»Ihr seid nicht gerade ein Muster an Pünktlichkeit«, rief er übellaunig.
   »Mann, Leon! Zehn Minuten.« Shoemaker kam ihm entgegen, Delaware im Schlepptau und einen jungen, bulligen Schwarzen mit Sonnenbrille und rasiertem Schädel. »Sei nicht so verdammt kleinkariert. Wir mussten auf Danny warten.«
   Anawak schüttelte dem Bulligen die Hand. Der Mann grinste freundlich. Er war Armbrustschütze in der Kanadischen Armee und offiziell zu Anawaks Verfügung abkommandiert worden. Seine Waffe, eine mit Hightech voll gestopfte Hochpräzisionsarmbrust, hatte er mitgebracht.
   »Sie ham ‘ne schöne Insel hier«, sagte Danny gedehnt. Ein Kaugummi wanderte bei jedem seiner Worte im Mund herum und ließ die Worte klingen, als müssten sie sich ihren Weg durch Sumpfgebiet bahnen. »Was soll ich ‘n eigentlich machen?«
   »Hat man Ihnen nichts gesagt?«, wunderte sich Anawak.
   »Doch, schon. Ich soll mit ‘ner Armbrust auf’n Wal schießen. Hab mich nur gewundert. Dachte, so was wär verboten.«
   »Ist es auch. Kommen Sie, ich erklär’s Ihnen im Flieger.«
   »Warte mal.« Shoemaker hielt ihm eine aufgeschlagene Zeitung hin. »Schon gelesen?«
   Anawak überflog die Schlagzeile.
   »Der Held von Tofino ?«, sagte er ungläubig.
   »Greywolf verkauft sich gut, was? Das Arschloch macht einen auf bescheiden in dem Interview, aber lies mal, was er weiter unten sagt. Du kriegst das Kotzen.«
   »… habe nur meine Pflicht als kanadischer Bürger getan«, murmelte Anawak. »Natürlich waren wir in Todesgefahr, aber ich wollte wenigstens ein bisschen von dem wieder gutmachen, was mit verantwortungslosem Whale Watching angerichtet wurde. Unsere Gruppe hat schon vor Jahren darauf hingewiesen, dass die Tiere einem gefährlichen Stress ausgesetzt werden, dessen Auswirkungen unmöglich abzuschätzen sind. — Spinnt der denn komplett?«
   »Lies weiter.«
   »Davies Whaling Station ist sicher nicht der Vorwurf zu machen, dass sie sich falsch verhalten hätten. Aber sie haben sich eben auch nicht richtig verhalten. Profitabler Waltourismus unter dem Deckmäntelchen des Umweltschutzes ist nicht weniger schlimm als die Verlogenheit der Japaner, deren Flotten in arktischen Gewässern bedrohten Walarten nachstellen. Auch hier wird offiziell von wissenschaftlichen Zwecken gesprochen, obwohl 2002 über 400 Tonnen Walfleisch als Delikatesse in Großhandelsmärkten landeten, die nach genetischer Untersuchung eindeutig den so genannten wissenschaftlichen Forschungsobjekten zugeordnet werden konnten.«
   Anawak ließ die Zeitung sinken. »Dieser Drecksack.«
   »Stimmt es denn nicht, was er sagt?«, wollte Delaware wissen. »Soweit ich weiß, verscheißern die Japaner uns tatsächlich mit diesem angeblichen Forschungsprogramm.«
   »Natürlich stimmt es«, schnaubte Anawak. »Das ist ja das Perfide. Greywolf bringt uns damit in Zusammenhang.«
   »Ich weiß beim besten Willen nicht, was er damit erreichen will«, sagte Shoemaker kopfschüttelnd.
   »Was schon? Sich wichtig machen.«
   »Na ja, er …« Delawares Hände vollführten eine sachte Bewegung. »Ein Held ist er schon irgendwie.«
   Es klang, als kämen die Worte auf Zehenspitzen daher. Anawak funkelte sie an. »Ach ja?«
   »Doch, schon. Er hat Menschenleben gerettet. Ich find es ja auch nicht fair, dass er jetzt über euch herfällt, aber zumindest war er mutig und …«
   »Greywolf ist nicht mutig«, knurrte Shoemaker. »Alles, was diese Ratte unternimmt, geschieht aus Berechnung. Aber diesmal hat er sich geschnitten. Er wird Ärger mit den Makah bekommen. Sie werden nicht gerade amüsiert sein, dass ihr selbst ernannter Blutsbruder so vehement gegen den Walfang zu Felde zieht. Stimmt’s, Leon?«
   Anawak schwieg.
   Danny bewegte seinen Kaugummi von rechts nach links.
   »Wann geht’s ‘n los?«, fragte er.
   Im selben Moment rief der Pilot ihnen aus der offenen Tür des Flugzeugs etwas zu. Anawak wandte den Kopf und sah den Mann winken. Er wusste, was das bedeutete. Ford hatte sich gemeldet. Es war so weit. Ohne auf Shoemakers letzte Äußerung einzugehen, schlug er dem Geschäftsführer auf die Schulter. »Wenn du zurück in die Station fährst, könntest du mir einen Gefallen tun?«
   »Klar.« Shoemaker zuckte die Achseln. »Wir haben ja dank gewisser Umstände alle Zeit der Welt.«
   »Kannst du rauskriegen, ob in den letzten Wochen was über die Havarie der Barrier Queen in den Zeitungen stand? Oder im Internet? Und ob was im Fernsehen kam?«
   »Ja, natürlich. Warum denn?«
   »Nur so.«
   »Nur so gibt’s nicht.«
   »Weil ich glaube, dass nichts berichtet wurde.«
   »Hm.«
   »Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern. Du?«
   Shoemaker legte den Kopf in den Nacken und blinzelte in die Sonne. »Nein. Nur irgendwelches diffuses Zeug über Schiffskatastrophen in Asien. Muss aber nichts heißen. Ich hab aufgehört zu lesen, seitdem uns hier alles um die Ohren fliegt. — Aber du hast Recht. Wenn ich so drüber nachdenke, wird überhaupt wenig berichtet über den ganzen Schlamassel.«
   Anawak starrte düster zu dem Flugzeug hinüber.
