Er machte eine Pause. Und wenn es Li nun gleichgültig war? Wenn sie ihn gar nicht hörte? Dann lief er hier wie ein Idiot durch seine Kammer.
   »Jude?«
   Er sah sich um. Doch, sie hörten ihn. Ganz sicher hörten sie ihn.
   »Jude, mir ist aufgefallen, dass Sie Mick auch so einen Tiefseesimulator spendiert haben. Ich habe zur Kenntnis genommen, dass er bedeutend kleiner ist als unserer, aber was untersucht er darin, was er nicht auch in unserem untersuchen könnte? Sie werden sich doch wohl nicht hinter unserem Rücken mit den Yrr verbündet haben? Helfen Sie mir auf die Sprünge, Jude, ich habe absolut keine Ahnung, was …«
   »Dr. Johanson.«
   Er fuhr herum. In der offenen Tür stand Peaks schwarze, hoch gewachsene Gestalt. »Nein, was für eine Überraschung«, sagte Johanson leise. »Der gute, alte Sal! Soll ich Tee für uns machen?«
   »Jude würde Sie gerne sprechen.«
   »Ah, Jude.« Johanson verzog einen Mundwinkel zu einem halben Lächeln. »Was will sie denn von mir?« »Kommen Sie einfach mit.«
   »Nun — ich denke, das lässt sich einrichten.«
 
Weaver
 
   Im Labor kam Oliviera gerade mit einem tragbaren Metallgehäuse aus dem Hochsicherheitslabor, als Weaver eintrat.
   »Hast du Mick gesehen?«
   »Nein, ich sehe nur noch Pheromone.« Oliviera hielt das Gehäuse hoch. Es war zu beiden Seiten offen. Ein Probenkoffer mit Gestellen für Phiolen. Dutzende mit klarer Flüssigkeit gefüllte Röhrchen reihten sich im Innern aneinander. »Aber er hat vorhin durchgerufen und sein Erscheinen angedroht. Müsste jeden Moment aufkreuzen.«
   »Yrr-Duft?«, fragte Weaver mit Blick auf die Phiolen.
   »Ja. Heute Nachmittag geben wir was davon in den Tank. Mal sehen, ob wir die Zellen überreden können, zu verschmelzen. Es wäre sozusagen die Heiligsprechung unserer Theorie.« Oliviera sah sich um. »Gegenfrage: Hast du Sigur gesehen?«
   »Eben auf dem Flugdeck. Er hat ein paar interessante Ideen entwickelt, wie wir Sam unter die Arme greifen könnten. — Ich schau gleich nochmal vorbei.«
   »Tu das.«
   Weaver überlegte. Sie konnte sich das Hangardeck ansehen. Aber wenn Johanson Recht behielt, würde das sofort auffallen. Außerdem war kaum damit zu rechnen, dass sich die verbotene Tür ein weiteres Mal öffnete, solange sie dort herumschlich.
   Sie folgte dem Tunnel zum Welldeck.
   Das Becken war beinahe zur Gänze wieder geflutet. Auf den Piers überwachten die verbliebenen Techniker aus Roscovitz’ Team den Vorgang. Sie sah Greywolf und Anawak im Wasser.
   »Habt ihr die Delphine rausgelassen?«, rief sie.
   Anawak zog sich aufs Trockene.
   »Ja.« Er kam zu ihr herüber. »Was hast du gemacht in der Zwischenzeit?«
   »Nicht viel, um ehrlich zu sein. Ich glaube, wir müssen alle unsere Gedanken ordnen.«
   »Wir können sie ja zusammen ordnen«, sagte Anawak leise.
   Sie begegnete seinem Blick und dachte, wie gerne sie ihn jetzt sofort in die Arme nehmen würde. Diese ganze schreckliche Geschichte hier vergessen und einfach tun, was fällig war.
   Aber die Geschichte lastete auf allem. Und da war Greywolf, der Licia verloren hatte.
   Sie lächelte flüchtig.
 
