Страница:
Also wurden die amerikanischen Dressurprogramme mit neuen Mitteln fortgesetzt. Aus Russland hörte man von ersten Anstrengungen, die Arbeit mit den Säugern wieder aufzunehmen. Auch die indische Armee begann mit eigenen Zucht— und Dressurprogrammen. Aktuell war selbst der Nahe Osten in die Forschung eingestiegen.
Hatte Vanderbilt am Ende Recht?
Anawak war überzeugt, dass in den Tiefen des Web Informationen zu finden waren, die man auf der Homepage der US-Navy vergebens suchte. Er hörte nicht zum ersten Mal von Militärversuchen, um Wale und Delphine vollständiger Kontrolle zu unterwerfen. Dabei ging es weniger um klassische Dressur als um neuronale Forschung, wie sie John Lilly einst begonnen hatte. Weltweit hegte das Militär ein ausgeprägtes Interesse am Sonar der Delphine, das jedem menschlichen System überlegen war und dessen Funktionsweise man immer noch nicht verstand. Vieles deutete darauf hin, dass in jüngster Vergangenheit Experimente stattgefunden hatten, die weit über alles hinausgingen, was man offiziell bereit war einzugestehen.
Dort würden die Antworten zu finden sein auf die Frage, was mit den Walen geschehen war.
Aber das World Wide Web schwieg sich aus.
Es schwieg beharrlich, durchbrochen von Abstürzen und Zugriffsfehlern. Es schwieg drei Stunden lang, bis Anawak schließlich kurz davor stand aufzugeben. Seine Augen brannten. Er hatte keine Lust und keine Konzentration mehr, und so entging ihm beinahe die kurze Meldung des Earth Island Journal, die über den Bildschirm flackerte.
US-Navy verantwortlich für tote Delphine?
Das Journal wurde herausgegeben vom Earth Island Institute, einer Umweltschutzgruppe, die sich um neuartige Methoden zum Erhalt der Natur bemühte und diverse Projekte betrieb. Die Earth-Island- Leute waren in der Klimadiskussion vertreten und enthüllten Umweltskandale. Ein großer Teil ihrer Arbeit galt dem Leben in den Ozeanen und speziell dem Schutz der Wale.
Der kurze Artikel ging zurück auf ein Ereignis zu Beginn der neunziger Jahre, als an der französischen Mittelmeerküste 16 tote Delphine angeschwemmt worden waren. Alle Kadaver wiesen rätselhafte, identische Wunden auf. Ein sauber ausgestanztes, faustgroßes Loch an der hinteren Nackenseite, unter dem der nackte Schädelknochen zu sehen war. Niemand hatte sich damals erklären können, was es mit den mysteriösen Verletzungen auf sich hatte, aber ohne Zweifel waren sie verantwortlich für den Tod der Tiere. Der Vorfall hatte sich während der ersten Golfkrise ereignet, als große Flottenverbände der Amerikaner das Mittelmeer durchkreuzt hatten, und Earth Island stellte einen Zusammenhang mit Geheimexperimenten der US-Navy her, von denen man annahm, dass sie zu dieser Zeit stattgefunden haben mussten.
Offenbar hatten sie nicht den gewünschten Erfolg gehabt, sodass man sich schließlich gezwungen sah, sie zu vertuschen.
Irgendetwas muss damals fürchterlich schief gelaufen sein, schrieb das Journal.
Anawak druckte den Text aus und versuchte, im Archiv weitere Artikel zu finden, die den Vorfall aufgriffen. Er war so vertieft in seine Arbeit, dass er kaum hörte, wie die Tür der Station geöffnet wurde. Erst als sich sein Blickfeld verdunkelte, schaute er auf und sah einen muskulösen Bauch und eine nackte, behaarte Brust, die sich unter einer offen stehenden Lederjacke hervorwölbte.
Er legte den Kopf in den Nacken. Bei der Größe seines Gegenübers war das unvermeidbar.
»Du wolltest mich sprechen«, sagte Greywolf.
Das Lederzeug an seinem gewaltigen Körper war speckig und abgetragen wie immer. Die langen Haare hatte er zu einem schimmernden Zopf gebunden. Augen und Zähne blitzten. Anawak hatte den Halbindianer einige Tage nicht gesehen, und wie alles um sich herum nahm er auch ihn plötzlich mit anderen Augen wahr. Er spürte die Kraft des Hünen, seine Ausstrahlung, seinen natürlichen Charme. Es war kein Wunder, dass Delaware so viel geballter Männlichkeit verfallen war. Wahrscheinlich hatte es Greywolf nicht mal darauf angelegt.
»Ich dachte, du bist irgendwo in Ucluelet«, sagte er.
»War ich auch.« Greywolf zog einen Stuhl heran und setzte sich, dass es knarrte. »Licia meinte, du brauchst mich.«
»Brauchen?« Anawak lächelte. »Ich hatte ihr gesagt, dass ich mich freuen würde, dich zu sehen.«
»Was im Klartext heißt, du brauchst mich. Also bin ich hier.«
»Und wie geht’s dir?«
»Es ginge mir besser, wenn du was zu trinken hättest.«
Anawak ging zum Kühlschrank, förderte Bier und Cola zutage und stellte beides auf die Theke. Greywolf trank eine halbe Dose Heineken in einem Zug und wischte sich den Mund.
»Hab ich dich bei irgendwas gestört?«, fragte Anawak.
»Zerbrich dir nicht den Kopf. Ich war fischen mit ein paar reichen Säcken aus Beverly Hills. Was euch Whale Watcher betrifft, so schwappt euer idiotisches Geschäft gerade zu mir rüber. Keiner geht davon aus, dass sein Boot von einer Forelle attackiert wird, also bin ich umgestiegen und biete Angeltouren auf den Seen und Flüssen unserer geliebten Insel an.«
»Ich sehe, deine Einstellung zum Whale Watching hat sich nicht sonderlich geändert.«
»Nein, warum sollte sie? Aber ich lasse euch in Ruhe.«
»Oh, danke«, sagte Anawak sarkastisch. »Aber es trifft sich gut. Ich meine, dass du immer noch auf deinem Rachefeldzug für die gepeinigte Natur bist. Erzähl mir nochmal in kurzen Zügen, was du bei der Navy gemacht hast.«
Greywolf starrte ihn verblüfft an. »Das weißt du doch.«
»Erzähl’s mir nochmal.«
»Ich war Trainer. Wir haben Delphine für taktische Einsätze trainiert.«
»Wo? In San Diego?«
»Ja, auch da.«
»Und du bist wegen Herzmuskelschwäche oder so was Ähnlichem entlassen worden. In allen Ehren.«
»Genau«, sagte Greywolf zwischen zwei Schlucken.
»Das stimmt nicht, Jack. Du bist nicht entlassen worden. Du bist von selber gegangen.«
Greywolf nahm die Dose vom Mund und setzte sie beinahe vorsichtig auf dem Tresen ab.
»Wie kommst du denn darauf?«
»Weil es in den Akten des Space and Naval Warfare System Center San Diego so vermerkt ist«, sagte Anawak. Er begann, langsam im Raum auf und ab zu gehen. »Nur damit du siehst, dass ich im Bilde bin: Das SSC San Diego ist die Nachfolgeorganisation einer Behörde, die sich Navy Command, Control and Ocean Systems Center nannte, ebenfalls beheimatet in San Diego, Point Loma. Die Finanzierung erfolgte durch eine Organisation, aus der das US Navy’s Marine Mammal System von heute hervorgegangen ist. Jede dieser Institutionen taucht in irgendeiner Weise auf, wenn man die Geschichte der Meeressäugerprogramme nachliest, und jede wird unter der Hand in Verbindung gebracht mit einer Reihe dubioser Experimente, die angeblich niemals stattgefunden haben.« Anawak hielt einen Moment inne. Dann entschloss er sich zu einem Bluff. »Experimente, die durchgeführt wurden in Point Loma, wo du stationiert warst.«
Greywolf verfolgte Anawaks Wanderung durch den Verkaufsraum mit lauernden Blicken. »Wozu erzählst du mir den ganzen Quatsch?«
»Aktuell werden in San Diego Ernährungsgewohnheiten erforscht, Jagd— und Kommunikationsverhalten, Dressurfähigkeit, Möglichkeiten der Auswilderung und so weiter. Was das Militär allerdings noch mehr interessiert, ist das Gehirn der Säuger. Dieses Interesse geht zurück auf die Sechziger. Zur Zeit des ersten Golfkriegs scheint es neu aufgeflammt zu sein. Du warst damals schon einige Jahre dabei. Als du die Navy verlassen hast, bist du im Rang eines Lieutenant ausgeschieden, zuletzt verantwortlich für die beiden Delphinstaffeln MK6 und MK7, zwei von insgesamt vier.«
Greywolfs Brauen zogen sich zusammen.