   »Ja«, sagte er. »Gehen wir.«
   Als die Maschine abhob, sagte Anawak zu Danny: »Sie schießen eine Sonde in den Blubber des Wals. Blubber ist der wissenschaftliche Begriff für die Speckschicht. Schmerzunempfindlich. Wir hatten jahrelang das Problem, Sender über längere Zeit auf Walhaut zu befestigen. Vor kurzem kam ein Biologe aus Kiel auf die Idee, eine Armbrust mit speziellen Pfeilen auszurüsten, an deren Schaft ein Sender und ein Messgerät befestigt sind. Die Spitze bohrt sich in den Speck, und der Wal trägt die Geräte ein paar Wochen spazieren, ohne es zu merken.«
   Danny sah ihn an. »‘n Biologe aus Kiel? Sehr schön.«
   »Sie glauben, es funktioniert nicht?«
   »Doch. Ich frag mich nur, ob sich jemand bei dem Wal versichert hat, dass es wirklich nicht wehtut. Das ist ‘n verdammter Präzisionsjob. Woher wollen Sie wissen, ob die Spitze nicht doch tiefer eindringt als bis in den Speck?«
   »Schweinehälften«, sagte Anawak.
   »Schweinehälften?«
   »Sie haben die Waffe an Schweinehälften getestet. So lange, bis sie genau wussten, wie tief die Spitze eindringt. Alles eine Frage der Berechnung.«
   »Sieh mal an«, sagte Danny und hob die Brauen über den Rand seiner Sonnenbrille. »Biologen.«
   »Und was passiert, wenn man damit auf einen Menschen feuert?«, fragte Delaware vom Rücksitz. »Dringt die Spitze dann auch nur ein Stück ein?«
   Anawak drehte sich zu ihr um. »Ja. Ein Stück zu viel. Sie tötet ihn.«
   Die DHC-2 flog eine Kurve. Unter ihnen funkelte die Lagune.
   »Wir hatten am Ende verschiedene Optionen«, sagte Anawak. »Bei allen stand im Vordergrund, dass wir die Wale eine Zeit lang am Stück beobachten können. Die Armbrustbesondung erwies sich als sicherste Methode. Der Fahrtenschreiber speichert Herzfrequenz, Körper— und Umgebungstemperatur, Tiefe, Schwimmgeschwindigkeit und einiges mehr. Schwieriger ist es, Wale mit Kameras auszurüsten.«
   »Warum können wir mit der Armbrust nich’ auch Kameras verschießen?«, fragte Danny. »Wär doch einfach.«
   »Weil Sie nie wissen, wie die Kamera auftrifft. Außerdem würde ich die Wale gerne sehen. Ich möchte sie beobachten, und das geht nur, wenn die Kamera ein Stück weit weg ist statt auf ihnen drauf.«
   »Darum setzen wir jetzt den URA ein«, erklärte Delaware. »Das ist ein neuartiger Roboter aus Japan.« Anawak verzog amüsiert die Lippen. Delaware klang, als habe sie das Gerät höchstpersönlich erfunden. Danny sah sich um. »Ich seh keinen Roboter.« »Er ist auch nicht hier.«
   Das Flugzeug hatte offenes Meer erreicht und zog dicht über die Dünung hinweg. Normalerweise waren immer kleine Dampfer, Zodiacs oder Kajaks vor Vancouver Island unterwegs gewesen, aber selbst der Mutigste wagte sich nicht mehr nach draußen. Nur noch große Frachter und Fähren, denen die Wale nichts anhaben konnten, zogen weit draußen vorbei. So lag die Wasseroberfläche verödet da bis auf ein einziges bulliges Schiff. Es sah aus, als könne nichts und niemand es versenken, geschweige denn in anderweitige Schwierigkeiten bringen. Das Flugzeug entfernte sich vom Uferfelsen und hielt darauf zu.
   »Der URA ist auf der Whistler. Dem Schlepper dort«, sagte Anawak. »Wenn es so weit ist, dass wir unseren Wal gefunden haben, kommt seine große Stunde.«
   John Ford stand im Heck der Whistler und schirmte die Augen mit der Hand gegen das harte Sonnenlicht ab. Er sah die DHC-2 schnell näher kommen. Sekunden später zog das Flugzeug dicht über den Schlepper hinweg und flog eine großräumige Kurve.
   Er hielt das Funkgerät an den Mund und rief Anawak auf der abhörsicheren Frequenz. Eine ganze Reihe von Frequenzen war für militärische und wissenschaftliche Zwecke gesperrt worden.
   »Leon? Alles klar?«
   »Ich höre dich, John. Wo hast du sie das letzte Mal gesehen?«
   »Nordwestlich. Keine zweihundert Meter von uns. Vor etwa fünf Minuten hatten wir eine Reihe von Sichtungen, aber sie halten sich fern. Es müssen acht bis zehn Tiere sein. Zwei haben wir eindeutig identifiziert. Einer war am Angriff auf die Lady Wexham beteiligt, der andere hat letzte Woche einen Fischtrawler vor Ucluelet versenkt.«
   »Sie haben nicht versucht, euch anzugreifen?«
   »Nein. Wir sind ihnen offenbar zu groß.«
   »Und untereinander? Wie verhalten sie sich untereinander?«
   »Friedlich.«
   »Gut. Wahrscheinlich alle von derselben Bande, aber wir sollten uns auf die Identifizierten konzentrieren.«
   Ford schaute der DHC-2 hinterher, wie sie kleiner wurde, sich langsam schräg legte und in großem Bogen zurückkam. Sein Blick wanderte zur Brücke der Whistler. Das Schiff war ein Hochsee-Bergungsschlepper aus Vancouver und im Besitz eines privaten Unternehmens, über 63 Meter lang und fast 15 Meter breit. Mit einem Pfahlzug von 160 Tonnen gehörte die Whistler zu den stärksten Schleppern der Welt. Eindeutig zu groß und schwer, als dass ein Wal ihr hätte gefährlich werden können. Ford schätzte, dass nicht einmal der Sprung eines Buckelwals geradewegs ins Heck mehr bewirken würde als heftiges Schaukeln.
   Dennoch fühlte er sich unwohl. Hatten die Wale anfangs alles angegriffen, was schwamm, so schienen sie mittlerweile sehr genau einschätzen zu können, wo sie Schaden anrichten konnten und wo nicht. Bis jetzt waren neben den omnipräsenten Orcas, Grau— und Buckelwalen auch Finnwale und Pottwale auf Schiffe losgegangen. Alle diese Tiere hatten offenbar fleißig dazugelernt. Den Schlepper würden sie nicht attackieren, so viel stand fest. Und genau das war es, was Ford am meisten beunruhigte. Eine Art Tollwut wäre nicht mit dieser wachsenden Fähigkeit zur Differenzierung einhergegangen. Er ahnte die Intelligenz hinter dem Handeln der Säuger, und er fragte sich, wie sie auf den Roboter reagieren würden.