LEVEL 03
 
   Peak humpelte voraus. Johanson folgte ihm wortlos. Sie stiegen hinab, durchquerten einen Teil des Hospitals und schritten einen Gang entlang. Nach einer Abzweigung standen sie vor einer verschlossenen Tür.
   »Was ist das für ein Bereich?«, fragte Johanson, während Peaks Finger über ein Tastenfeld glitten. Elektronisches Piepen drang an sein Ohr. Die Tür schwang auf. Auf der anderen Seite setzte sich der Gang fort.
   »Über uns liegt das CIC«, sagte Peak.
   Johanson versuchte sich zu orientieren. Die Dimensionen des Schiffs waren schwer abzuschätzen. Wenn das CIC über ihnen lag, befand sich das geheime Labor wahrscheinlich direkt unter ihren Füßen.
   Sie erreichten eine zweite Tür. Diesmal musste sich Peak einem Netzhaut-Scan unterziehen, bevor sie eintreten konnten. Johanson erblickte einen Raum, der aussah wie das CIC, eingebettet in elektronisches Summen. Gedämpft erklangen Geräusche und Stimmen. Mindestens ein Dutzend Leute arbeitete hier. Auf einer Vielzahl von Monitoren sah er Aufnahmen von Satelliten und Unterwasserkameras, einzelne Abschnitte der Rampe, das Innere der Brücke mit Buchanan und Anderson darin, das Flugdeck und das Hangardeck. Er sah Crowe und Shankar im CIC sitzen, Weaver mit Anawak und Greywolf im Welldeck und Oliviera im Labor. Weitere Bildschirme zeigten das Innere der Kabinen. Auch seine. Dem Winkel nach zu schließen, befand sich die Kamera direkt über der Tür. Er musste ein gutes Bild abgegeben haben, wie er da monologisierend mitten im Raum gestanden hatte.
   An einem großen, beleuchteten Tisch saßen Li und Vanderbilt. Die Kommandantin erhob sich.
   »Hallo, Jude«, sagte Johanson freundlich. »Nett haben Sie’s hier.«
   »Sigur.« Sie lächelte zurück. »Ich glaube, wir müssen uns bei Ihnen entschuldigen.«
   »Kaum der Rede wert.« Johanson schaute sich staunend um. »Ich bin ziemlich beeindruckt. Alles von Wichtigkeit scheint es in doppelter Ausfertigung zu geben.«
   »Ich kann Ihnen die Pläne zeigen, wenn es Sie interessiert.«
   »Eine Erklärung würde mir vollauf reichen.«
   »Die sollen Sie haben.« Li setzte eine betretene Miene auf. »Vorher möchte ich Ihnen sagen, wie Leid es mir tut, dass Sie auf diese Weise davon erfahren mussten. Rubin hätte niemals so weit gehen dürfen.«
   »Vergessen wir, was er getan hat. Was tut er jetzt? Was macht er in diesem Labor?«
   »Er sucht nach einem Giftstoff«, sagte Vanderbilt.
   »Nach einem …« Johanson schluckte. »Einem Gift?«
   »Mein Gott, Sigur.« Li rang die Hände. »Wir können uns nicht darauf verlassen, mit den Yrr zu einer friedlichen Lösung zu gelangen. Ich weiß, das muss alles schrecklich für Sie klingen, nach Vertrauensmissbrauch und falschem Spiel, aber … Sehen Sie, wir wollten Sie und die anderen nicht in die falsche Richtung schicken. Um etwas über die Yrr zu erfahren, war es unabdingbar notwendig, Sie an einer friedlichen Lösung arbeiten zu lassen. Sie alle haben Großartiges geleistet. Aber Sie wären niemals so weit gekommen, wenn die Aufgabe darin bestanden hätte, eine Waffe zu entwickeln.«
   »Was zum Teufel reden Sie da? Was denn für eine Waffe?«
   »Krieg und Frieden sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Wer am Frieden arbeitet, darf nicht an Krieg denken. Mick erforscht die Alternative. Auf der Grundlage Ihrer Erkenntnisse.«
   »An einem Gift, um die Yrr zu vernichten?«
   »Hätten wir Sie damit betrauen sollen?«, sagte Vanderbilt. »Was wäre dann passiert?«
   »Moment mal!« Johanson hob die Hände. »Unser Auftrag ist, einen Kontakt herzustellen. Denen da unten klar zu machen, dass sie aufhören sollen. Nicht, sie zu vernichten.«
   »Sie Träumer«, sagte Vanderbilt verächtlich.
   »Aber das ist zu schaffen, Jack! Verdammt, wir …«
   Johanson schüttelte entgeistert den Kopf. Er konnte es einfach nicht fassen.
   »Wie wollen Sie es schaffen?«
   »Wir haben innerhalb weniger Tage unglaublich viel gelernt. Es wird einen Weg geben.«
   »Und wenn nicht?«
   »Warum haben Sie uns nicht darüber informiert? Warum haben wir nicht einfach offen darüber gesprochen? Wir ziehen doch an einem Strang!«
   »Sigur.« Li sah ihn ernst an. »Was wir hier tun, ist nicht ganz deckungsgleich mit dem Auftrag der Vereinten Nationen. Ich weiß, dass wir Kontakt aufnehmen sollen, und genau das versuchen wir ja auch. Andererseits wird niemand traurig darüber sein, wenn wir diesen Feind ganz einfach eliminieren. Sind Sie nicht auch der Meinung, dass man beide Wege in Betracht ziehen sollte?«
   Johanson starrte sie an.
   »Doch, das bin ich. Aber warum dieser ganze Zirkus?«
   »Weil das Oberkommando Ihnen misstraut«, sagte Li. »Weil man befürchtet, dass Sie und die anderen sich quer stellen, wenn Sie erfahren, dass Ihre Bemühungen um einen friedlichen Kontakt den Boden für eine militärische Offensive bereiten. Man glaubt eben, dass sich Wissenschaftler so verhalten wie in den einschlägigen Filmen — sie wollen das Fremdartige schützen und studieren, anstatt es zu vernichten, auch wenn es bösartig und gefährlich ist …«
   »Filme? Meinen Sie die Filme, in denen das Militär immer gleich auf alles ballern will, was es nicht versteht?«
   »Eben diese Äußerung zeigt, wie Recht wir hatten«, sagte Vanderbilt und strich sich über den Bauch.
   »Verstehen Sie doch, Sigur …«
   »Sie haben diesen Hokuspokus inszeniert, weil Sie dachten, wir verhalten uns wie Leute aus einem Hollywood-Film?«
   »Nein.« Li schüttelte heftig den Kopf. »Natürlich nicht. Es ging darum, Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit auf das Thema Kontakt und Erforschung zu lenken.«
   Johanson umfasste mit weit ausholender Geste die Monitore im Raum.
   »Und darum schnüffeln Sie uns hinterher?«
   »Was Rubin getan hat, war ein Fehler«, wiederholte Li eindringlich. »Er hatte nicht das Recht dazu. Diese Überwachung dient einzig Ihrer Sicherheit. Wir haben die Arbeit an einer militärischen Lösung im Geheimen betrieben, um Sie und die anderen nicht zu verunsichern und von Ihrer eigentlichen Aufgabe abzubringen.«
   »Und worin besteht diese … Aufgabe?« Johanson trat bis dicht an Li heran und sah ihr in die Augen. »Frieden zu schaffen oder euch wie die Trottel mit dem nötigen Wissen für eine längst beschlossene Offensive zu versorgen?«
   »Wir müssen über beides nachdenken.«
   »Wie weit ist Mick mit seiner militärischen Variante?«
   »Er hat ein paar Ideen, die funktionieren könnten, aber noch nichts Konkretes.« Sie holte tief Luft und blickte ihm entschlossen ins Gesicht. »Ich bitte Sie im Interesse der Sicherheit darum, den anderen vorerst nichts davon zu erzählen. Geben Sie uns Zeit, es selber zu tun, damit die Arbeit nicht ins Stocken gerät, auf die Milliarden Menschen ihre Hoffnungen gründen. Sehr bald schon werden wir gemeinsam an allen Varianten arbeiten. Jetzt, wo Sie die unglaubliche Leistung vollbracht haben, dem Feind ein Gesicht zu geben, haben wir keinen Grund mehr, etwas geheim zu halten. — Und wenn wir gemeinsam an einer Waffe arbeiten, dann in der Hoffnung, dass wir nie gezwungen sein werden …«
   »Soll ich Ihnen mal was sagen, Jude?«, zischte Johanson. Er kam ihr so nahe, dass keine Hand mehr zwischen ihre Gesichter passte. »Ich glaube Ihnen kein Wort. Sobald Sie Ihre verdammte Waffe haben, werden Sie sie einsetzen. Was Sie dann zu verantworten haben, können Sie sich gar nicht vorstellen. Das sind Einzeller, Jude! Milliarden über Milliarden Einzeller! Sie existieren seit Anbeginn der Welt. Wir haben nicht die geringste Ahnung, welche Rolle sie für unser Ökosystem spielen. Wir wissen nicht, was mit den Ozeanen passieren wird, wenn wir sie vergiften. Wir wissen nicht, was mit uns passieren wird. Aber vor allen Dingen werden wir nicht in der Lage sein, zu stoppen, was sie angefangen haben!
   Geht das in Ihren Kopf? Wie wollen Sie den Golf-Strom wieder in Gang setzen ohne die Yrr? Was wollen Sie gegen die Würmer tun ohne die Yrr?«
   »Wenn wir die Yrr klein kriegen«, sagte Li, »nehmen wir es auch mit Würmern und Bakterien auf.«
   »Wie bitte? Mit Bakterien wollen Sie es aufnehmen? Dieser ganze Planet besteht aus Bakterien! Wollen Sie die Mikroorganismen ausrotten? Wie größenwahnsinnig sind Sie eigentlich? Wenn Ihnen das gelänge, würden Sie das Leben auf der Erde zum Tode verurteilen. Sie wären es, die den Planeten vernichtet, nicht die Yrr. Sämtliche Tierarten in den Meeren würden sterben, und danach …«
   »Dann sterben sie eben«, schrie Vanderbilt. »Sie blöder Ignorant, Sie eierköpfiges Wissenschaftsarschloch! Wenn ein paar Fische sterben und wir dafür überleben …«
   »Wir werden nicht überleben!«, schrie Johanson zurück. »Begreifen Sie das nicht? Alles ist miteinander verflochten. Wir können die Yrr nicht bekämpfen. Sie sind uns überlegen. Wir können nichts tun gegen Mikroorganismen, wir können ja nicht mal was gegen eine normale Virusinfektion tun, aber darum geht es auch nicht. Der Mensch lebt einzig, weil die Erde von Mikroben beherrscht wird.«
   »Sigur …«, sagte Li beschwörend.
   Johanson drehte sich um. »Machen Sie die Tür auf«, sagte er. »Ich habe keine Lust, dieses Gespräch länger fortzusetzen.«
   »Na schön.« Li nickte mit zusammengekniffenen Lippen. »Dann gefallen Sie sich weiter in Ihrer Selbstgerechtigkeit. Sal, öffnen Sie Dr. Johanson die Tür.«
   Peak zögerte.
   »Sal, haben Sie nicht gehört? Dr. Johanson wünscht zu gehen.«
   »Können wir Sie nicht überzeugen?«, fragte Peak. Es klang hilflos und gequält. »Davon, dass wir das Richtige tun?«
   »Türe öffnen, Sal«, sagte Johanson.
   Widerwillig setzte sich Peak in Bewegung und drückte auf einen Schalter in der Wand. Die Tür glitt auf.
   »Die weiter hinten auch, wenn ich bitten darf.«
   »Selbstverständlich.«
   Johanson ging nach draußen.
   »Sigur!«
   Er blieb stehen. »Was wollen Sie, Jude?«
   »Sie haben mir vorgeworfen, dass ich meine Verantwortung nicht einzuschätzen weiß. Vielleicht haben Sie Recht. Schätzen Sie Ihre ein. Wenn Sie jetzt zu den anderen gehen und sie aufklären, werfen Sie die Arbeit auf diesem Schiff dramatisch zurück. Das wissen Sie. Wir hatten vielleicht nicht das Recht, Sie zu belügen, aber denken Sie sehr genau darüber nach, ob Sie das Recht haben, uns bloßzustellen.«
   Johanson drehte sich langsam um. Li stand im Türrahmen des Kontrollraums.
   »Ich werde sehr genau darüber nachdenken«, sagte er.
   »Dann lassen Sie uns einen Kompromiss finden. Geben Sie mir Zeit, einen Weg zu finden, und lassen Sie bis dahin alles sacken. Heute Abend reden wir miteinander. Bis dahin unternimmt keiner von uns etwas, das den anderen in Verlegenheit bringen könnte. — Sehen Sie sich in der Lage, diesem Vorschlag zuzustimmen?«
   Johansons Kiefer mahlten.
   Was würde passieren, wenn er die Bombe platzen ließ? Was würde mit ihm passieren, wenn er jetzt und hier ablehnte?
   »In Ordnung«, sagte er.
   Li lächelte. »Danke, Sigur.«
 