»Na und? Habt ihr keine anderen Sorgen in eurem Ausschuss? Die Situation in Europa beispielsweise?«
»Der nächste Schritt in deiner Karriere hätte dir die Gesamtverantwortung über das komplette Programm eingetragen«, fuhr Anawak fort. »Stattdessen hast du alles hingeschmissen.«
»Ich habe überhaupt nichts hingeschmissen. Sie haben mich ausgemustert.«
Anawak schüttelte den Kopf. »Jack, ich genieße ein paar bemerkenswerte Privilegien. Ich verdanke ihnen Zugriff auf eine Reihe von Daten, an deren Verlässlichkeit es nichts zu rütteln gibt. Du bist freiwillig gegangen, und ich würde gerne wissen, warum.«
Er nahm den Ausdruck des Earth-Island- Artikels vom Tresen und reichte ihn Greywolf, der einen kurzen Blick darauf warf und das Blatt weglegte.
Eine ganze Weile war es still.
»Jack«, sagte Anawak leise. »Du hattest Recht. Ich freue mich wirklich, dich zu sehen, aber ich brauche deine Hilfe.«
Greywolf sah zu Boden und schwieg.
»Was hast du damals erlebt? Warum bist du gegangen?«
Der Halbindianer brütete weiter vor sich hin. Dann straffte er sich und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Warum willst du das wissen?«
»Weil es uns helfen könnte zu verstehen, was mit unseren Walen geschehen ist.«
»Es sind nicht eure Wale. Es sind nicht eure Delphine. Nichts ist euer. Du willst wissen, was los ist? Sie schlagen zurück, Leon. Wir kriegen die längst fällige Quittung. Sie spielen nicht mehr mit. Wir haben sie als Eigentum betrachtet, ihnen Leid zugefügt, sie missbraucht, sie begafft. Sie haben einfach die Schnauze voll von uns.«
»Du glaubst tatsächlich, sie tun das alles aus freiem Willen?«
Greywolf setzte zum Sprechen an, dann schüttelte er den Kopf.
»Mich interessiert nicht mehr, warum sie irgendetwas tun. Wir haben uns schon viel zu sehr für sie interessiert. Ich will es nicht wissen, Leon, ich will einfach nur, dass man sie in Frieden lässt.«
»Jack«, sagte Anawak langsam. »Sie werden gezwungen.«
»Quatsch. Wer sollte …«
»Sie werden gezwungen! Wir haben den Beweis. Ich dürfte dir das gar nicht erzählen, aber ich brauche Informationen. Du willst ihnen Leid ersparen, dann tu es auch. Im Moment widerfährt ihnen größeres Leid, als du dir vorstellen kannst …«
»Als ich mir vorstellen kann?« Greywolf sprang auf. »Was weißt du denn? Du weißt gar nichts!«
»Dann klär mich auf.«
»Ich habe …« Der Riese schien mit sich zu ringen. Seine Kiefer mahlten. Er ballte die Fäuste. Dann ging eine Veränderung mit ihm vor. Sein Körper entspannte sich, erschlaffte geradezu.
»Komm mit«, sagte er. »Wir gehen spazieren.«
Eine Weile liefen sie schweigend nebeneinander her. Am Ortsrand wählte Greywolf einen Pfad, der unter Bäumen hindurch zum Wasser führte. Nach wenigen Schritten erreichten sie die Böschung. Ein kleiner, wackliger Steg führte hinaus und bot Ausblick auf die herbe Schönheit der Bucht. Greywolf schlenderte die windschiefen Planken entlang und ließ sich am Stegende nieder. Anawak folgte ihm. Von Tofino lugten hinter der Landzunge zur Rechten nur Davies Pier und einige Stelzenhäuser hervor. Sie saßen eine Weile dort und sahen auf die Berge, deren Farben im späten Nachmittagslicht kraftvoll leuchteten.
»Deine Daten sind nicht ganz vollständig«, sagte Greywolf schließlich. »Offiziell gibt es vier Gruppen, MK4 bis 7, aber es existiert eine fünfte Gruppe, Deckname MKO. Die Navy bevorzugt übrigens den Begriff System statt Gruppe. Jedem System fallen bestimmte Aufgaben zu. Es stimmt, San Diego hat die Leitung inne, aber die meiste Zeit verbrachte ich in Coronado, Kalifornien, wo viele der Tiere trainiert werden. Die Armee hält sie in ihrem natürlichen Lebensraum, in Buchten und Hafenanlagen. Es geht ihnen dort gut! Sie werden regelmäßig gefüttert und genießen ausgezeichnete medizinische Versorgung, das ist mehr, als die meisten Menschen für sich verbuchen können.«
»Und du warst für diese fünfte Gruppe … das fünfte System verantwortlich?«
»Du machst dir falsche Vorstellungen. MKO ist anders. Im Allgemeinen umfasst ein System vier bis acht Tiere mit fest definierten Aufträgen. MK4 hat zum Beispiel die Aufgabe, am Ozeanboden verankerte Minen aufzuspüren und zu markieren. Alles Delphine. Sie werden außerdem darauf trainiert, Sabotageversuche an Schiffen zu melden. MK5 ist eine Seelöwenstaffel, MK6 und MK7 suchen ebenfalls nach Minen, werden aber bevorzugt in der Abwehr feindlicher Taucher eingesetzt.«
»Sie greifen Taucher an?«
»Nein. Sie geben dem Eindringling einen Stups mit der Nase und befestigen dabei eine zusammengewickelte Schnur an seinem Anzug, deren Ende mit einem Schwimmer versehen ist. Der Schwimmer ist mit einem Stroboskoplicht gekoppelt, das uns die Position des Tauchers verrät. Alles andere erledigen dann wir. Ähnlich läuft das mit den Minen. Die Tiere melden den Fund. In manchen Fällen tauchen sie mit einem Magneten nach unten, platzieren ihn an der Mine, am Magnet hängt ein Seil, und das bringen sie zurück. Wenn die Mine nicht gerade fest verankert ist, müssen wir nur noch an der Strippe ziehen. Fertig. Schwertwale und Belugas holen dir Torpedos aus bis zu einem Kilometer Tiefe, es ist beeindruckend. — Du musst dir vorstellen, dass Minensuchen für Menschen ein tödliches Geschäft ist. Nicht mal so sehr, weil dir das Ding um die Ohren fliegen könnte, sondern weil du fast immer in Ufernähe danach suchen musst und hauptsächlich dort, wo es gerade kracht.