   Ford funkte die Brücke an. »Es geht los«, sagte er.
   Über ihm kreiste die DHC-2.
   Nach der Identifizierung diverser Angreifer anhand von Videos und Bildern hatten sie begonnen, aktiv nach den Tieren Ausschau zu halten. Seit drei Tagen fuhr der Schlepper die Route vor Vancouver Island ab. Am heutigen Morgen waren sie endlich fündig geworden. In einem Rudel Grauwale erkannten sie zwei Flukenmuster wieder, die sie auf Fotos und Videos von angreifenden Tieren gesehen hatten.
   Ford fragte sich, ob sie überhaupt eine Chance bekämen, die Wahrheit rechtzeitig aufzudecken. Mit Schaudern dachte er an die lauter werdenden Stimmen aus den Fischereiverbänden und Reedereien, denen der sanfte Kurs des wissenschaftlichen Beirats nicht weit genug ging. Sie forderten den Einsatz militärischer Gewalt — ein paar tote Wale, und der Rest der Viecher würde schon einsehen, dass es keine gute Idee war, Menschen anzugreifen. Das Ansinnen war ebenso naiv wie gefährlich, weil es auf fruchtbaren Boden fiel. Tatsächlich verspielten die Meeressäuger augenblicklich auf inflationäre Weise den Kredit, um den Tierschützer und Ethiker so lange gerungen hatten. Noch trat der Krisenstab den Forderungen mit dem Argument entgegen, dass Gewalt nichts bewirke, solange man nicht die Ursache für die Verhaltensänderung der Tiere kenne. Allenfalls ließen sich Symptome bekämpfen. Ford wusste nicht, wie die Regierung in letzter Konsequenz entscheiden würde, aber dass Fischer und illegale Walfänger kurz davor standen, auf eigene Faust loszuziehen, zeichnete sich ab. Die allgemeine Ratlosigkeit angesichts der Frage, wie man vorgehen solle, wurde nur noch übertroffen von der Uneinigkeit der streitenden Parteien. Ein idealer Nährboden für Alleingänge.
   Krieg auf dem Meer.
   Ford betrachtete den Roboter im Heck.
   Er war gespannt darauf, was der URA leisten würde, den sie so schnell und unbürokratisch aus Japan erhalten hatten. Seine Entwicklung lag nur wenige Jahre zurück. Die Japaner beharrten darauf, das Gerät diene der Forschung und nicht der Jagd. Westliche Umweltschützer vernahmen die Aussage mit Skepsis. Das drei Meter lange zylindrische Gebilde, dicht bestückt mit Messinstrumenten und hoch sensiblen Kameras, galt ihnen als Höllenmaschine, um ganze Walschulen aufzuspüren im Hinblick auf ein mögliches Ende des internationalen Walfangmoratoriums von 1986. Nachdem der URA vor den japanischen Kerama-Inseln erfolgreich Buckelwale geortet hatte und ihnen über einen längeren Zeitraum gefolgt war, hatte der Roboter auch auf dem Internationalen Meeres-säuger-Symposium in Vancouver Anklang gefunden. Doch das Misstrauen blieb. Es war kein Geheimnis, dass sich Japan systematisch die Unterstützung armer Länder erkaufte mit dem Ziel, das Moratorium aufheben zu lassen. Die japanische Regierung rechtfertigte den konspirativen Kuhhandel als ›Diplomatie‹ — dieselben Regierungsleute, die maßgeblich die Universität von Tokio subventionierten, zu der auch Lira’s Underwater Robotics amp; Application Laboratory Team gehörte, die den Roboter entwickelt hatten.
   »Vielleicht tust du ja heute was Sinnvolles«, sagte Ford leise zu dem URA. »Rette deinen Ruf.«
   Das Gerät funkelte in der Sonne. Ford trat an die Reling und spähte hinaus. Aus der Luft waren die Wale besser zu sehen, vom Schiff aus besser zu identifizieren. Nach einer Weile tauchten nacheinander einige Grauwale auf und pflügten durch die Wellen.
   Die Stimme des Beobachtungspostens von der Brücke erklang im Funkgerät.
   »Rechts hinter uns. Lucy.«
   Ford wirbelte herum, hob den Feldstecher und sah gerade noch eine schartige, steingraue Fluke abtauchen.
   Lucy!
   Einer der Wale hieß so. Ein kapitaler Grauwal von 14 Metern Länge. Lucy hatte sich gegen die Lady Wexham geworfen. Vielleicht war es sogar Lucy gewesen, die den dünnwandigen Rumpf aufgerissen hatte, sodass Wasser eingedrungen und das Schiff voll gelaufen war.
   »Bestätigt«, sagte Ford. »Leon?«
   Über die isolierte Frequenz waren alle miteinander verbunden. Die Insassen der DHC-2 hörten, was an Bord der Whistler gesprochen wurde.
   »Bestätigt«, sagte Anawak im Funkgerät.
   Ford blinzelte in die Sonne und sah das Flugzeug tiefer gehen, wo die Fluken verschwunden waren.
   »Na dann«, sagte er mehr zu sich selbst. »Waidmannsheil.«
   Aus einhundert Metern Höhe wirkte selbst der wuchtige Schlepper wie ein liebevoll gebasteltes Modell. Dafür erschienen die Meeressäuger umso größer. Anawak sah mehrere Grauwale dicht unter der Wasseroberfläche dahinziehen, ruhig und gemächlich. Gebrochenes Sonnenlicht tanzte auf den kolossalen Körpern. Jedes der Tiere war vollständig zu sehen. Obwohl nur knapp ein Viertel so lang wie die Whistler, nahmen sie sich geradezu absurd gewaltig aus.
   »Weiter runter«, sagte er.
   Die DHC-2 ging tiefer. Sie zogen über das Rudel hinweg und näherten sich der Position, an der Lucy abgetaucht war. Anawak hoffte, dass der Wal nicht auf Fresstour gegangen war. In dem Fall würden sie lange warten müssen. Aber möglicherweise war es hier nicht seicht genug. Ebenso wie Buckelwale ernährten sich auch Grauwale auf ganz eigene Weise. Sie tauchten auf Grund und weideten die Sedimente ab, indem sie sich seitwärts drehten und bodenbewohnende Organismen in sich hineinsaugten, Kleinkrebse, Zooplankton und ihre Leibspeise, Fadenwürmer. Gewaltige Furchen solcher Fressorgien überzogen die Böden vor Vancouver Island, aber dafür verirrten sich die grauen Riesen selten in tiefere Gewässer.