Weaver
 
   Am liebsten wäre sie im Welldeck geblieben. Anawak tat sein Bestes, um Greywolf aufzuheitern. Sie wollte bei dem einen bleiben, weil sie sich zu ihm hingezogen fühlte, und den anderen nicht im Stich lassen, dessen Traurigkeit mit Händen greifbar war. Sie fand es schrecklich, diesen riesigen, kraftstrotzenden Mann derart traurig zu sehen. Aber noch schrecklicher fand sie, was Johanson ihr erzählt hatte. Je mehr sie darüber nachdachte, desto ungeheuerlicher erschien ihr, was an Bord der Independence vorging. Etwas sagte ihr unmissverständlich, dass sie alle in großer Gefahr schwebten.
   Vielleicht war Rubin inzwischen eingetroffen.
   »Bis später«, sagte sie. »Bin was erledigen.«
   Im selben Moment merkte sie, dass es gekünstelt klang, übertrieben gelassen. Anawak runzelte die Stirn.
   »Was ist los?«, fragte er.
   »Nichts Besonderes.«
   Sie war einfach nicht gut in so was! Schnell ging sie die Rampe hoch und den dahinter liegenden Flur entlang. Die Tür zum Labor stand offen. Als sie eintrat, sah sie Oliviera mit Rubin im Gespräch. Sie standen an einem der Labortische. Rubin drehte sich zu ihr um.
   »Hi. Du wolltest mich was fragen?«
   Weaver drückte den Schalter am Innenrahmen, sodass sich das Schott hinter ihr schloss.
   »Ja. Du könntest mir was erklären.«
   »Im Erklären bin ich ganz groß«, grinste Rubin.
   »Tatsächlich?«
   Sie gesellte sich zu den beiden. Ihr Blick suchte den Labortisch ab. Alles Mögliche lag dort herum. In einer Halterung steckten Seziermesser verschiedener Größen. Sie sagte: »Du könntest mir erklären, wozu das Labor über uns dient, was du dort treibst und warum du Sigur vorletzte Nacht niedergeschlagen hast, nachdem er dir auf die Schliche gekommen war.«
 