Du wirst vom Land her beschossen.«
»Und die Minen töten die Tiere nicht?«
»Offiziell ist kein einziges Tier auf diese Weise gestorben. Tatsächlich gibt es Ausnahmen, aber sie liegen im tolerierbaren Bereich. Jedenfalls, von MKO hatte ich anfangs nur gehört und es für ein Ammenmärchen gehalten. Es ist kein richtiges System, sondern der Deckname für eine ganze Reihe von Programmen und Experimenten, die an unterschiedlichen Orten und mit immer neuen Tieren durchgeführt werden. MKO-Tiere kommen auch nicht mit anderen Tieren in Kontakt, aber manchmal werden Tiere aus regulären Systemen für MKO rekrutiert und verschwinden dann für alle Zeiten.« Greywolf machte eine Pause. »Ich war ein guter Trainer. MK6 war mein erstes System. Wir nahmen an jedem größeren Manöver teil. 1990 übernahm ich MK7, und alle schlugen mir auf die Schulter. Sie lobten meine Arbeit über den grünen Klee, und schließlich kam einer auf den Gedanken, dass ich vielleicht ein bisschen mehr erfahren sollte.«
»Über MKO.«
»Ich wusste natürlich, dass Tümmler der Navy ihren ersten großen Erfolg Anfang der Siebziger in Vietnam verbucht hatten, wo sie Häfen in der Cam-Ranh-Bucht schützten und die Unterwassersabotage der Vietkong stoppten. — Das erzählen sie dir immer als Erstes beim MMS, und sie sind mächtig stolz darauf. Was sie dir nicht erzählen, sind die Umstände, unter denen das geschah. Sie verlieren auch kein Wort über das Swimmer Nullification Program. Das funktioniert nämlich ein bisschen anders. Die Tiere werden darauf dressiert, feindlichen Froschmännern Maske und Flossen herunterzureißen und die Luftschläuche rauszuziehen. Brutal genug, aber in Vietnam trugen sie an Schnauze und Flossen außerdem lange, stilettartige Messer, und einige führten auf dem Rücken Harpunen mit sich. Was dich da unter Wasser angriff, war kein Delphin oder Tümmler mehr, sondern eine Tötungsmaschine. — Und selbst das ist harmlos gegen den Trick, auf den die Navy dann verfiel, als sie den Tieren subkutane Spritzen auf die Schnauzen setzten, mit denen sie die Taucher rammen sollten, was sie auch fleißig taten. Das Problem für den betroffenen Taucher lag jedes Mal darin, dass die Spritze eine Ladung von 3000 psi Karbondioxid in seinen Körper jagte, also komprimierte Kohlensäure. Das Gas breitet sich binnen weniger Sekunden aus. Das Opfer explodiert. Es wird in Fetzen gerissen. — Über 40 Vietkong sind auf diese Weise von unseren Tieren getötet worden und aus Versehen auch zwei Amerikaner, aber ein bisschen Schwund ist überall.«
Anawak spürte, wie sich sein Magen zusammenkrampfte.
»Ähnliches geschah Ende der Achtziger in Bahrain«, fuhr Greywolf fort. »Da war ich erstmalig an der Front. Mein System verrichtete brav seine Arbeit, ich hatte keine Ahnung von MKO. Auch nicht, dass sie die Tiere über unzugänglichen Gebieten mit Fallschirmen abwarfen, zum Teil aus drei Kilometern Höhe, was nicht jedes überlebte. Andere warfen sie ohne Fallschirm aus Helikoptern, immer noch zwanzig Meter über dem Meer. Wieder andere schickten sie mit Minen los, um sie an Schiffsrümpfe und gegnerische U-Boote zu heften. Manchmal warteten sie, bis die Tiere nah genug dran waren, und zündeten die Minen per Fernsteuerung. Kamikaze-Unternehmen. Kurze Zeit später wusste ich darüber Bescheid.« Greywolf schwieg eine Weile. »Ich hätte damals schon aufhören sollen, Leon, aber die Navy war mein Zuhause. Ich war da glücklich. Kein Ahnung, ob du das verstehen kannst, aber so war es nun mal.«
Anawak schwieg. Er verstand es nur zu gut.
»Also tröstete ich mich damit, zu den good guys zu gehören. Aber das Oberkommando gelangte zu der Ansicht, es sei gut, mich künftig ins MKO-Programm einzubinden. Die bad guys fanden, ich sei so ungemein talentiert im Umgang mit den Tieren.« Greywolf spuckte aus. »Und da hatten sie Recht, die Hurensöhne, und ich war ein Idiot, weil ich Ja sagte, anstatt ihnen was auf die Fresse zu geben. Ich hab mir eingeredet, dass Krieg nun mal so ist. Menschen fallen im Gefecht, sie treten auf Minen oder werden erschossen oder verbrannt, also was soll das Lamento wegen einiger Delphine? So kam ich nach San Diego, wo sie gerade daran arbeiteten, Schwertwale mit nuklearen Sprengköpfen auszurüsten …«
»Wie bitte?«
Greywolf sah ihn an. »Du wunderst dich? Ich habe längst aufgehört, mich über irgendwas zu wundern. Es gibt Projekte, Orcas mit so was loszuschicken. So ein Sprengkopf wiegt sieben Tonnen, den schleppt dir ein ausgewachsener Orca meilenweit bis in einen feindlichen Hafen. Einen nuklearen Killerwal zu stoppen ist fast unmöglich. Ich weiß nicht, wie weit sie inzwischen sind, aber ich schätze, das stellt heute kein Problem mehr dar. Damals steckten sie mittendrin in den Versuchen. In diesem Zusammenhang wurde ich Zeuge eines anderen Experiments. — Die Navy zeigt Journalisten gerne Videos von Delphinen, die mit einer scharfen Mine im Maul losschwimmen und sie fröhlich zurückbringen, statt dem russischen U-Boot-Kapitän, für den sie bestimmt war, den Arsch damit wegzublasen. Darauf gründet die Navy ihre Behauptung, solche Killerkommandos gäbe es nicht. Tatsächlich kommt so was vor, aber äußerst selten. Schlimmstenfalls fliegt ein Boot mit drei Mann in die Luft. Damit kann die Navy leben. Es hat sie nicht davon abgehalten, solche Versuche voranzutreiben.« Greywolf machte eine Pause. »Was anderes ist es, wenn du einen nuklearen Wal nicht sauber auf Kurs halten kannst. Wenn der zurückkommt, und das Ding ist scharf, hast du ein Problem. Die Navy kann so viele Orcas losschicken, wie sie will, aber sie muss sichergehen, dass die Wale nicht auf dumme Gedanken kommen. Und der beste Weg, dumme Gedanken zu vermeiden, ist, sie gar nicht erst zuzulassen.«
»John Lilly«, murmelte Anawak.
»Was?«
»Ein Forscher. Er hat in den Sechzigern Hirnversuche mit Delphinen durchgeführt.«
»Ich erinnere mich, dass der Name irgendwann fiel«, sagte Greywolf nachdenklich. »In San Diego jedenfalls wurde ich Zeuge, wie sie Delphinen den Kopf aufmeißelten. Das war 1989. Sie schlugen mit Hammer und Meißel kleine Löcher in die Schädeldecke. Die Tiere waren bei vollem Bewusstsein und mussten von mehreren starken Männern festgehalten werden, weil sie ständig versuchten, vom Tisch zu springen. Man erklärte mir, das sei nicht wegen der Schmerzen, sondern weil den Tieren das Gehämmere auf die Nerven ging. Tatsächlich sehe die Prozedur weit schmerzhafter aus, als es tatsächlich der Fall sei. Durch die Löcher führten sie dann Elektroden ein, um über elektrische Reize das Gehirn zu stimulieren.«
»Ja, das ist John Lilly!«, rief Anawak erregt. »Er hat versucht, eine Art Landkarte des Gehirns herzustellen.«
»Glaub mir, die Navy hat ihre Landkarten erstellt«, sagte Greywolf bitter. »Mir wurde schlecht, aber ich hielt meinen Mund. Sie zeigten mir einen Delphin, der in einem Becken schwamm und eine zaumzeugartige Vorrichtung im Nacken trug. Die Vorrichtung trieb Elektroden durch die Schädeldecke. Sie hatten es geschafft, das Tier durch elektrische Signale zu steuern. Es war erstaunlich, das muss man ihnen lassen. Sie konnten den Delphin dazu bringen, nach rechts oder nach links zu schwimmen, Sprünge zu vollführen, Aggressionen aufzubauen und Attrappen von Tauchern anzugreifen, sie konnten seinen Fluchtmechanismus auslösen und eine Art Ruhezustand herbeiführen. Ob das Tier je aus freiem Willen mitgemacht hätte oder nicht, spielte keine Rolle. Dieser Delphin besaß keinen freien Willen mehr. Er funktionierte wie ein ferngesteuertes Auto, wie ein Kinderspielzeug. — Nun, sie waren begeistert. Es sah alles danach aus, als ob die Sache ein großer Erfolg würde. 1991 waren wir zum Golf unterwegs, und wir nahmen rund zwei Dutzend solcher ferngesteuerter Delphine mit, während sie in San Diego parallel an nuklearen Walen arbeiteten. Ich war immer noch dabei, ich hielt immer noch meine sonst so große Klappe und machte mir weis, dass das nicht mein Projekt sei. Meine Delphine suchten Minen, wurden gut gefüttert und gestreichelt. Man drängte mich, aktiv ins MKO einzusteigen, und ich schaffte es irgendwie, mir Bedenkzeit auszubitten — Bedenkzeit ist in der Armee nicht sonderlich beliebt, in dem Wort steckt Denken! —, aber gut, sie gingen darauf ein. Wir passierten die Straße von Gibraltar und führten Testreihen auf hoher See durch. Anfangs lief alles glatt. Dann begannen die ersten Probleme. In den Labors und Aquarien von San Diego hatte die Fernsteuerung reibungslos funktioniert, aber im offenen Meer waren die Tiere anderen Reizen ausgesetzt. Die Ausfälle häuften sich. Es klappte einfach nicht in freier Natur, jedenfalls nicht so, wie sich die Projektleitung die Sache vorgestellt hatte, und die Tiere entwickelten sich zum Sicherheitsrisiko. Zurück nach Amerika konnten wir sie nicht bringen, mitnehmen zum Golf wollte sie keiner. — Wir ankerten vor Frankreich. Es gibt dort ein Partnerinstitut, in dem französische Experten am MKO-Programm mitarbeiten. Die Franzosen sind nicht gerade unsere besten Freunde, aber sie haben eine Menge Ahnung von Meeresforschung, also hatte man Allianzen geknüpft. Hier erhofften wir uns ein paar Antworten. Ein Mann namens René Guy Busnel empfing uns und wurde mir vorgestellt als Leiter des verdienstvollen Laboratoire d’Acoustique Animale. Er versprach, sich unserer Probleme anzunehmen, und lud uns zu einer Führung ein. Gleich im ersten dieser verdienstvollen Labors präsentierte er uns einen Delphin, der in eine Vorrichtung aus Schraubstöcken eingespannt und völlig verstümmelt war. Aus seinem Rücken ragte ein armlanges Messer. Ich habe nie gefragt, wozu sie das getan haben, aber ich war dabei, wie die Laborassistenten uns eine Grußkarte des Instituts überreichten, die sie mit dem Blut des Delphins unterschrieben hatten, und alle lachten.«
Greywolf hielt inne. Aus der Tiefe seines gewaltigen Brustkastens drang ein undefinierbarer Laut, etwas wie ein resigniertes Seufzen.