   »Gleich wird’s ein bisschen zugig«, sagte der Pilot. »Danny?«
   Der Schütze grinste einmal in die Runde. Dann öffnete er die Seitentür und klappte sie zurück. Ein Schwall kalter Luft drang herein und wirbelte die Haare der Insassen durcheinander. Von einem Moment zum anderen wurde es brüllend laut im Innenraum. Delaware langte hinter sich und reichte Danny die Armbrust.
   »Sie werden nicht viel Zeit haben«, sagte Anawak. Er musste laut sprechen, um gegen das Knattern des Windes und den Motorenlärm anzukommen. »Wenn Lucy auftaucht, bleiben ihnen nur wenige Sekunden, um die Sonde zu platzieren.«
   »Wohl eher euer Problem als meines«, erwiderte Danny. Er schob sich, die Armbrust in der Rechten, aus dem Sitz, bis er halb im Gestänge unter dem Flügel saß. »Bringt mich einfach schön nah ran.«
   Delaware schüttelte mit runden Augen den Kopf. »Ich kann nicht hinsehen.«
   »Was?«, fragte Anawak.
   »Das geht doch nicht. Ich seh ihn schon im Wasser liegen.«
   »Keine Bange«, lachte der Pilot. »Die Jungs können noch ganz andere Sachen.«
   Das Flugzeug schoss dicht über den Wellen dahin, jetzt knapp auf Augenhöhe mit der Brücke der Whistler. Sie überflogen die Stelle, an der Lucy abgetaucht war. Nichts war zu sehen.
   »Kreisen«, rief Anawak dem Pilot zu. »Sehr eng. Lucy wird ziemlich genau dort wieder auftauchen, wo sie verschwunden ist.«
   Die DHC-2 legte sich abrupt in die Kurve. Plötzlich schien das Meer auf sie zuzukippen. Danny hing wie ein Affe in den Stangen, eine Hand am Türrahmen, in der anderen die gespannte Armbrust. Unter ihnen zeichnete sich die Silhouette eines auftauchenden Wales ab. Dann durchbrach ein grauer, glänzender Buckel die Wasseroberfläche.
   »Juchhu!«, brüllte Danny.
   »Leon!« Das war Ford über Funk. »Das ist der Falsche.
   Lucy schwimmt uns steuerbord voraus.«
   »Verdammt!«, fluchte Anawak.
   Er hatte sich verschätzt. Lucy war offenbar fest entschlossen, sich nicht an die Regel zu halten.
   »Danny! Nicht.«
   Das Flugzeug hörte auf zu kreisen und sank noch tiefer. Die Wellen jagten unter ihnen dahin. Sie näherten sich dem Heck des Schleppers. Einen Moment lang sah es aus, als flögen sie geradewegs in die aufragenden Bauten der Whistler hinein, dann korrigierte der Pilot den Kurs, und sie zogen dicht an dem klobigen Schiff vorbei. Ein Stück voraus tauchte Lucy erneut ab und ließ die Schwanzflosse sehen. Auch Anawak erkannte das Tier jetzt an den charakteristischen Kerben in der Fluke.
   »Drosseln«, sagte er.
   Der Pilot verringerte die Geschwindigkeit, aber natürlich waren sie immer noch zu schnell. Wir hätten einen Helikopter nehmen sollen, dachte Anawak. Jetzt würden sie übers Ziel hinausschießen und wieder wenden müssen, in der Hoffnung, dass der Wal sich ihren Blicken nicht entzogen hatte.
   Aber Lucy war nicht in der Tiefe verschwunden. Ihr gewaltiger Körper glänzte im Sonnenlicht.
   »Überholen, wenden, runter!«
   Der Pilot nickte. »Und bitte nicht kotzen«, fügte er hinzu.
   Er kippte das Flugzeug so plötzlich ab, dass es schien, als habe er es auf die Flügelspitze gestellt. Durch die offene Tür funkelte eine senkrechte Wand aus Wasser, beängstigend nah. Delaware schrie auf, während Danny mit seiner Armbrust vor Vergnügen johlte.
   Jede Achterbahn stank dagegen ab.
   Anawak erlebte den Moment wie in Zeitlupe. Nie hätte er für möglich gehalten, dass man ein Flugzeug praktisch wie einen Zirkel drehen konnte, wenn man sich die Flügelspitze als Nadel vorstellte. Die Maschine beschrieb einen perfekten Halbkreis und kippte ebenso unvermittelt zurück in die Waagerechte.
   Mit dröhnendem Propeller hielt sie auf den Wal und die herannahende Whistler zu.
   Ford beobachtete mit angehaltenem Atem, wie das Flugzeug nach dem haarsträubenden Wendemanöver zurückkam. Die Kufen berührten fast das Wasser. Schwach erinnerte er sich, dass Tofino Air auch einen ehemaligen Flieger der Canadian Air Force beschäftigte. Nun wusste er jedenfalls, welcher es war.
   Der zylindrische Leib des URA hing jenseits der Reling am Heckkran des Schleppers. Sie waren bereit, das Gerät auszuklinken, sobald der Schütze den Sender platziert hatte. Deutlich war der graue Rücken des Wals zu erkennen. Er war nicht abgetaucht. Wal und Flugzeug bewegten sich rasch aufeinander zu. Ford sah Danny unter dem Flügel hocken und hoffte inständig, dass er die Sache mit einem Schuss erledigte.
   Lucys Buckel schob sich durch die Wellen. Danny nahm die Armbrust hoch, ein Auge zusammen
   gekniffen, die Hand am kalten Metall. Langsam krümmte sich sein Finger.
   Mit voller Konzentration und unbewegter Miene drückte Danny den Abzug durch. Nur er hörte wohl in diesem Moment das leise Zischen, als der präparierte Pfeil dicht an seinem Ohr die Waffe mit über 250 Stundenkilometern verließ. Sekundenbruchteile später bohrten sich metallene Widerhaken in den Speck des Wals und drangen tief ein, ohne dass Lucy etwas davon mitbekam. Das Tier rundete seinen Rücken. Es tauchte. Der Sender stand in schrägem Winkel ab.
   »Wir haben ihn!«, schrie Anawak ins Funkgerät.
   Ford gab das Zeichen.
   Der Kran entließ den Roboter aus seiner Verankerung. Er klatschte auf und versank in den Wellen.
   Die Berührung mit dem Wasser löste augenblicklich einen Impuls aus, der die elektrischen Motoren aktivierte. Während das Gerät tiefer ging, bewegte es sich zugleich in Richtung des abgetauchten Wals. Sekunden nach der Wasserung war von dem URA nichts mehr zu sehen.