Hangardeck
 
   Johanson kochte vor Wut. Vor lauter Zorn wusste er nicht, wohin er gehen sollte, also rannte er schließlich aufs Hangardeck und suchte die Wand ab. Seine Erinnerung sagte ihm sehr genau, wo die Tür sein musste, aber immer noch deutete nichts auf einen getarnten Durchlass hin. Im Grunde war es überflüssig, dass er danach suchte. Li hatte zugegeben, dass dieses Labor existierte, aber damit wollte er sich nicht zufrieden geben.
   Plötzlich bemerkte er ausgedehnte Roststellen im grauen Lack der Wand. Eigentlich waren sie ihm schon die ganze Zeit über aufgefallen. Er hatte ihnen keine Bedeutung beigemessen, weil Rost und abblätternde Farbe auf Schiffen nichts Besonderes darstellten. Aber jetzt wurde ihm mit einem Mal klar, was damit nicht stimmte.
   Es gab keinen Rost auf einem neuen Schiff. Und die Independence war ein funkelnagelneues Schiff.
   Er trat einige Schritte zurück. Wenn man die Rohre zur Linken nach oben verfolgte, stießen sie an einen lang gedehnten Roststreifen. Ein Stück weiter hing ein Sicherungskasten. Auch darunter blätterte die Farbe ab.
   Da war die Tür.
   Sie war unglaublich gut getarnt. Hätte er nicht so verbissen danach gesucht, wäre sie ihm niemals aufgefallen. Selbst als er zusammen mit Weaver die Wand abgesucht hatte, waren sie der raffinierten Camouflage aufgesessen. Sogar jetzt erkannte er nicht wirklich die Konturen, sondern nur eine scheinbar zufällige Anordnung von Details, die insgesamt geeignet waren, eine Tür zu verbergen.
   Hier war er hineingegangen.
   Weaver!
   Hatte sie Rubin gefunden? Was sollte er tun? Sie zurückpfeifen, getreu der Vereinbarung, die er mit Li getroffen hatte? Was war diese Vereinbarung wert? Hätte er sich überhaupt auf einen Handel mit der Kommandantin einlassen dürfen?
   Schwer atmend und unschlüssig lief er auf dem großen leeren Deck hin und her. Plötzlich kam ihm das ganze Schiff wie ein Gefängnis vor. Selbst der düstere, gelb erleuchtete Hangar bekam etwas Erdrückendes.
   Er musste nachdenken.
   Er brauchte frische Luft.
   Mit großen Schritten marschierte er Richtung Steuerbord und trat aus dem Durchlass hinaus auf die Plattform des Außenlifts. Heftiger Wind zerrte an seiner Kleidung und an seinen Haaren. Das Meer war noch unruhiger geworden. Ein Film versprühter Gischt bedeckte innerhalb von Sekunden sein Gesicht. Er ging bis an den Rand der Plattform und sah hinunter auf die zerklüftete, bewegte Mondlandschaft der Grönländischen See.
   Was sollte er tun?
 
Kontrollraum
 
   Li stand vor den Monitoren. Sie sah zu, wie Johanson die Wand absuchte und schließlich frustriert den Hangar durchquerte.
   »Was sollte diese läppische Vereinbarung?«, knurrte Vanderbilt. »Glauben Sie wirklich, der hält bis heute Abend seine Schnauze?«
   »Das traue ich ihm zu«, sagte Li.
   »Und wenn nicht?«
   Johanson verschwand im Durchlass des Außenlifts. Li wandte sich zu Vanderbilt um. »Überflüssige Frage, Jack. Das Problem werden Sie selbstverständlich lösen. Und zwar jetzt.«
   »Moment.« Peak hob die Hand. »So war das nicht vorgesehen.«
   »Was heißt lösen?«, fragte Vanderbilt lauernd.
   »Lösen heißt lösen«, sagte Li. »Es kommt Sturm auf. Man sollte bei Sturm nicht draußen sein. Ein Windstoß …«
   »Nein.« Peak schüttelte den Kopf. »So war das nicht vereinbart.«
   »Sal, halten Sie den Mund.«
   »Verdammt nochmal, Jude! Wir können ihn ein paar Stunden festsetzen, das reicht doch wohl!«
   »Jack«, sagte Li zu Vanderbilt, ohne Peak eines Blickes zu würdigen. »Tun Sie Ihre Arbeit. Und machen Sie’s bitte persönlich.«
   Vanderbilt grinste. »Mit Vergnügen, Schätzchen. Mit dem größten Vergnügen.«
 
Labor
 
   Olivieras ohnehin schon langes Gesicht wurde noch länger. Sie starrte zuerst Weaver an und dann Rubin.
   »Na?«, sagte Weaver.
   Rubin erbleichte. »Ich habe absolut keine Ahnung, wovon du sprichst.«
   »Mick, hör mal.« Sie stellte sich zwischen ihn und den Tisch und legte Rubin fast freundschaftlich den Arm um die Schultern. »Ich bin keine großartige Rednerin. In Smalltalk war ich immer ganz mies. Leute wie mich lädt man zu keiner Cocktailparty ein und stellt sie nicht aufs Podium. Ich bevorzuge schnelle, knappe Gespräche. Also nochmal, und geh mir nicht mit Ausflüchten auf den Sack. Da oben gibt es ein Labor. Direkt über uns. Es führt hinaus aufs Hangardeck, gut getarnt, aber Sigur hat dich nun mal gesehen, wie du rein— und rausgegangen bist.
   Dafür hast du ihm eins über den Schädel gezogen. Stimmt’s?«
   »Also doch.« Oliviera warf Rubin einen angewiderten Blick zu. Der Biologe schüttelte den Kopf und versuchte, sich aus Weavers Klammergriff zu lösen, aber es gelang ihm nicht.
   »Das ist der größte Unsinn, den ich je … Nein!«
   Ihre freie Hand hatte eines der Seziermesser aus der Halterung gezogen. Sie hielt die Spitze gegen seine Halsschlagader. Rubin zuckte zurück. Weaver drückte ihm die Spitze der Klinge ein bisschen tiefer ins Fleisch und spannte die Muskeln. Der Biologe steckte in ihrer Umarmung wie in einem Schraubstock.
   »Bist du verrückt geworden?«, ächzte er. »Was soll denn das?«
   »Mick, ich bin nicht zimperlich. Ich habe sehr viel Kraft. Als ich klein war, habe ich mal ein Kätzchen gestreichelt und aus Versehen totgedrückt. Schrecklich, was? Ich wollt’s nur streicheln, und knick knack … Überleg dir also gut, was du sagst. Dich will ich nämlich nicht streicheln.«
 
