritzen und verstaute sie in seiner Jacke. Jetzt nichts wie zurück.
   Was für eine aberwitzige Idee.
   Entweder hatte Karen Recht, dann war es ein genialer Plan, oder sie machten sich völlig falsche Vorstellungen von der Realität. Einerseits plausibel, mutete ihr Vorschlag zugleich undurchführbar und naiv an, zumal vor dem Hintergrund der ausgeklügelten Botschaften, die Crowe in die Tiefe geschickt hatte. Andererseits …
   Crowe? Wo war sie eigentlich?
   Samantha Crowe, die ihm im Traum erschienen war vor langer Zeit und ihm den Weg gewiesen hatte nach Nunavut.
   Ein mächtiges Klonk drang an seine Ohren, als sei eine Glocke zersprungen. Der Boden neigte sich weiter. Aus den Tiefen des Schiffs drang dumpfes Rauschen an sein Ohr.
   Wasser!
   Anawak fragte sich, ob ihm überhaupt noch Zeit blieb, hier wieder rauszukommen. Dann fragte er sich gar nichts mehr und rannte los.
 
Labor
 
   Weaver wusste nicht, was sie erwartete. Ihr war mulmig beim Gedanken, die Tür zum Labor wieder zu öffnen. Aber wenn sie den Plan in die Tat umsetzen wollten, bot das Labor die einzige Chance.
   Der Boden bebte. Unmittelbar unter ihren Füßen rauschte und gurgelte es. Johanson lehnte schwer atmend neben ihr.
   »Mach schon«, sagte er.
   Weaver sah das rote Emergency-Symbol über dem Tastenfeld blinken. Li hatte es tatsächlich geschafft, noch im Herauslaufen die Notverriegelung zu betätigen und das Labor hermetisch abzuriegeln. Sie drückte die Zahlenkombination, und die Tür glitt auf. Wasser schwappte ihnen entgegen und umfloss ihre Beine. Es schoss aus dem hell erleuchteten Raum, aber anstatt die Rampe herunterzufließen, sammelte es sich um ihre Knöchel und stieg. Plötzlich wusste Weaver auch, warum. Die Independence hing so schief, dass es nicht über die Rampe zum Welldeck abfließen konnte. Wahrscheinlich hatte sich dieser Teil der Rampe infolge der Neigung schon in ebenen Boden verwandelt.
   Sie wich zurück. »Wir müssen aufpassen«, sagte sie. »Das Zeug könnte nach draußen gelangt sein.« Johanson warf einen Blick ins Innere. In unmittelbarer Nähe des zerborstenen Tanks sah er zwei leblose Körper treiben. Mit vorsichtigen Schritten watete er durch den Sog des ausströmenden Wassers in die große Halle. Weaver folgte ihm. Ihr erster Blick galt den Containern des Hochsicherheitslaboratoriums, aber sie waren augenscheinlich unversehrt. Sie verspürte Erleichterung. Eine Verseuchung mit Pfiesterien war das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnten. Zum Heck hin stieg der Boden sanft aus dem Wasser.
   Dafür stand es zur anderen Seite umso höher. »Sie sind alle tot«, flüsterte Weaver. Johanson kniff die Augen zusammen. »Da!« Ein Stück neben den Soldaten trieb ein weiterer Körper. Es war Rubin. Weaver schluckte ihren Abscheu und ihre Angst herunter. »Einen davon brauchen wir«, sagte sie. »Welchen, ist egal.« »Dafür müssen wir tiefer rein.« »Ja. Nicht zu ändern.« Sie setzte sich in Bewegung. »Karen, pass auf!« Das war Johanson. Sie wollte sich umdrehen, als etwas von hinten gegen sie prallte. Ihre Füße rutschten weg. Mit einem Aufschrei landete sie im Wasser, kam prustend hoch und drehte sich auf den Rücken.
   Einer der Soldaten stand dort und hielt sie und Johanson mit einem massigen, schwarzen Gewehr in Schach.
   »Oh nein«, sagte er gedehnt. »Oooh, nein.«
   Sein Blick spiegelte eine Mischung aus Todesangst und einsetzendem Wahnsinn. Weaver richtete sich langsam auf und hob die Hände, sodass er ihre Handflächen sehen konnte.
   »Oh nein«, wiederholte der Mann.
   Er war sehr jung. Weaver schätzte ihn auf neunzehn. Das Gewehr in seinen Händen zitterte. Er wich einen Schritt zurück und ließ seine Blicke zwischen ihr und Johanson hin— und herwandern.
   »Hey«, sagte Johanson. »Wir wollen Ihnen helfen.«
   »Ihr habt uns eingeschlossen«, sagte der Soldat. Es klang weinerlich, als sei er kurz davor loszuschreien.
   »Das waren nicht wir«, sagte Weaver.
   »Ihr habt uns mit … mit diesem … Ihr habt uns damit allein gelassen.«
   Das fehlte noch. Die Independence sank, sie mussten Li aufhalten, irgendwie an einen der Toten kommen, um den Plan durchzuführen, und jetzt bekamen sie es auch noch mit diesem in Panik geratenen Jungen zu tun.