   Ford ballte triumphierend die Fäuste. »Ja!«
   Die DHC-2 knatterte an der Whistler vorbei. In den Flügelstreben reckte Danny aufheulend die Armbrust.
   »Wir haben’s geschafft!«
   »Klasse!«
   »Ein Schuss und … Mann, hast du gesehen?
   Unglaublich!«
   »Wow!«
   Im Flugzeug redeten alle wild durcheinander. Danny wandte ihnen den Kopf zu und grinste. Er begann sich wieder ins Innere zu ziehen. Anawak streckte die Hände aus, um ihm zu helfen, als er vor sich etwas aus dem Wasser wachsen sah.
   Entsetzt verharrte er.
   Ein Grauwal wuchtete sich empor, ein Tier im Sprung.
   Rasend schnell kam der massige Leib näher.
   Mitten in ihrer Flugbahn.
   »Hochziehen!«, schrie Anawak.
   Die Motoren heulten schmerzvoll auf. Danny kippte zurück, als das Flugzeug steil nach oben schoss. Kurz erhaschte Anawak einen Blick auf einen riesigen, narbigen Kopf, auf ein Auge, auf geschlossene Kiefer. Dann erhielt die Maschine einen fürchterlichen Schlag. Wo der rechte Flügel und Danny gewesen waren, bogen sich die Reste des Gestänges. Anawak versuchte irgendwo Halt zu finden, aber alles drehte sich, Delaware schrie, der Pilot schrie, er selber schrie, das Meer kam auf sie zu.
   Etwas schlug ihm ins Gesicht. Eisig.
   Dröhnen in seinen Ohren. Hohles Kreischen von brechendem Stahl.
   Gischt.
   Dunkles Grün.
   Nichts mehr.
   50 Meter tiefer stabilisierte der Bordcomputer den zylindrischen Leib des URA. Der Roboter tarierte sich aus und folgte dem Wal, der ihm am nächsten war. In einiger Entfernung, nur schattenhaft erkennbar im Zwielicht, waren weitere Tiere zu sehen. Das elektronische Auge des URA registrierte all dies, ohne dass der Computer den optischen Eindrücken fürs Erste Bedeutung beimaß.
   Andere Funktionen traten in Kraft.
   Trotz hervorragender optischer Sensorik lag die wahre Stärke des URA in der akustischen Erfassung. Hier hatte sein Schöpfer wahres Genie offenbart. Die akustischen Systeme ermöglichten es dem Roboter, den Meeressäugern über einen Zeitraum von zehn bis zwölf Stunden zu folgen, ohne sie zu verlieren, wohin sie sich auch wendeten.
   Er folgte ihren Gesängen.
   Die vier Hydrophone des URA, hochsensible Unterwassermikrofone, erfassten in diesen Augenblicken nicht nur jeden Laut, den die Tiere von sich gaben, sondern auch deren Quellkoordinaten. Sie waren rund um den Leib des Roboters angeordnet. Als einer der Wale einen hohen, feinen Ton ausstieß, empfingen sie das Geräusch nacheinander statt gleichzeitig. Kein menschliches Ohr hätte die winzigen Zeitverzögerungen und damit verbundenen Abschwächungen registrieren können, nur ein Computer war dazu in der Lage. So traf der Schall als Erstes und am lautesten auf das Hydrophon, das der Quelle am nächsten lag, und dann der Reihe nach auf die drei anderen.
   Als Folge erstellte der Computer einen virtuellen Raum und wies den Urhebern der Laute Koordinaten darin zu. Nacheinander füllte sich der Raum mit Positionsanzeigen von Walen, die sich in der Weise zueinander verschoben, wie auch die Tiere ihren Standort veränderten. Das Rudel wurde im Innern des Computers sozusagen nachgebaut.
   Auch Lucy gab eine Reihe von Tönen von sich, als sie in der Tiefe verschwand. Im Rechner waren umfangreiche Datenmengen gespeichert, spezifische Laute von Walen und bestimmten Fischen bis hm zu den Stimmen einzelner Tiere. Der URA durchforstete seinen elektronischen Katalog, aber Lucy als Individuum tauchte dort nicht auf. Automatisch legte er eine Datei für die Laute der Koordinatengruppe an, die Lucy entsprach, verglich sie mit weiteren Koordinatengruppen, klassifizierte alle Tiere vor ihm als Grauwale und beschleunigte auf zwei Knoten, um ihnen ein Stück näher zu kommen.
   Ebenso gründlich, wie er die Wale akustisch geortet und angepeilt hatte, ging der Roboter nun zur optischen Erfassung über. In seinen Datenbanken waren Flukenmuster und -silhouetten gespeichert, außerdem Finnen, Flipper und signifikante Körperstellen einzelner Individuen. Diesmal war der Maschine mehr Glück beschieden. Das elektronische Auge scannte die auf und ab schlagenden Fluken der Wale vor ihm und identifizierte schnell einen davon als Lucy. Kurz zuvor hatte man ihm sämtliche Daten der Wale, die an den Angriffen beteiligt gewesen waren, einprogrammiert, und darum wusste der Roboter nun, welchem Tier seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu gelten hatte.
   Der URA korrigierte seinen Kurs um wenige Grade.
   Walgesänge erlaubten Stimmkontakte über Distanzen von mehr als einhundert Seemeilen. Die Schallwellen bewegten sich im Wasser fünfmal schneller fort als in der Luft. Lucy mochte schwimmen, wie schnell und wohin sie wollte.
   Er würde sie nicht mehr verlieren.
 

26. April

Kiel, Deutschland
 
   Die eiserne Tür glitt zur Seite. Bohrmanns Blick erwanderte die gigantische Konstruktion des Simulators.