Vanderbilt
 
   Jack Vanderbilt war weder scharf darauf, Johanson umzubringen, noch sonderlich daran interessiert, ihn am Leben zu lassen. Irgendwie mochte er den Mann sogar. Zugleich war es ihm egal. Es ging um den Auftrag, und der Auftrag war definiert. Sofern Johanson ein Sicherheitsrisiko darstellte, würde das nicht mehr lange der Fall sein.
   Floyd Anderson folgte ihm. Der Erste Offizier hatte wie die meisten an Bord eine Doppelfunktion. Tatsächlich war er ausgebildeter Seemann, aber hauptsächlich arbeitete er für die CIA. Fast jeder an Bord, abgesehen von Buchanan und einigen Mitgliedern der Mannschaft, arbeitete auf irgendeine Weise für die CIA. Anderson hatte an geheimen Operationen in Pakistan und am Golf teilgenommen. Er war ein guter Mann.
   Und ein Killer.
   Vanderbilt dachte daran, wie sich die Dinge gedreht hatten. Bis zuletzt hatte er sich an die Vorstellung geklammert, gegen Terroristen zu kämpfen, doch nun musste er sich eingestehen, dass Johanson von Anfang an Recht gehabt hatte. An sich eine Schande, ihn zu töten, zumal in Lis Auftrag. Vanderbilt verabscheute die blauäugige Hexe. Li war paranoid und intrigant, ein krankes Hirn. Er hasste sie und konnte sich doch der perfiden Logik nicht entziehen, mit der sie über Leichen ging. Am Grunde ihres Wahnsinns hatte sie Recht. Auch diesmal.
   Plötzlich fiel ihm ein, wie er Johanson vor ihr gewarnt hatte, damals in Nanaimo.
   Sie ist verrückt, capisce?
   Johanson hatte eindeutig nicht verstanden.
   Wie auch? Niemand begriff zu Anfang, was mit Li nicht in Ordnung war. Dass sie, getrieben von Verschwörungstheorien und zwanghaftem Ehrgeiz, grundsätzlich überreagierte. Dass sie log und betrog und alles und jeden ihren Zielen opferte. Judith Li, das Hätschelkind des Präsidenten der Vereinigten Staaten. Nicht mal der merkte was. Der mächtigste Mann der Welt hatte nicht den leisesten Schimmer, wen er da hochpäppelte.
   Wir werden alle aufpassen müssen, dachte Vanderbilt. Es sei denn, jemand nimmt eine Waffe in die Hand und löst das Problem.
   Irgendwann.
   Zügig durchquerten sie die Flure. Johanson hätte ihnen keinen größeren Gefallen tun können, als die Plattform des Außenlifts aufzusuchen. Wie hatte die Verrückte so schön gesagt? Ein Windstoß …
 
Kontrollraum
 
   Vanderbilt hatte kaum den Raum verlassen, als einer der Männer an den Konsolen Li herbeirief. Er zeigte auf einen der Bildschirme.
   »Irgendwas ist im Labor im Gange«, sagte er.
   Li sah zu, was sich auf dem Monitor abspielte. Weaver, Oliviera und Rubin standen zusammen. Sehr dicht zusammen. Weaver hatte Rubin den Arm um die Schultern gelegt und drückte sich an ihn.
   Seit wann verstanden sich die beiden so gut?
   »Ton lauter«, sagte Li.
   Weavers Stimme war zu hören. Leise zwar, aber deutlich genug. Sie fragte Rubin nach dem geheimen Labor aus. Bei näherem Hinsehen sah man die Angst in Rubins Augen und etwas in Weavers Hand, das blitzte und seinem Hals allzu nahe war.
   Li hatte genug gesehen und gehört. »Sal! Sie und drei Leute. Gewehre mit Explosivgeschossen. Rasch. Wir gehen runter.«
   »Was haben Sie vor?«, fragte Peak.
   »Für Ordnung sorgen.« Sie wandte sich vom Bildschirm ab und ging zur Tür. »Ihre Frage hat uns zwei Sekunden gekostet, Sal. Vergeuden Sie nicht unsere Zeit, sonst schieße ich Sie über den Haufen. Die Männer her. In einer Minute will ich Weaver die Flausen austreiben. Die Schonzeit für Wissenschaftler ist abgelaufen.«
 