»Busnel fachsimpelte über Hirnexperimente und gelangte zu dem Schluss, dass es so nicht ginge. Die Leiter des Projekts hatten offenbar das eine oder andere übersehen oder falsch eingeschätzt, was weiß ich. Zurück an Bord wurde Kriegsrat gehalten und beschlossen, die Delphine loszuwerden. Wir ließen sie einfach ins Meer hinausschwimmen, und nachdem sie einige hundert Meter weit vom Schiff waren, drückte jemand auf ein Knöpfchen an einem Gerät. — Sie hatten Zündkapseln in das Elektrodengeschirr eingebaut, um zu verhindern, dass die Technik in feindliche Hände fallen konnte. Nicht viel, nur eben genug, um das Geschirr und die Elektroden abzusprengen. Die Tiere wurden dabei getötet. Danach fuhren wir weiter.«
Greywolf nagte an seiner Unterlippe. Dann sah er Anawak an. »Das sind die Delphine, die an der französischen Küste angeschwemmt wurden. Deine Meldung von Island Earth. Jetzt weißt du’s.«
»Und du hast …«
»Ich sagte ihnen, dass es reicht. Sie versuchten, mich umzustimmen. Zwecklos. Natürlich gefiel es ihnen nicht, in ihren Akten vermerkt zu sehen, dass einer ihrer besten Delphintrainer aus ungenannten Gründen den Abschied einreicht. Auf so was stürzen sich immer gleich Hundertschaften von Schreiberlingen, das Fernsehen ruft an, du weißt schon. Es ging hin und her. Schließlich einigten wir uns darauf, dass sie mir einen Haufen Geld geben und ich mich dafür aus gesundheitlichen Gründen ausmustern lasse. Ich bin eigentlich Kampftaucher. Mit Herzmuskelschwäche kannst du das vergessen. Kein Mensch stellt blöde Fragen, wenn du wegen Herzschwäche ausgemustert wirst. Und ich war draußen.«
Anawak sah hinaus auf die Bucht.
»Ich bin kein Wissenschaftler wie du«, sagte Greywolf leise. »Ich verstehe was von Delphinen und wie man mit ihnen umgeht, aber nichts von Neurologie und diesem ganzen Mist. Ich kann es nicht ertragen, wenn jemand ein allzu offensichtliches Interesse an einem Wal oder einem Delphin entwickelt, das ist alles, und wenn er nur ein Foto machen will. Ich kann es nicht ertragen, und ich kann’s nicht ändern.«
»Shoemaker glaubt heute noch, du willst uns eins auswischen.«
Greywolf schüttelte den Kopf. »Ich war eine Weile der Meinung, Whale Watching wäre in Ordnung, aber du siehst ja, es hat nicht funktioniert. Ich habe mich selber rausgeworfen. Ich habe einfach nur dafür gesorgt, dass ihr es tut.«
Anawak stützte das Kinn in die Hände.
Es war so schön hier. So unglaublich schön war diese Bucht mit den Bergen, war diese ganze Insel, dass es beinahe schmerzte.
»Jack«, sagte er nach einer Weile. »Du wirst umdenken müssen. Es passiert schon wieder. Deine Wale nehmen keine Rache. Sie geben uns nicht die Quittung. Sie werden gesteuert. Irgendjemand fährt sein eigenes MKO-Programm mit ihnen. Es ist noch viel schlimmer als alles, was die Navy mit ihnen gemacht hat.«
Greywolf erwiderte nichts. Schließlich verließen sie den Steg und gingen schweigend den Waldweg zurück nach Tofino. Vor Davies Whaling Station blieb Greywolf stehen.
»Kurz vor meinem Ausstieg hörte ich, dass die Experimente mit den nuklearen Walen einen entscheidenden Sprung nach vorne getan hätten. In dem Zusammenhang fiel ein Name. Es ging um Neurologie und irgendetwas, das sie Neuronencomputer nannten. Sie sagten, um die Tiere vollständig zu beherrschen, müsse man den Gedanken eines gewissen Kurzweil folgen. Professor Dr. Kurzweil. Ich dachte, ich sag’s dir einfach. Keine Ahnung, ob du damit was anfangen kannst.«
Anawak überlegte. »Doch«, sagte er. »Ich glaube schon.«
Am frühen Abend klopfte Weaver an Johansons Zimmertüre. Wie es ihre Art war, drückte sie die Klinke hinunter, um einzutreten, aber die Tür war verschlossen.
Sie hatte ihn aus Nanaimo zurückkommen sehen. Johanson hatte sich mit Bohrmann treffen wollen. Weaver fuhr mit dem Fahrstuhl in die Lobby und fand ihn in der Bar, wo er mit dem Deutschen und Stanley Frost zusammensaß. Sie waren über Diagramme gebeugt und in heftige Diskussionen verstrickt.
»Hi.« Weaver trat hinzu. »Kommt ihr weiter?«
»Wir stecken fest«, sagte Bohrmann. »Wir haben immer noch ein paar Unbekannte in der Gleichung.«
»Bah, denen kommen wir auch noch auf die Spur«, knurrte Frost. »Gott würfelt nicht.«
»Das hat Einstein gesagt«, bemerkte Johanson. »Und er hatte Unrecht.«
»Gott würfelt nicht!«
Sie wartete eine Weile. Dann tippte sie Johanson an. »Könnte ich dich — entschuldige die Störung, aber kann ich dich kurz unter vier Augen sprechen?«
Johanson zögerte. »Jetzt sofort? Wir gehen gerade Stans Szenario durch. Treibt einem den Angstschweiß auf die Stirn.«
»Tut mir Leid.«
»Warum leistest du uns nicht Gesellschaft?«
»Kannst du dich nicht wenigstens ein paar Minuten ausklinken? Wir brauchen nicht lange.« Sie lächelte in die Runde. »Danach komme ich hinzu, lasse sämtliche Simulationen über mich ergehen und nerve euch mit neunmalklugen Kommentaren.«
»Mächtig nette Vorstellung«, grinste Frost.
»Und wohin?«, fragte Johanson, als sie den Tisch verließen.