   Der Tiefseesimulator schien die Natur auf ein menschenverträgliches Maß heruntergestutzt zu haben, ohne sie gleich ins Exil der bloßen Theorie zu schicken. Wenngleich im kleinen Maßstab, war das Meer beherrschbar geworden. Sie hatten sich eine Welt aus zweiter Hand geschaffen, eine jener idealisierten Kopien, wie sie den Menschen zunehmend vertrauter wurden als die Wirklichkeit: Wer wollte noch etwas über das wahre Leben im Mittelalter wissen, wenn Hollywood es auf seine Weise zeigte? Wen interessierte, wie ein Fisch starb, wie er blutete, aufgeschnitten und seine Eingeweide entnommen wurden, solange man auf Eis liegende Stücke kaufen konnte? Amerikanische Kinder malten Hühner mit sechs Beinen, weil Hühnerschenkel im Sechserpack angeboten wurden. Man trank Milch aus einem Pappkarton und ekelte sich vor dem Inhalt eines Euters. Das Weltempfinden verkrüppelte, und damit einher ging Arroganz. Bohrmann war begeistert von dem Simulator und seinen Möglichkeiten. Zugleich führte ihm der Tank vor Augen, wie blind Forschung zu werden drohte, wenn sie das Objekt ihrer Untersuchung nachbildete, anstatt es zu betrachten. Immer weniger ging es darum, den Planeten zu verstehen, als ihn sich zurechtzubiegen. Im bunten Disneyland der Missverständnisse erhielt menschliches Eingreifen neue, schreckliche Rechtfertigung. Jedes Mal, wenn er die Halle betrat, schoss Bohrmann derselbe Gedanke durch den Kopf: Nie werden wir in der Lage sein, Gewissheit über das Machbare zu erlangen, sondern immer nur über das, wovon wir besser die Finger lassen. Und davon wollen wir dann nichts hören. Zwei Tage nach dem Unfall auf der Sonne befand er sich wieder in Kiel. Die Bohrkerne und Kühlbehälter waren mit separater Eilfracht in die Obhut von Erwin Suess gelangt, der sich mit einem Team von Geochemikern und Biologen unverzüglich darangemacht hatte, die Ausbeute der Expedition zu untersuchen. Als Bohrmann im Institut eingetroffen war, hatten die Analysen schon begonnen. Seit vierundzwanzig Stunden versuchten sie unermüdlich, den Ursachen der Zersetzung auf die Spur zu kommen. Wie es aussah, waren sie fündig geworden. Der Simulator mochte die Wirklichkeit idealisieren, aber in diesem Fall hatte er vielleicht die Wahrheit über die Würmer ans Licht gebracht. Suess wartete am Monitorpult auf ihn. Er war in Begleitung Heiko Sahlings und Yvonne Mirbachs, einer Molekularbiologin, die auf Tiefseebakterien spezialisiert war.
   »Wir haben eine Computersimulation angelegt«, sagte Suess. »Weniger für uns, sondern damit es jeder begreift.« »Es ist also nicht mehr alleine das Problem von Statoil«, sagte Bohrmann. »Nein.« Suess bewegte den Cursor auf dem Monitor und klickte ein Symbol an. Eine grafische Darstellung erschien. Sie zeigte einen Querschnitt durch einen einhundert Meter dicken Hydratdeckel und eine darunter liegende Gasblase. Sahling deutete auf eine dünne, dunkle Schicht an der Oberfläche.
   »Das sind die Würmer«, sagte er.
   »Gehen wir mal in die Vergrößerung«, sagte Suess.
   Ein Ausschnitt der Eisoberfläche erschien. Die Würmer waren nun einzeln zu erkennen. Suess zoomte weiter auf, bis ein einzelnes Exemplar den Bildschirm fast ausfüllte. Es war grob stilisiert, einzelne Körperpartien grell eingefärbt.
   »Das Rote sind Schwefelbakterien«, erläuterte Yvonne Mirbach. »Das Blaue Archäen.«
   »Endo— und Ektosymbionten«, murmelte Bohrmann. »Der Wurm steckt voller Bakterien, und sie siedeln auf ihm.«
   »Genau. Es sind Konsortien. Bakterien mehrerer Arten, die zusammenarbeiten.«
   »Das war den Leuten, die Johanson hinzugezogen hatten, übrigens auch schon klar geworden«, fügte Suess hinzu. »Sie haben zentimeterdicke Gutachten über die symbiotische Lebensweise des Wurms verfasst. Aber sie haben nicht die richtigen Schlussfolgerungen gezogen. Keiner hat sich die Frage gestellt, was diese Konsortien eigentlich tun. — Wir sind die ganze Zeit davon ausgegangen, dass die Würmer das Eis destabilisieren, obwohl uns klar war, dass sie es gar nicht können. Aber es sind nicht die Würmer.«
   »Die Würmer sind nur Transporter«, sagte Bohrmann.
   »So ist es.« Suess klickte ein Symbol an. »Hier hast du die Antwort auf euren Blowout.«
   Der stilisierte Wurm begann sich zu bewegen. Die Darstellung war sehr grob angelegt worden in der Kürze der Zeit. Es war eher eine Abfolge von Einzelbildern als ein Trickfilm. Die zangenartigen Kiefer klappten aus, und der Wurm begann sich ins Eis zu bohren.
   »Jetzt pass auf.«
   Bohrmann starrte auf die Bilder. Suess hatte die Darstellung wieder aufgezoomt. Mehrere Tiere waren zu sehen, die ihre Körper ins Hydrat trieben. Dann plötzlich …
   »Mein Gott!«, sagte Bohrmann.
   Es herrschte atemlose Stille.
   »Wenn das überall am Kontinentalhang so läuft …«, begann Sahling.
   »Tut es«, sagte Bohrmann tonlos. »Wahrscheinlich sogar zeitgleich. Mist, wir hätten schon an Bord der Sonne darauf kommen können. Die Hydratbrocken waren von Bakterien regelrecht verschleimt.«
   Er hatte ungefähr erwartet, was er nun sah. Er hatte es befürchtet und zugleich gehofft, er möge sich irren. Aber die Wirklichkeit war noch viel schlimmer — wenn es die Wirklichkeit war.
   »Was hier im Einzelnen geschieht, ist eigentlich bekannt«, sagte Suess. »Jedes der Phänomene ist für sich betrachtet nichts Neues. Das Neue entsteht im Zusammenwirken. Sobald man alle Komponenten in Beziehung zueinander setzt, wird die Zersetzung der Hydrate offenkundig.« Er gähnte. Es wirkte seltsam unpassend angesichts der schrecklichen Bilder, aber keiner von ihnen hatte in den letzten vierundzwanzig Stunden ein Auge zugetan. »Mir ist nur keine Erklärung dafür eingefallen, warum die Würmer überhaupt da sind.«
   »Mir auch nicht«, sagte Bohrmann. »Und ich denke schon länger darüber nach als du.«
   »Und wen informieren wir jetzt?«, fragte Sahling.
   »Hm.« Suess legte den Finger an die Oberlippe. »Wie war das noch? Die Angelegenheit ist vertraulich, richtig?