Labor
 
   »Du mieses Schwein«, sagte Oliviera. »Du hast Sigur niedergeschlagen? Was soll das alles?«
   In Rubins Augen trat nackte Angst. Sein Blick suchte die Decke ab. »Das stimmt nicht, ich …«
   »Schau nicht nach Kameras, Mick«, sagte Weaver leise. »Ehe dir jemand helfen kann, bist du tot.«
   Rubin begann zu zittern.
   »Nochmal, Mick — was tut ihr da?«
   »Wir haben ein Gift entwickelt«, sagte er stockend.
   »Ein Gift?«, echote Oliviera.
   »Wir haben deine Arbeit dafür benutzt, Sue. Deine und Sigurs. Nachdem ihr die Formel für das Pheromon gefunden hattet, war es einfach, selber welches in ausreichender Menge herzustellen und … Wir haben es mit einem radioaktiven Isotop gekoppelt.«
   »Ihr habt was?«
   »Das Pheromon ist radioaktiv verseucht, aber die Zellen erkennen es nicht. Wir haben’s ausprobiert …«
   »Wie bitte? Ihr habt einen Hochdrucktank?«
   »Nur ein kleines Modell … Karen, bitte, nimm das Messer weg, du hast doch keine Chance! Sie hören und sehen, was hier los ist …«
   »Quatsch nicht«, sagte Weaver. »Weiter, was habt ihr dann getan?«
   »Wir hatten beobachtet, wie das Pheromon defekte Yrr tötet, die keinen Spezialrezeptor haben. Genau, wie Sue es erklärt hat. Nachdem klar war, dass zur Biochemie der Yrr der Programmierte Zelltod gehört, mussten wir einen Weg finden, den Zelltod auch bei gesunden Yrr einzuleiten.«
   »Über das Pheromon?«
   »Es ist der einzige Weg. Ins Genom können wir nicht eingreifen, solange wir es nicht vollständig entschlüsselt haben, und das würde Jahre dauern. Wir haben den Duftstoff also auf eine Weise mit dem radioaktiven Isotop gekoppelt, dass die Yrr es nicht erkennen.«
   »Und was macht dieses Isotop?«
   »Es setzt die schützende Wirkung des Spezialrezeptors außer Kraft. Das Pheromon wird damit für alle Yrr zur Todesfalle. Es tötet auch die gesunden Zellen.«
   »Warum habt ihr uns denn nichts davon gesagt?« Oliviera schüttelte fassungslos den Kopf. »Keiner von uns liebt diese Biester. Wir hätten gemeinsam eine Lösung finden können.«
   »Li hat eigene Pläne«, presste Rubin hervor.
   »Aber so funktioniert das nicht!«
   »Es hat funktioniert. Wir haben es getestet.«
   »Es ist Wahnsinn, Mick! Ihr wisst nicht, was ihr da in Gang setzt. Was geschieht, wenn diese Spezies stirbt? Die Yrr beherrschen 70 Prozent unseres Planeten, sie verfügen über eine uralte, hoch entwickelte Biotechnologie. Sie stecken in anderen Organismen, möglicherweise im gesamten marinen Leben, bauen Substanzen ab, vielleicht Methan oder Kohlendioxid — wir haben keine Vorstellung davon, was mit diesem Planeten geschieht, wenn wir sie vernichten.«
   »Wieso alle?«, fragte Weaver. »Vernichtet das Gift nicht nur einige Zellen? Oder ein Kollektiv?«
   »Nein, es setzt eine Kettenreaktion in Gang«, keuchte Rubin. »Der Programmierte Zelltod. Sobald sie verschmelzen, vernichten sie sich selber. Wenn das Pheromon ankoppelt, ist es schon zu spät. Einmal in Gang gesetzt, ist der Prozess nicht mehr aufzuhalten. Wir codieren die Yrr um, es ist wie ein tödliches Virus, das sie aneinander weitergeben.«
   Oliviera packte Rubin am Kragen.
   »Ihr müsst diese Experimente stoppen«, sagte sie eindringlich. »Diesen Weg dürft ihr auf keinen Fall gehen. Verdammt nochmal, kapierst du nicht, dass diese Wesen die wahren Herrscher der Erde sind? Sie sind die Erde! Ein Superorganismus. Intelligente Ozeane. Ihr habt keine Ahnung, in was ihr da eingreift.«
   »Und wenn wir’s nicht tun?« Rubin stieß ein krächzendes Lachen aus. »Komm mir nicht mit diesem selbstgefälligen Ethos. Wir werden alle sterben. Wollt ihr auf die nächsten Tsunamis warten? Auf den Methan-GAU? Auf die Eiszeit?«
   »Wir sind nicht mal eine Woche hier und haben schon einen Kontakt aufgebaut«, sagte Weaver. »Warum versuchen wir es nicht weiter mit Verständigung?«
   »Zu spät«, stöhnte Rubin.
   Ihre Blicke wanderten über Wände und Decken. Sie wusste nicht, wie viel Zeit ihr noch blieb, bevor Li oder Peak aufkreuzten. Vielleicht kam auch Vanderbilt. Lange konnte es nicht mehr dauern.
   »Was heißt das, zu spät?«
   »Es ist zu spät, du blöde Kuh!«, schrie Rubin. »In weniger als zwei Stunden bringen wir das Gift zum Einsatz.«
   »Ihr müsst wahnsinnig sein«, flüsterte Oliviera.
   »Mick«, sagte Weaver. »Ich will jetzt genau wissen, wie ihr es macht. Ansonsten rutscht mir die Hand aus.«
   »Ich bin nicht autorisiert, dir das …«
   »Ich meine es ernst.«
   Rubin zitterte noch stärker. »Im Deepflight 3 sind zwei Torpedorohre für das Gift vorgesehen. Wir haben es in Projektile gefüllt …«
   »Sind sie schon an Bord?«
   »Nein, ich sollte das Boot gleich damit ausrüsten, um …«
   »Wer geht runter?«
   »Li und ich.«
   »Li geht selber da runter?«
   »Es war ihre Idee. Sie überlässt nichts dem Zufall.« Rubin zwang sich ein Grinsen ab. »Ihr kommt nicht gegen sie an, Karen. Ihr könnt es nicht verhindern. Wir werden die Welt retten. Es werden unsere Namen sein, an die man sich erinnern wird …«
   »Halt die Schnauze, Mick.« Weaver begann ihn Richtung Tür zu schieben. »Wir gehen jetzt in dieses Labor. Das Boot wird nicht betankt. Gerade hat sich das Drehbuch geändert.«
 
Welldeck
 
   »Läuft da eigentlich was zwischen dir und Karen?«, fragte Greywolf, während er Ausrüstungsteile in Containern verstaute.
   Anawak stutzte. »Nein. Eigentlich nicht.«
   »Eigentlich?«
   »Wir verstehen uns gut. Ich denke, das ist alles.«
   Greywolf sah ihn an. »Vielleicht solltest wenigstens du anfangen, ein paar Dinge richtig zu machen«, sagte er.
   »Ich weiß nicht mal, ob sie interessiert ist.« Plötzlich wurde Anawak bewusst, dass er es soeben vor sich und Greywolf eingestanden hatte. »Ich weiß es wirklich nicht, Jack. Ich bin in solchen Dingen leider ein ziemlicher Trottel.«
   »Ist mir klar«, sagte Greywolf höhnisch. »Dein Vater musste erst sterben, damit du überhaupt in der Welt der Lebenden ankommst.«
   »Hey …«
   »Reg dich ab. Du weißt, dass ich Recht habe. Warum gehst du ihr nicht hinterher? Sie wartet doch drauf.« »Ich bin deinetwegen hergekommen, nicht wegen Karen.«
   »Ich weiß es zu schätzen. Jetzt geh endlich.«
   »Verdammt, Jack.« Anawak schüttelte den Kopf. »Hör auf, dich hier einzugraben. Komm mit nach oben, bevor dir Flossen wachsen.«
   »Flossen würde ich im Augenblick bevorzugen.«
   Anawak sah unschlüssig zum Tunnel. Natürlich wäre er Weaver gerne hinterhergegangen, aber es gab noch einen anderen Grund als seine frisch eingestandenen Gefühle. Irgendetwas hatte sie beunruhigt. Sie war seltsam gewesen, verkrampft und aufgekratzt. Er musste an das denken, was sie ihm von Johanson erzählt hatte.
   »Gut, versaure hier«, sagte er zu Greywolf. »Falls du’s dir anders überlegst, ich bin oben.«
   Er verließ das Welldeck und passierte das Labor. Es war verschlossen. Kurz überlegte er, hineinzuschauen. Vielleicht traf er Johanson an. Es reizte ihn, mehr über die Sache zu erfahren. Dann entschied er sich anders und lief weiter die Rampe hoch zum Hangardeck, um einen Blick auf die ominöse Wand zu werfen.
   Aber das tat er nicht.
   Als Anawak den Hangar betrat, sah er Vanderbilt und Anderson, die gerade den Durchgang zur Außenplattform passierten.
   Plötzlich hatte er ein mulmiges Gefühl.
   Was machten die hier?
   Und wohin war Weaver eigentlich verschwunden?
 