»Egal. In die Halle.«
»Ist es irgendwas von Bedeutung?«
»Bedeutung ist gar kein Ausdruck!«
»Gut.«
Sie gingen nach draußen. Die Sonne stand tief. Im Untergehen überzog sie das Chateau und die verschneiten Gipfel der Rockys mit rötlichem Licht. Die Helikopter vor dem Hotel sahen aus wie Rieseninsekten in Ruhestellung. Sie spazierten ein Stück in Richtung Whistler Village. Plötzlich war Weaver die ganze Sache peinlich. Die anderen mussten glauben, sie und Johanson hätten Geheimnisse miteinander, aber tatsächlich wollte sie einfach nur seine Meinung hören. Sie wollte ihm die Entscheidung überlassen, wann er mit seiner Theorie vor den Stab trat, und dazu gehörte auch, ihn vorab zu informieren.
»Wie war es in Nanaimo?«, fragte sie.
»Zum Gruseln.«
»Es heißt, Long Island sei von Killerkrabben überrannt worden.« »Krabben mit Killeralgen«, sagte Johanson. »Ähnlich wie in Europa, nur viel giftiger.«
»Klingt nach einer neuen Angriffswelle.«
»Ja. Oliviera, Fenwick und Rubin haben sich an die Analysen begeben.« Er räusperte sich. »Dein Interesse in allen Ehren, aber eigentlich wolltest du mir was erzählen.«
»Ich habe den ganzen Tag mit Satellitendaten verbracht. Dann habe ich die Radarauswertungen mit Multispektralaufnahmen verglichen. Ich hätte gerne auch die Daten von Bauers autarken Driftern abgefragt, aber sie liefern keine Daten mehr. Es hat auch so gereicht. Du weißt, dass sich der Meeresspiegel in den Randbereichen großer ozeanischer Wirbel hochwölbt?«
»Hab davon gehört.«
»Ein solcher Bereich ist der Golfstrom. Bauer hat vermutet, dass etwas in dieser Region geschieht. Er fand die nordatlantischen Schlote nicht mehr, in denen das Wasser absinkt, und schloss daraus, dass etwas das Verhalten der großen Strömungen stört, aber er war sich nicht ganz sicher.«
»Und?«
Sie blieb stehen und sah ihn an. »Ich habe es durchgerechnet, verglichen, betrachtet, durchgerechnet, verglichen, angezweifelt, betrachtet, durchgerechnet. Die Golfstromwölbung ist verschwunden.«
Johanson runzelte die Stirn. »Du meinst …«
»Der Wirbel dreht sich nicht mehr wie früher, und wenn du die Spektralaufnahmen daneben betrachtest, stellst du fest, dass im gleichen Maße die Wärme zurückgegangen ist. Es gibt keinen Zweifel, Sigur. Wir sehen einer neuen Eiszeit entgegen. Der Golfstrom hat aufgehört zu fließen. Etwas hat ihn gestoppt.«
»Das ist eine verdammte Schweinerei! Und irgendjemand wird dafür bezahlen.«
Der Präsident wollte Blut sehen.
Er war in der Offutt Air Force Base eingetroffen und hatte als Erstes eine abhörsichere Videokonferenz mit dem Nationalen Sicherheitsrat einberufen. Washington, Offutt und das Chateau waren zusammengeschaltet. Im Lageraum des Weißen Hauses saßen der Vizepräsident, der Verteidigungsminister und sein Stellvertreter, die Außenministerin, der Sicherheitsberater des Präsidenten, der Direktor des FBI und der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs beisammen. Aus der Zentrale für Terrorismusbekämpfung tief im fensterlosen Inneren des CIA-Hauptquartiers am Potomac waren der Direktor der Behörde, der Deputy Director for Operations und der Direktor des Counterterrorism Center und Leiter der Sondereinsätze zugeschaltet. Die Oberbefehlshabende des Central Command, General Judith Li, und der Stellvertretende CIA-Director Jack Vanderbilt komplettierten den Kreis. Sie saßen im provisorischen War Room des Chateaus vor einer Reihe von Bildschirmen, auf denen die übrigen Teilnehmer der Sitzung zu sehen waren. Die meisten trugen einen Ausdruck wilder Entschlossenheit zur Schau, einige wirkten eher ratlos.
Der Präsident gab sich keine Mühe, seine Wut zu verbergen. Am Nachmittag hatte ihm sein Vize den Vorschlag unterbreitet, die Stabschefs mit der Leitung eines Krisenkabinetts zu betrauen, aber er bestand darauf, die Plenarsitzungen des Nationalen Sicherheitsrats selber zu leiten. Auf keinen Fall wollte er sich die Entscheidungsgewalt aus der Hand nehmen lassen.
Damit handelte er ganz im Sinne Lis. In der Hierarchie der Berater war Li nicht die wichtigste Stimme. Den höchsten militärischen Rang bekleidete der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs. Er war militärischer Hauptberater des Präsidenten, und auch er hatte einen Stellvertreter. Jeder Idiot hatte einen Stellvertreter. Li wusste allerdings, dass der Präsident gern auf sie hörte, und es erfüllte sie mit glühendem Stolz. In jeder Sekunde war die Vision ihrer künftigen Laufbahn präsent, selbst jetzt, da sie hochkonzentriert dem Verlauf der Sitzung folgte. Vom General Commander würde sie es zur Vorsitzenden der Vereinigten Stabschefs bringen. Der jetzige Vorsitzende stand kurz davor, aus dem Amt zu scheiden, und sein Stellvertreter war erwiesenermaßen eine Flasche. Danach konnte sie eine politische Runde als Außenministerin oder im Verteidigungsministerium drehen und sich anschließend für die Präsidentschaftswahl aufstellen lassen. Wenn sie ihren Job jetzt gut machte — und das hieß, uneingeschränkt im Interesse der Vereinigten Staaten —, war ihr die Wahl so gut wie sicher. Die Welt stand am Abgrund, Li vor dem Aufstieg. »Wir stehen gegen einen gesichtslosen Feind«, sagte der Präsident. »Einige hier sind der Meinung, wir müssten uns dem Teil der Menschheit zuwenden, von dem die Bedrohung auszugehen scheint. Andere bezweifeln, dass mehr dahinter steckt als eine tragische Häufung natürlicher Prozesse. Was mich betrifft, ich will keine langen Vorträge, sondern einen Konsens, damit wir handlungsfähig werden. Ich will Pläne sehen, will wissen, was es kostet und wie lange es dauert.« Er kniff die Augen zusammen. Den Grad seiner Wut und seiner Entschlossenheit konnte man immer daran ablesen, wie sehr er die Augen zusammenkniff. »Ich persönlich glaube nicht an das Märchen von der ausgeflippten Natur. Wir sind im Krieg. Das ist meine Meinung. Amerika ist im Krieg, also was machen wir?«
Der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs sagte, man müsse aus der Defensive treten und zum Angriff übergehen. Es klang sehr entschlossen. Der Verteidigungsminister sah ihn stirnrunzelnd an.
»Wen wollen Sie angreifen?«
»Da ist jemand, den wir angreifen werden«, sagte der Vorsitzende entschieden. »Darauf kommt’s erst mal an.«
Der Vizepräsident gab zu verstehen, dass er einzelne Gruppierungen derzeit kaum für fähig halte, terroristische Offensiven dieses Kalibers durchzuziehen.
»Wenn, dann steckt ein Land dahinter«, sagte er. »Oder eine politische Region. Vielleicht mehrere Staaten, wer weiß. Jack Vanderbilt hat den Gedanken als Erster formuliert, und ich halte so was durchaus für möglich. Ich meine, wir sollten unser Augenmerk darauf lenken, wer zu solchen Dingen fähig ist.«
»Fähig wären einige«, sagte der Direktor der CIA.
Der Präsident nickte. Seit ihm der Direktor unmittelbar vor seinem Amtsantritt einen langen Vortrag über the good, the bad and the ugly der CIA gehalten hatte, sah er die Welt bevölkert von gottlosen Verbrechern, die den Untergang der Vereinigten Staaten von Amerika planten. Ganz Unrecht hatte er mit dieser Einschätzung nicht.
»Es fragt sich, ob wir in den Reihen unserer klassischen Feinde suchen müssen«, bemerkte er trotzdem.