   Wir müssten also erst mal Johanson ins Bild setzen.« »Warum nicht gleich Statoil?«, schlug Sahling vor. »Nein.« Bohrmann schüttelte den Kopf. »Auf gar keinen Fall.« »Du glaubst, die kehren es unter den Tisch?« »Johanson ist die bessere Option. Wie ich ihn einschätze, ist er neutraler als die Schweiz. Wir sollten ihm die Entscheidung überlassen, wann …«
   »Es bleibt keine Zeit, jemandem was zu überlassen«, unterbrach ihn Sahling. »Wenn die Simulation auch nur annähernd wiedergibt, was am Hang passiert, müssten wir streng genommen die norwegische Regierung verständigen.«
   »Dann gleich auch sämtliche Nordseestaaten!«
   »Gute Idee. Nimm Island dazu.«
   »Augenblick mal!« Suess hob die Hände. »Wir führen hier doch keinen Kreuzzug.« »Darum geht’s nicht.« »Darum geht es wohl. Noch ist es nur eine Simulation.« »Schon, aber …« »Nein, er hat Recht«, unterbrach ihn Bohrmann. »Wir können nicht die Pferde scheu machen, einfach damit es jeder weiß. Wir wissen es ja selber nicht genau. Ich meine, wir wissen, wie es sich abspielt, aber die Resultate sind Hochrechnungen. Augenblicklich können wir lediglich sagen, dass große Mengen Methan in die Atmosphäre gelangen werden.«
   »Träumst du?«, rief Sahling. »Wir wissen verdammt genau, was passieren wird.« Bohrmann betastete unwillkürlich die Stelle, an der sein Schnurrbart nachwuchs. »Na gut. Wir können es veröffentlichen. Es reicht für ein Dutzend Titelseiten. Aber was wären die Folgen?«
   »Was sind die Folgen«, sinnierte Suess, »wenn in der Zeitung steht, dass die Erde von einem Meteoriten getroffen wird?«
   »Hältst du den Vergleich für treffend?«
   »Irgendwie schon.«
   »Ich bin der Meinung, wir sollten das nicht alleine entscheiden«, sagte Mirbach. »Gehen wir schrittweise vor. Zuallererst reden wir mit Johanson. Er ist schließlich der Kontaktmann. Außerdem, wenn wir es aus rein wissenschaftlicher Warte betrachten, gebührt ihm die Ehre.«
   »Welche Ehre?«
   »Er hat die Würmer entdeckt.«
   »Nein, Statoil hat sie entdeckt. Aber meinetwegen. Johanson die Ehre. Und dann?«
   »Holen wir die Regierungen ins Boot.« »Und veröffentlichen die Sache?« »Warum denn nicht? Alles wird veröffentlicht. Wir wissen von koreanischen und iranischen Nuklearprogrammen und dass irgendwelche Idioten Milzbranderreger freisetzen. Wir wissen alles über BSE, über die Schweinepest und über genmanipuliertes Gemüse. In Frankreich erkranken und sterben die Leute gerade zu Dutzenden und Hunderten an irgendwelchen Bakterien aus verseuchten Schalentieren. Herrgott, die rennen ja nicht gleich in die Berge, um sich zu verstecken.«
   »Nein«, sagte Bohrmann. »Natürlich nicht. Aber wenn wir öffentlich über einen Storegga-Effekt nachdenken …« »Dafür sind die Daten zu oberflächlich«, sagte Suess. »Die Simulation zeigt, wie schnell die Zersetzung voranschreitet. Damit zeigt sie auch alles Weitere.«
   »Aber sie sagt nicht definitiv, was dann passiert.«
   Bohrmann setzte zu einer Antwort an, aber Suess hatte Recht. Sie konnten sich denken, was passierte, aber sie konnten es nicht beweisen. Wenn sie jetzt damit rauskamen, ohne dass ihre Theorie hieb— und stichfest war, würde die Öl-Lobby alles runterreden. Ihre Argumentation würde zusammenbrechen wie ein Kartenhaus. Es war zu früh.
   »Also gut«, sagte er. »Wie lange brauchen wir, um ein verbindliches Ergebnis vorzulegen?«
   Suess runzelte die Stirn. »Eine weitere Woche, denke ich.«
   »Das ist verdammt lang«, sagte Sahling.
   »Na, hör mal!« Mirbach schüttelte entgeistert den Kopf. »Das ist verdammt schnell. Wenn du heute ein taxonomisches Urteil über einen neuen Wurm einholen willst, kannst du dich auf monatelanges Däumchendrehen einrichten, und wir …«
   »Das ist in der gegebenen Situation verdammt lang.«
   »Trotzdem«, beschied Suess. »Falscher Alarm bringt nichts. Wir machen weiter.«
   Bohrmann nickte. Er konnte den Blick nicht vom Monitor lösen. Die Simulation war zu Ende. Dennoch ging sie weiter. Sie setzte sich fort vor seinem geistigen Auge, und was er sah, ließ ihn schaudern.
 

29. April

Trondheim, Norwegen
 
   Sigur Johanson betrat Olsens Büro. Er machte die Türe hinter sich zu und setzte sich dem Biologen gegenüber. »Hast du Zeit?«
   Olsen grinste. »Ich habe mich für dich krumm gelegt«, sagte er.
   »Was hast du rausgefunden?«
   Olsen senkte verschwörerisch die Stimme. »Womit sollen wir anfangen? Monstergeschichten? Naturkatastrophen?«
   Er machte es spannend. Auch gut.
   »Womit willst du denn anfangen?«
   »Na ja.« Olsen blinzelte ihn listig an. »Wie wäre es, wenn zur Abwechslung du mal anfängst? Warum sagst du mir nicht, wozu ich tagelang den Watson für dich spiele — Holmes!«
   Johanson fragte sich erneut, wie viel er Olsen erzählen konnte. Ihm war klar, dass sein Gegenüber vor Neugierde platzte. Ihm selber wäre es nicht anders gegangen. Aber dann würde es binnen weniger Stunden die komplette NTNU wissen.
   Plötzlich kam ihm eine Idee. Sie klang abwegig genug, um glaubhaft zu sein. Olsen würde ihn für bescheuert halten, aber damit ließ sich leben. Er senkte die Stimme ebenfalls und sagte: »Ich habe mir Gedanken darüber gemacht, als Erster mit einer Theorie rauszukommen.«
   »Nämlich.«
   »Alles ist gesteuert.«
   »Was?«
   »Ich meine, diese Anomalien. Die Quallen. Das Verschwinden der Boote. Die Todes— und Vermisstenfälle. Mir kam einfach die Idee, dass es zwischen alldem einen höheren Zusammenhang gibt.«
   Olsen sah ihn verständnislos an. »Nennen wir es eine höhere Planung.« Johanson lehnte sich zurück, um zu sehen, wie Olsen den Brocken schluckte. »Und was willst du damit erreichen? Bist du auf den Nobelpreis aus oder auf einen Platz in der Geschlossenen?« »Weder noch.« Olsen starrte ihn weiter an. »Du verarschst mich.« »Nein.« »Doch. Du redest von … was weiß ich? Vom Teufel?