Abgrund
 
   Heulender Westwind war aufgekommen. Er blies vom Eiskap her, trieb schäumende Brecher am Rumpf der Independence entlang und saugte den letzten Rest Wärme aus dem Meer.
   Unter der heftig bewegten Oberfläche bildeten sich Strudel und Turbulenzen, doch mit zunehmender Tiefe wurde es ruhig. Vor wenigen Monaten war hier eiskaltes Wasser, schwer von Salz, in Kaskaden hinabgestürzt. Immer noch herrschte grimmige Kälte, aber nun vermischte sich die See mit dem Süßwasser rapide abschmelzender Polareismassen, denen seit geraumer Zeit Wärme zugeführt wurde. Die große, nordatlantische Pumpe, auch Lunge der Weltmeere genannt, weil mit dem erkalteten Wasser ungeheure Mengen Sauerstoff in die Tiefe gelangten, kam langsam, aber sicher zum Erliegen. Das Förderband der Meeresströmungen stand still, der Wärme spendende Strom aus den Tropen versiegte.
   Noch allerdings hatte die Pumpe ihre Arbeit nicht vollständig eingestellt. Auch wenn die Kaskaden nicht mehr messbar waren, wanderten nach wie vor geringe Mengen Kaltwasser hinab. Durch lichtlose Stille fielen sie dem Abgrund des Grönländischen Beckens entgegen, Meter um Meter, Hunderte von Metern, Tausende.
   In dreieinhalb Kilometer Tiefe, unmittelbar über dem schlammigen Grund, wich die Finsternis einem dunkelblauen Leuchten.
   Es erstreckte sich über eine riesige Fläche: keine Wolke, sondern ein dünnwandiges, röhrenartiges Gebilde, mit unzähligen gallertigen Füßchen am Boden verhaftet. Im Innern der Röhre wogten Millionen fühlerartiger Auswüchse in regelmäßigen Wellen, eine Wiese aus synchron bewegten Gallertfäden. Große Brocken einer weißlichen Substanz wanderten darauf in Richtung eines großen Gegenstandes. Das blaue Leuchten reichte kaum aus, um seine Form erkennen zu lassen, erhellte nur schwach zwei geöffnete Kuppeln. Mehr war von dem gesunkenen Deepflight, das schräg im Schlick der Tiefsee lag, nicht zu sehen.
   Seit geraumer Weile füllte der Organismus das Tauchboot mit den weißen, gefrorenen Brocken. Inzwischen passte nicht mehr viel hinein, und der Nachschub versiegte. Ein Teil der Röhre schnürte sich ab, sank auf das Boot herab und begann es zu umhüllen. Die transparente Substanz zog sich um den Rumpf zusammen, verdichtete sich und drückte die Kuppeln herunter. Blau schimmernde Flächen breiteten sich aus und flossen ineinander, bis das komplette Boot in einer geschlossenen Umhüllung steckte, zu der sich ein langer, dünner Schlauch wand.
   Der Schlauch begann zu pulsieren. Wasser wurde durch sein Inneres gepumpt. Wasser von weit her. Die hauchdünne Gallerte saugte es aus einem gewaltigen organischen Ballon, der ein Stück über dem Tauchboot hing, angefüllt mit wärmerem Wasser, das die Gallerte dem Schlammvulkan vor Norwegens Küste entnommen hatte. Bedingt durch das warme und damit leichtere Wasser in seinem Innern hätte der Ballon zur Oberfläche emporsteigen müssen, aber sein Körpergewicht hielt ihn in perfekter Schwebe.
   Wärme strömte in den Gallertsack, der das Tauchboot umhüllte.
   Die weißen Brocken reagierten augenblicklich. Binnen Sekunden schmolzen die Kristallkäfige des Hydrats dahin. Explosionsartig blähte sich das komprimierte Methan zum Einhundertvierundsechzigfachen seines Volumens auf, füllte das Deepflight mit Gas und blies die gallertene Hülle auf, bis sie sich blähte und spannte. Der Gallertkokon trennte die Verbindung zum Schlauch und schloss sich. Kein Gas konnte mehr entweichen. Mit aller Kraft strebte es nach oben, langsam erst, dann, mit abnehmendem Druck ringsum, immer schneller, den Kokon und das darin eingeschlossene Tauchboot mit sich reißend.
 
Labor
 
   Weaver, Rubin im Klammergriff und die Klinge an seinem Hals, kam nicht mal bis nach draußen. Die Labortür glitt auf. Drei Soldaten mit schwerer Bewaffnung stürmten ins Innere und legten auf sie an. Sie hörte Oliviera einen Entsetzensschrei ausstoßen und blieb stehen, ohne Rubin loszulassen.
   Li betrat das Labor, gefolgt von Peak.
   »Sie werden nirgendwo hingehen, Karen.«
   »Jude«, ächzte Rubin. »Das wurde verdammt nochmal Zeit! Halten Sie mir diese Verrückte vom Leib.«
   »Sie sind ganz still«, herrschte ihn Peak an. »Ohne Sie hätten wir diese Probleme nicht.«
   Li lächelte. »Mal ehrlich, Karen«, sagte sie in liebenswürdigem Tonfall. »Meinen Sie nicht, dass Sie ein bisschen überreagieren?«
   »Angesichts dessen, was Mick so erzählt?« Weaver schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube kaum.«
   »Was erzählt er denn so?«
   »Oh, Mick war sehr gesprächig. Nicht wahr, Mick? Hast uns alles schön verraten.«
   »Sie lügt«, krächzte Rubin.
   »Er hat über Kettenreaktionen gesprochen, über Gift in Torpedohülsen und über Deepflight 3. Übrigens hat er auch erwähnt, dass Sie beide einen Ausflug machen wollen. In etwa ein bis zwei Stunden.«
   »Tz, tz«, machte Li. Sie trat einen Schritt vor. Weaver packte Rubin und zerrte ihn zurück an Olivieras Seite. Die Biologin stand wie erstarrt neben dem Labortisch. Sie hielt immer noch den Phiolenkoffer mit dem Pheromonextrakt in ihren Händen.
   »Wissen Sie, Mick Rubin ist vielleicht einer der besten Biologen der Welt, aber er leidet unter Minderwertigkeitsgefühlen«, sagte Li. »Er wäre so gerne berühmt. Die Vorstellung, dass sein Name nicht der Nachwelt überliefert werden könnte, macht ihn wahnsinnig. Das erklärt sein übertriebenes Mitteilungsbedürfnis, aber sehen Sie’s ihm nach. Rubin würde seine Mutter verschachern für ein bisschen Ruhm.« Sie blieb stehen. »Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Da Sie wissen, was wir vorhaben, werden Sie auch die Notwendigkeit dahinter erkennen. Ich habe mein Möglichstes getan, die Sache nicht eskalieren zu lassen, aber da neuerdings alle Bescheid zu wissen scheinen, bleibt mir ja wohl keine Wahl.«
   »Nehmen Sie Vernunft an, Karen«, sagte Peak beschwörend. »Lassen Sie ihn frei.«
   »Das werde ich nicht tun«, antwortete Weaver.
   »Er wird gebraucht. Hinterher können wir über alles reden.«
   »Nein, wir reden überhaupt nicht mehr.« Li zog ihre Waffe und richtete sie auf Weaver. »Freilassen, Karen. Auf der Stelle, oder ich knalle Sie ab. Das ist mein letztes Wort.«
   Weaver blickte in die kleine, schwarze Öffnung der Pistole.
   »So weit gehen Sie nicht«, sagte sie.
   »Ach nein?«
   »Es gibt keinen Grund, so etwas zu tun.«
   »Sie machen einen Fehler, Jude«, sagte Oliviera heiser. »Sie dürfen dieses Gift nicht einsetzen. Ich habe Mick bereits erklärt, dass …«
   Li schwenkte die Waffe, richtete sie auf Oliviera und drückte ab. Die Biologin wurde gegen den Labortisch geschleudert und rutschte daran hinunter. Der Phiolenkoffer entglitt ihren Händen. Eine Sekunde lang starrte sie mit fragendem Blick auf das faustgroße Loch in ihrer Brust, dann wurden ihre Augen glasig.
   »Nein!«, schrie Peak. »Um Gottes willen, was tun Sie denn da?«
   Die Waffe ruhte wieder auf Weaver.
   »Freilassen«, sagte Li.
 