»Angegriffen wird die freie Welt, nicht nur Amerika.«
»Die freie Welt?« Der Verteidigungsminister schnaubte. »Mann, das sind wir! Europa ist Teil des freien Amerika. Japans Freiheit ist Amerikas Freiheit. Kanada, Australien … Wenn Amerika nicht frei ist, sind die es auch nicht.« Er hatte ein Blatt vor sich liegen und schlug mit der flachen Hand darauf. Es vereinte seine Notizen vom Tage. Er war der Meinung, dass kein Sachverhalt so kompliziert war, dass man ihn nicht auf ein einzelnes Blatt Papier herunterbrechen konnte. »Nur zur Erinnerung«, sagte er. »Über biologische Waffen verfügen Israel und wir, das sind die Guten. Dann Südafrika, China, Russland, Indien, die sind hässlich. Außerdem Nordkorea, der Iran, der Irak, Syrien, Libyen, Ägypten, Pakistan, Kasachstan und der Sudan. Die Bösen. Und das hier ist eine biologische Attacke. Das ist böse.«
»Es könnten auch chemische Komponenten eine Rolle spielen«, sagte der Stellvertretende Verteidigungsminister. »Oder?«
»Langsam.« Der CIA-Direktor hob die Hand. »Gehen wir mal davon aus, dass derartige Aktionen, wie wir sie erleben, mit einer Menge Geld verbunden sind und einem Heidenaufwand. Chemische Waffen sind einfach und billig herzustellen, aber der Biokram bündelt enorme Ressourcen. Und wir sind ja nicht blind. Pakistan und Indien arbeiten mit uns zusammen. Wir haben über hundert pakistanische Geheimdienstler für verdeckte Operationen ausgebildet. In Afghanistan und Indien arbeiten einige Dutzend Agenten für die CIA mit zum Teil exzellenten Kontakten. Den ganzen Raum da unten können Sie vergessen. Wir haben paramilitärische Trupps im Sudan, die mit dortigen Oppositionellen zusammenarbeiten, und in Südafrika sitzen Leute von uns mit in der Regierung. Nirgendwo dort ist offenkundig geworden, dass was Größeres im Gange ist. Wir müssen also zusehen, wo in letzter Zeit Summen geflossen sind und Aktivitäten zu beobachten waren. Unsere Aufgabe ist, das Feld einzugrenzen, nicht alle Schurken dieser Welt aufzuzählen.«
»Ich kann dazu anmerken«, sagte der Direktor des FBI, »dass kein Geld fließt.«
»Wie meinen Sie das?«
»Sie wissen, dass uns die Durchführungsverordnungen für die Überwachung terroristischer Finanzquellen weit reichende Einblicke ermöglichen. Das Finanzministerium ist ziemlich genau im Bilde, wo größere Summen transferiert wurden. Wir sollten was mitbekommen haben.«
»Und?«, fragte Vanderbilt.
»Keine Hinweise. Weder in Afrika, Fernasien oder im Nahen Osten. Nichts deutet darauf hin, dass überhaupt ein Land involviert ist.«
Vanderbilt räusperte sich. »Das binden die uns doch nicht auf die Nase«, sagte er. »Es steht auch nicht in der Washington Post.«
»Nochmals, wir haben keine …«
»Tut mir Leid, wenn ich jemanden desillusionieren muss«, fuhr ihm Vanderbilt dazwischen. »Aber glaubt einer im Ernst, wer fähig ist, die Nordsee zu zerdeppern und New York zu vergiften, präsentiert unseren Leuten sein Geldköfferchen?«
Die Augen des Präsidenten verengten sich zu Schlitzen.
»Die Welt verändert sich«, sagte er. »In so einer Welt erwarte ich, dass wir in jedes Köfferchen gucken können. Wir können uns aussuchen, ob die Schweinehunde so schlau oder wir so blöde sind. Ich weiß, dass einige von ihnen verdammt schlau sind, aber unser Job ist es dann eben, schlauer zu sein. Und zwar ab heute.« Er sah den Direktor der Terrorismusbekämpfung an. »Also, wie schlau sind wir?«
Der Direktor zuckte die Achseln. »Das Letzte, was wir reinbekommen haben, ist eine Warnung der Inder vor pakistanischen Dschihadisten, die das Weiße Haus in die Luft sprengen wollen. Wir kennen die Leute bereits. Es besteht keine Gefahr. Wir wussten es übrigens vorher, und wir hatten verschiedene finanzielle Transaktionen verfolgt. Das Global Response Center trägt jeden Tag bergeweise Informationen zusammen über den internationalen Terrorismus. Es stimmt, Mister President. Da passiert nichts, was wir nicht mitkriegen.«
»Und im Moment ist Ruhe?« »Ruhe ist nie. Aber das, was geschieht, wurde offenkundig nicht vorbereitet oder finanziert. — Was nichts heißen muss, zugegeben.« Der Blick des Präsidenten ruhte einige Sekunden auf dem Sprecher und wanderte weiter zum Direktor für verdeckte Operationen. »Ich erwarte verdoppelte Anstrengungen Ihrer Leute«, sagte er scharf. »Egal, auf welchen Außenposten und Stützpunkten sie sich rumtreiben. Amerikanische Bürger werden nicht zu Schaden kommen, weil jemand hier seine Hausaufgaben nicht gemacht hat.« »Natürlich, Sir.« »Ich darf nochmals daran erinnern, dass wir angegriffen werden. Wir sind im Krieg! Ich will wissen, mit wem.« »Schauen Sie in den Nahen Osten«, rief Vanderbilt ungeduldig. »Das tun wir«, sagte Li neben ihm. Der dicke Mann seufzte, ohne sie anzusehen. Er wusste, dass Li anderer Meinung war.
»Man kann sich natürlich selber ins Gesicht schlagen, um den Eindruck zu erwecken, verprügelt worden zu sein«, sagte Li. »Aber ist das glaubhaft? Wenn wir irgendwelche vitalen Interessen von Ländern zugrunde legen, die uns nicht wohl gesinnt sind, wäre es idiotisch anzunehmen, sie würden sich selber schaden. Wenn sie es auf uns abgesehen haben, macht ein bisschen Terror anderswo in der Welt sicherlich Sinn, um davon abzulenken, dass es gegen die Vereinigten Staaten geht.
Aber doch nicht so.«
»Da sind wir anderer Meinung«, sagte der CIA-Direktor.
»Ich weiß. Diese ist meine: Wir sind nicht das Hauptziel. Zu viel ist passiert, zu ominös ist, was abläuft. Was soll das für ein Irrsinnsaufwand sein, Tausende von Tieren unter Kontrolle zu bringen und Millionen neuer Organismen zu züchten, einen Tsunami in der Nordsee auszulösen, den Fischfang zu sabotieren, Australien und Südamerika mit Quallen zu verseuchen, Schiffe zu zerstören? Niemand würde einen ökonomischen oder politischen Nutzen daraus ziehen. Aber es geschieht, und ob es Jack passt oder nicht, es geschieht auch im Nahen Osten. Damit müssen wir leben, aber ich weigere mich, es den Arabern in die Schuhe zu schieben.«
»Ein paar Frachter sind versenkt worden«, knurrte Vanderbilt. »Im Nahen Osten.«
»Mehr als ein paar.«
»Vielleicht haben wir es mit einem Größenwahnsinnigen zu tun?«, schlug die Außenministerin vor. »Einem Verbrecher.«
»Schon eher«, sagte Li. »So jemand könnte unter dem Deckmantel der Wohlanständigkeit unbemerkt gewaltige Summen bewegen und sämtliche technologischen Mittel nutzen. Ich schätze, wir müssen mehr in dieser Kategorie denken. Jemand erfindet was. Also erfinden wir was dagegen. Jemand schickt uns Würmer auf den Hals. Wir erfinden was gegen diese Würmer. Jemand züchtet Killerkrabben, giftige Algen und Substanzen. Wir ergreifen Gegenmaßnahmen.«
»Was für Gegenmaßnahmen haben Sie ergriffen?«, fragte die Außenministerin.
»Wir haben …«, begann der Verteidigungsminister.
»Wir haben den Großraum New York gesperrt«, fuhr ihm Li dazwischen, die es nicht mochte, wenn jemand ihre Hausaufgaben hoch hielt. »Und eben hörte ich, dass die Krabbenwarnungen vor Washington ernst zu nehmen sind. Das verdanken wir der Drohnenaufklärung. Wir werden auch Washington unter Quarantäne stellen. Die Belegschaft des Weißen Hauses sollte also dem Beispiel ihres Präsidenten folgen und einen anderen Ort aufsuchen für die Dauer der Krise. Ich habe im Umkreis sämtlicher Küstenstädte Einheiten mit Flammenwerfern postieren lassen. Wir denken außerdem über chemische Gegenmittel nach.«
Hatte Vanderbilt am Ende Recht?