   Finsteren Mächten? Grünen Männchen? Akte X?« »Es ist nur ein Gedanke. Ich meine, es muss einen Zusammenhang geben, oder? Alle möglichen Phänomene ergeben sich zur gleichen Zeit, hältst du das für einen Zufall?« »Ich weiß nicht.« »Siehst du. Du weißt es eben nicht. Ich auch nicht.« »Welche Art Zusammenhang stellst du dir denn vor?« Johansons Hände zerteilten sachte die Luft. »Das kommt nun wieder darauf an, was du zu bieten hast.« »Ach so.« Olsen verzog die Mundwinkel. »Schön hingedrechselt. Du bist doch kein Idiot, Sigur. Da ist doch noch mehr.«
   »Erzähl mir was, dann sehen wir weiter.«
   Olsen zuckte die Achseln, öffnete eine Schublade und zog einen Packen Papier hervor. »Die Internet-Ausbeute«, sagte er. »Wenn ich nicht so ein gottverdammter Pragmatiker wäre, könnte ich glatt auf die Idee kommen, den Quatsch zu glauben, den du da verzapfst.«
   »Also, was gibt’s?«
   »Alle Strände Mittel— und Südamerikas sind inzwischen gesperrt. Die Menschen gehen nicht mehr ins Wasser, und die Quallen verstopfen den Fischern die Netze. Costa Rica, Chile und Peru sprechen von einem apokalyptischen Gequabbel. Nach der Portugiesischen Galeere ist eine weitere Art aufgekreuzt, sehr klein, mit extrem langen und giftigen Tentakeln. Anfangs hielt man sie für Seewespen, aber es sieht eher nach ganz was anderem aus. Eine neue Art vielleicht.«
   Schon wieder eine neue Art, dachte Johanson. Nie gesehene Würmer, nie gesehene Quallen …
   »Und die Seewespen vor Australien?«
   »Das gleiche Theater.« Olsen wühlte in seinem Papier
   stapel. »Werden immer mehr. Katastrophe für die Fischer, und der Tourismus liegt sowieso auf der Schnauze.«
   »Was ist mit den Fischen in der Gegend? Gehen ihnen die Quallen nicht zu Leibe?«
   »Verschwindibus.«
   »Wie bitte?«
   »Es sind keine mehr da. Vor den betroffenen Küsten sind die großen Schwärme einfach verschwunden. Die Mannschaften von Trawlern behaupten, sie hätten ihre angestammten Gebiete verlassen und seien aufs offene Meer hinausgeschwommen.«
   »Aber da finden sie keine Nahrung.«
   »Vielleicht gehen sie auf Diät. Was weiß denn ich?«
   »Und niemand hat eine Erklärung?«
   »Überall sind Krisenstäbe eingerichtet worden«, sagte Olsen. »Aber du erfährst nichts. Ich hab’s versucht.«
   »Soll heißen, es ist alles noch viel schlimmer.«
   »Vielleicht.« Olsen zog ein Blatt aus dem Stapel. »Wenn du dir diese Liste ansiehst, findest du fett aufgemachte Pressemeldungen, die wenig später einfach nicht mehr thematisiert werden. Quallen vor der westafrikanischen Küste. Möglicherweise auch vor Japan, ganz sicher auf den Philippinen. Verdacht auf Todesfälle, dann Dementi, dann Schweigen im Walde. Aber pass auf. Jetzt wird’s erst richtig spannend. Es gibt da eine Alge, sie geistert schon seit einigen Jahren durch die Medien. Eine Killeralge, Pfiesteria piscicida. Kaum einzudämmen, wenn du sie am Hals hast. Macht Menschen und Tiere krank. Bis heute wütete sie vorzugsweise jenseits des Atlantiks, aber neuerdings scheint Frankreich betroffen. Und zwar nicht zu knapp.«
   »Tote?«
   »Durchaus. Die Franzosen sprudeln nicht gerade über, was Stellungnahmen angeht, aber offenbar ist die Alge mit Hummern ins Land gelangt. Da steht alles drin, ich hab’s dir rausgesucht.«
   Er schob Johanson einen Teil des Packens hinüber.
   »Dann das Verschwinden von Booten. Inzwischen gibt es eine Reihe aufgezeichneter Notrufe, aber die meisten ergeben keinen Sinn. Sie brechen zu früh ab. Was immer passiert ist, muss sehr schnell gegangen sein.« Olsen wedelte mit einem weiteren Blatt. »Aber wer wäre ich, wenn ich nicht mehr wüsste als der Rest der Menschheit?
   Drei dieser Notrufe gelangten ins Netz.«
   »Und?«
   »Irgendwas hat die Boote angegriffen.«
   »Angegriffen?«
   »In der Tat.« Olsen rieb sich die Nase. »Wasser auf die Mühle deiner Verschwörungstheorie. Das Meer erhebt sich gegen den Menschen, wie unanständig von dem lausigen Gewässer. Wo wir doch bloß ein bisschen Müll versenken und die Fische und die Wale ausrotten. Ach, apropos Wale — das Letzte, was ich hörte, war, dass sie im Ostpazifik massiv auf Schiffe losgehen. Angeblich traut sich niemand mehr raus.«
   »Weiß man …«
   »Frag nicht so blöde. Nein, man weiß nicht. Man weiß gar nichts. Gott, war ich fleißig! Ebenfalls kein Aufschluss über die Ursache der Kollisionen und Tankerkatastrophen. Totale Nachrichtensperre. Deine Theorie hat insofern was für sich, als fast jedes Mal offen über die Dinge berichtet wird, und mittendrin breitet jemand den Mantel des Schweigens darüber. Vielleicht doch Akte X?« Olsen runzelte die Stirn. »Jedenfalls zu viele Quallen, zu viele Fische, alles tritt irgendwie überdimensioniert auf.«
   »Und niemand hat eine Idee, woher es kommt?«
   »Niemand versteigt sich offiziell zu der Annahme, es könne miteinander in Zusammenhang stehen, so wie du. Am Ende werden die Krisenstäbe El Niño verantwortlich machen oder die Erderwärmung, und die Invasionsbiologie bekommt Aufwind, und sie veröffentlichen spekulative Artikel.«