Außenlift
 
   »Dr. Johanson!«
   Johanson drehte sich um. Er sah Vanderbilt und Anderson über die Plattform näher kommen. Anderson wirkte stoisch und unbeteiligt, die schwarzen Knopfaugen auf irgendeinen Punkt geheftet, während Vanderbilt breit grinste.
   »Sie müssen wütend auf uns sein«, sagte er.
   Die Art, wie er sich näherte und grinste, hatte etwas behäbig Kumpelhaftes. Johanson sah den beiden stirnrunzelnd entgegen. Er stand am Ende der Plattform, wenige Meter von der Kante entfernt. Heftige Böen klatschten ihm ins Gesicht. Unter ihm hoben sich die Wellen. Eben hatte er wieder ins Innere gehen wollen.
   »Was führt Sie her, Jack?«
   »Nichts Bestimmtes.« Vanderbilt hob die Hände in einer Geste der Entschuldigung. »Wissen Sie, ich wollte Ihnen einfach nur sagen, dass es uns Leid tut. Es ist alles so unnötig. Dass wir uns streiten. Diese ganze dumme Geschichte, finden Sie nicht auch?«
   Johanson schwieg. Vanderbilt und Anderson kamen immer näher. Er trat einen Schritt zur Seite, und die Ankömmlinge blieben stehen.
   »Haben wir was zu bereden?«, fragte Johanson.
   »Ich habe Sie vorhin beleidigt«, sagte Vanderbilt. »Ich wollte mich entschuldigen.«
   Johanson hob die Brauen.
   »Sehr nobel von Ihnen, Jack. Ich akzeptiere. Sonst noch was?«
   Vanderbilt hielt das Gesicht in den Wind. Sein schütteres, blassblondes Haar flatterte wie Dünengras.
   »Ist verflucht kalt hier draußen«, sagte er, während er sich langsam wieder in Bewegung setzte. Anderson folgte seinem Beispiel. Beide hatten einen gewissen Abstand zwischen sich gelegt. Es sah ganz so aus, als versuchten sie, Johanson einzukreisen. Er würde es weder zwischen ihnen hindurch noch nach rechts oder links schaffen.
   Was sie vorhatten, war so offensichtlich, dass er kaum Überraschung verspürte. Nur schreckliche Angst, gegen die er nichts machen konnte. Angst, gemischt mit verzweifeltem Zorn. Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück und erkannte im selben Moment, dass es ein Fehler gewesen war. Er war der Kante jetzt sehr nahe. Viel brauchten sie nicht mehr zu tun. Ein kräftiger Stoß würde ihn in eines der umlaufenden Netze befördern oder darüber hinweg.
   »Jack«, sagte er langsam. »Sie wollen mich doch nicht etwa umbringen?«
   »Mein Gott, wie kommen Sie denn darauf?« Vanderbilt riss in gespieltem Erstaunen die Augen auf. »Ich will mit Ihnen reden.«
   »Was tut Anderson dabei?«
   »Oh, er war gerade in der Nähe. Reiner Zufall. Wir dachten …«
   Johanson stürmte auf Vanderbilt zu, duckte sich und schlug einen Haken nach rechts. Er war weg von der Kante. Anderson sprang hinzu. Einen Moment lang schien es, als hätte das improvisierte Täuschungsmanöver Erfolg gehabt, dann fühlte Johanson sich gepackt und zurückgerissen. Andersons Faust flog heran und landete in seinem Gesicht.
   Er stürzte und schlitterte über die Plattform.
   Der Erste Offizier kam ihm ohne besondere Eile hinterher. Seine Pranken verschwanden unter Johansons Achselhöhlen und zogen ihn hoch. Johanson versuchte, seine Finger unter Andersons Handflächen zu verkeilen und den Griff zu lösen, aber es war, als packe er in Beton. Seine Füße verloren den Bodenkontakt. Er strampelte wie wild mit den Beinen, während ihn Anderson auf die Kante zutrug, wo Vanderbilt stand und einen kritischen Blick nach unten warf.
   »Ein Scheißseegang heute«, sagte der CIA-Direktor. »Ich hoffe, es macht Ihnen keine Umstände, wenn wir Sie da runterwerfen, Dr. Johanson. Sie werden ein bisschen schwimmen müssen.« Er drehte ihm den Kopf zu und fletschte die Zähne. »Aber keine Angst, nicht lange. Das Wasser hat allenfalls zwei Grad. Sie werden es sogar angenehm finden. Wie alles zur Ruhe kommt, alles gefühllos wird, wie sich der Herzschlag verlangsamt …«
   Johanson begann zu schreien.
   »Hilfe!«, schrie er aus Leibeskräften. »Hilfe!«