Anawak war überzeugt, dass in den Tiefen des Web Informationen zu finden waren, die man auf der Homepage der US-Navy vergebens suchte. Er hörte nicht zum ersten Mal von Militärversuchen, um Wale und Delphine vollständiger Kontrolle zu unterwerfen. Dabei ging es weniger um klassische Dressur als um neuronale Forschung, wie sie John Lilly einst begonnen hatte. Weltweit hegte das Militär ein ausgeprägtes Interesse am Sonar der Delphine, das jedem menschlichen System überlegen war und dessen Funktionsweise man immer noch nicht verstand. Vieles deutete darauf hin, dass in jüngster Vergangenheit Experimente stattgefunden hatten, die weit über alles hinausgingen, was man offiziell bereit war einzugestehen.
Dort würden die Antworten zu finden sein auf die Frage, was mit den Walen geschehen war.
Aber das World Wide Web schwieg sich aus.
Es schwieg beharrlich, durchbrochen von Abstürzen und Zugriffsfehlern. Es schwieg drei Stunden lang, bis Anawak schließlich kurz davor stand aufzugeben. Seine Augen brannten. Er hatte keine Lust und keine Konzentration mehr, und so entging ihm beinahe die kurze Meldung des Earth Island Journal, die über den Bildschirm flackerte.
US-Navy verantwortlich für tote Delphine?
Das Journal wurde herausgegeben vom Earth Island Institute, einer Umweltschutzgruppe, die sich um neuartige Methoden zum Erhalt der Natur bemühte und diverse Projekte betrieb. Die Earth-Island- Leute waren in der Klimadiskussion vertreten und enthüllten Umweltskandale. Ein großer Teil ihrer Arbeit galt dem Leben in den Ozeanen und speziell dem Schutz der Wale.
Der kurze Artikel ging zurück auf ein Ereignis zu Beginn der neunziger Jahre, als an der französischen Mittelmeerküste 16 tote Delphine angeschwemmt worden waren. Alle Kadaver wiesen rätselhafte, identische Wunden auf. Ein sauber ausgestanztes, faustgroßes Loch an der hinteren Nackenseite, unter dem der nackte Schädelknochen zu sehen war. Niemand hatte sich damals erklären können, was es mit den mysteriösen Verletzungen auf sich hatte, aber ohne Zweifel waren sie verantwortlich für den Tod der Tiere. Der Vorfall hatte sich während der ersten Golfkrise ereignet, als große Flottenverbände der Amerikaner das Mittelmeer durchkreuzt hatten, und Earth Island stellte einen Zusammenhang mit Geheimexperimenten der US-Navy her, von denen man annahm, dass sie zu dieser Zeit stattgefunden haben mussten.
Offenbar hatten sie nicht den gewünschten Erfolg gehabt, sodass man sich schließlich gezwungen sah, sie zu vertuschen.
Irgendetwas muss damals fürchterlich schief gelaufen sein, schrieb das Journal.
Anawak druckte den Text aus und versuchte, im Archiv weitere Artikel zu finden, die den Vorfall aufgriffen. Er war so vertieft in seine Arbeit, dass er kaum hörte, wie die Tür der Station geöffnet wurde. Erst als sich sein Blickfeld verdunkelte, schaute er auf und sah einen muskulösen Bauch und eine nackte, behaarte Brust, die sich unter einer offen stehenden Lederjacke hervorwölbte.
Er legte den Kopf in den Nacken. Bei der Größe seines Gegenübers war das unvermeidbar.
»Du wolltest mich sprechen«, sagte Greywolf.
Das Lederzeug an seinem gewaltigen Körper war speckig und abgetragen wie immer. Die langen Haare hatte er zu einem schimmernden Zopf gebunden. Augen und Zähne blitzten. Anawak hatte den Halbindianer einige Tage nicht gesehen, und wie alles um sich herum nahm er auch ihn plötzlich mit anderen Augen wahr. Er spürte die Kraft des Hünen, seine Ausstrahlung, seinen natürlichen Charme. Es war kein Wunder, dass Delaware so viel geballter Männlichkeit verfallen war. Wahrscheinlich hatte es Greywolf nicht mal darauf angelegt.
»Ich dachte, du bist irgendwo in Ucluelet«, sagte er.
»War ich auch.« Greywolf zog einen Stuhl heran und setzte sich, dass es knarrte. »Licia meinte, du brauchst mich.«
»Brauchen?« Anawak lächelte. »Ich hatte ihr gesagt, dass ich mich freuen würde, dich zu sehen.«
»Was im Klartext heißt, du brauchst mich. Also bin ich hier.«
»Und wie geht’s dir?«
»Es ginge mir besser, wenn du was zu trinken hättest.«
Anawak ging zum Kühlschrank, förderte Bier und Cola zutage und stellte beides auf die Theke. Greywolf trank eine halbe Dose Heineken in einem Zug und wischte sich den Mund.
»Hab ich dich bei irgendwas gestört?«, fragte Anawak.
»Zerbrich dir nicht den Kopf. Ich war fischen mit ein paar reichen Säcken aus Beverly Hills. Was euch Whale Watcher betrifft, so schwappt euer idiotisches Geschäft gerade zu mir rüber. Keiner geht davon aus, dass sein Boot von einer Forelle attackiert wird, also bin ich umgestiegen und biete Angeltouren auf den Seen und Flüssen unserer geliebten Insel an.«
»Ich sehe, deine Einstellung zum Whale Watching hat sich nicht sonderlich geändert.«
»Nein, warum sollte sie? Aber ich lasse euch in Ruhe.«
»Oh, danke«, sagte Anawak sarkastisch. »Aber es trifft sich gut. Ich meine, dass du immer noch auf deinem Rachefeldzug für die gepeinigte Natur bist. Erzähl mir nochmal in kurzen Zügen, was du bei der Navy gemacht hast.«
Greywolf starrte ihn verblüfft an. »Das weißt du doch.«
»Erzähl’s mir nochmal.«
»Ich war Trainer. Wir haben Delphine für taktische Einsätze trainiert.«
»Wo? In San Diego?«
»Ja, auch da.«
»Und du bist wegen Herzmuskelschwäche oder so was Ähnlichem entlassen worden. In allen Ehren.«
»Genau«, sagte Greywolf zwischen zwei Schlucken.
»Das stimmt nicht, Jack. Du bist nicht entlassen worden. Du bist von selber gegangen.«
Greywolf nahm die Dose vom Mund und setzte sie beinahe vorsichtig auf dem Tresen ab.
»Wie kommst du denn darauf?«
»Weil es in den Akten des Space and Naval Warfare System Center San Diego so vermerkt ist«, sagte Anawak. Er begann, langsam im Raum auf und ab zu gehen. »Nur damit du siehst, dass ich im Bilde bin: Das SSC San Diego ist die Nachfolgeorganisation einer Behörde, die sich Navy Command, Control and Ocean Systems Center nannte, ebenfalls beheimatet in San Diego, Point Loma. Die Finanzierung erfolgte durch eine Organisation, aus der das US Navy’s Marine Mammal System von heute hervorgegangen ist. Jede dieser Institutionen taucht in irgendeiner Weise auf, wenn man die Geschichte der Meeressäugerprogramme nachliest, und jede wird unter der Hand in Verbindung gebracht mit einer Reihe dubioser Experimente, die angeblich niemals stattgefunden haben.« Anawak hielt einen Moment inne. Dann entschloss er sich zu einem Bluff. »Experimente, die durchgeführt wurden in Point Loma, wo du stationiert warst.«
Greywolf verfolgte Anawaks Wanderung durch den Verkaufsraum mit lauernden Blicken. »Wozu erzählst du mir den ganzen Quatsch?«
»Aktuell werden in San Diego Ernährungsgewohnheiten erforscht, Jagd— und Kommunikationsverhalten, Dressurfähigkeit, Möglichkeiten der Auswilderung und so weiter. Was das Militär allerdings noch mehr interessiert, ist das Gehirn der Säuger. Dieses Interesse geht zurück auf die Sechziger. Zur Zeit des ersten Golfkriegs scheint es neu aufgeflammt zu sein. Du warst damals schon einige Jahre dabei. Als du die Navy verlassen hast, bist du im Rang eines Lieutenant ausgeschieden, zuletzt verantwortlich für die beiden Delphinstaffeln MK6 und MK7, zwei von insgesamt vier.«
Greywolfs Brauen zogen sich zusammen.
»Na und? Habt ihr keine anderen Sorgen in eurem Ausschuss? Die Situation in Europa beispielsweise?«
»Der nächste Schritt in deiner Karriere hätte dir die Gesamtverantwortung über das komplette Programm eingetragen«, fuhr Anawak fort. »Stattdessen hast du alles hingeschmissen.«
»Ich habe überhaupt nichts hingeschmissen. Sie haben mich ausgemustert.«
Anawak schüttelte den Kopf. »Jack, ich genieße ein paar bemerkenswerte Privilegien. Ich verdanke ihnen Zugriff auf eine Reihe von Daten, an deren Verlässlichkeit es nichts zu rütteln gibt. Du bist freiwillig gegangen, und ich würde gerne wissen, warum.«
Er nahm den Ausdruck des Earth-Island- Artikels vom Tresen und reichte ihn Greywolf, der einen kurzen Blick darauf warf und das Blatt weglegte.
Eine ganze Weile war es still.
»Jack«, sagte Anawak leise. »Du hattest Recht. Ich freue mich wirklich, dich zu sehen, aber ich brauche deine Hilfe.«
Greywolf sah zu Boden und schwieg.
»Was hast du damals erlebt? Warum bist du gegangen?«
Der Halbindianer brütete weiter vor sich hin. Dann straffte er sich und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Warum willst du das wissen?«
»Weil es uns helfen könnte zu verstehen, was mit unseren Walen geschehen ist.«
»Es sind nicht eure Wale. Es sind nicht eure Delphine. Nichts ist euer. Du willst wissen, was los ist? Sie schlagen zurück, Leon. Wir kriegen die längst fällige Quittung. Sie spielen nicht mehr mit. Wir haben sie als Eigentum betrachtet, ihnen Leid zugefügt, sie missbraucht, sie begafft. Sie haben einfach die Schnauze voll von uns.«
»Du glaubst tatsächlich, sie tun das alles aus freiem Willen?«
Greywolf setzte zum Sprechen an, dann schüttelte er den Kopf.
»Mich interessiert nicht mehr, warum sie irgendetwas tun. Wir haben uns schon viel zu sehr für sie interessiert. Ich will es nicht wissen, Leon, ich will einfach nur, dass man sie in Frieden lässt.«
»Jack«, sagte Anawak langsam. »Sie werden gezwungen.«
»Quatsch. Wer sollte …«
»Sie werden gezwungen! Wir haben den Beweis. Ich dürfte dir das gar nicht erzählen, aber ich brauche Informationen. Du willst ihnen Leid ersparen, dann tu es auch. Im Moment widerfährt ihnen größeres Leid, als du dir vorstellen kannst …«
»Als ich mir vorstellen kann?« Greywolf sprang auf. »Was weißt du denn? Du weißt gar nichts!«
»Dann klär mich auf.«
»Ich habe …« Der Riese schien mit sich zu ringen. Seine Kiefer mahlten. Er ballte die Fäuste. Dann ging eine Veränderung mit ihm vor. Sein Körper entspannte sich, erschlaffte geradezu.
»Komm mit«, sagte er. »Wir gehen spazieren.«
Eine Weile liefen sie schweigend nebeneinander her. Am Ortsrand wählte Greywolf einen Pfad, der unter Bäumen hindurch zum Wasser führte. Nach wenigen Schritten erreichten sie die Böschung. Ein kleiner, wackliger Steg führte hinaus und bot Ausblick auf die herbe Schönheit der Bucht. Greywolf schlenderte die windschiefen Planken entlang und ließ sich am Stegende nieder. Anawak folgte ihm. Von Tofino lugten hinter der Landzunge zur Rechten nur Davies Pier und einige Stelzenhäuser hervor. Sie saßen eine Weile dort und sahen auf die Berge, deren Farben im späten Nachmittagslicht kraftvoll leuchteten.
»Deine Daten sind nicht ganz vollständig«, sagte Greywolf schließlich. »Offiziell gibt es vier Gruppen, MK4 bis 7, aber es existiert eine fünfte Gruppe, Deckname MKO. Die Navy bevorzugt übrigens den Begriff System statt Gruppe. Jedem System fallen bestimmte Aufgaben zu. Es stimmt, San Diego hat die Leitung inne, aber die meiste Zeit verbrachte ich in Coronado, Kalifornien, wo viele der Tiere trainiert werden. Die Armee hält sie in ihrem natürlichen Lebensraum, in Buchten und Hafenanlagen. Es geht ihnen dort gut! Sie werden regelmäßig gefüttert und genießen ausgezeichnete medizinische Versorgung, das ist mehr, als die meisten Menschen für sich verbuchen können.«
»Und du warst für diese fünfte Gruppe … das fünfte System verantwortlich?«
»Du machst dir falsche Vorstellungen. MKO ist anders. Im Allgemeinen umfasst ein System vier bis acht Tiere mit fest definierten Aufträgen. MK4 hat zum Beispiel die Aufgabe, am Ozeanboden verankerte Minen aufzuspüren und zu markieren. Alles Delphine. Sie werden außerdem darauf trainiert, Sabotageversuche an Schiffen zu melden. MK5 ist eine Seelöwenstaffel, MK6 und MK7 suchen ebenfalls nach Minen, werden aber bevorzugt in der Abwehr feindlicher Taucher eingesetzt.«
»Sie greifen Taucher an?«
»Nein. Sie geben dem Eindringling einen Stups mit der Nase und befestigen dabei eine zusammengewickelte Schnur an seinem Anzug, deren Ende mit einem Schwimmer versehen ist. Der Schwimmer ist mit einem Stroboskoplicht gekoppelt, das uns die Position des Tauchers verrät. Alles andere erledigen dann wir. Ähnlich läuft das mit den Minen. Die Tiere melden den Fund. In manchen Fällen tauchen sie mit einem Magneten nach unten, platzieren ihn an der Mine, am Magnet hängt ein Seil, und das bringen sie zurück. Wenn die Mine nicht gerade fest verankert ist, müssen wir nur noch an der Strippe ziehen. Fertig. Schwertwale und Belugas holen dir Torpedos aus bis zu einem Kilometer Tiefe, es ist beeindruckend. — Du musst dir vorstellen, dass Minensuchen für Menschen ein tödliches Geschäft ist. Nicht mal so sehr, weil dir das Ding um die Ohren fliegen könnte, sondern weil du fast immer in Ufernähe danach suchen musst und hauptsächlich dort, wo es gerade kracht.
Du wirst vom Land her beschossen.«
»Und die Minen töten die Tiere nicht?«
»Offiziell ist kein einziges Tier auf diese Weise gestorben. Tatsächlich gibt es Ausnahmen, aber sie liegen im tolerierbaren Bereich. Jedenfalls, von MKO hatte ich anfangs nur gehört und es für ein Ammenmärchen gehalten. Es ist kein richtiges System, sondern der Deckname für eine ganze Reihe von Programmen und Experimenten, die an unterschiedlichen Orten und mit immer neuen Tieren durchgeführt werden. MKO-Tiere kommen auch nicht mit anderen Tieren in Kontakt, aber manchmal werden Tiere aus regulären Systemen für MKO rekrutiert und verschwinden dann für alle Zeiten.« Greywolf machte eine Pause. »Ich war ein guter Trainer. MK6 war mein erstes System. Wir nahmen an jedem größeren Manöver teil. 1990 übernahm ich MK7, und alle schlugen mir auf die Schulter. Sie lobten meine Arbeit über den grünen Klee, und schließlich kam einer auf den Gedanken, dass ich vielleicht ein bisschen mehr erfahren sollte.«
»Über MKO.«
»Ich wusste natürlich, dass Tümmler der Navy ihren ersten großen Erfolg Anfang der Siebziger in Vietnam verbucht hatten, wo sie Häfen in der Cam-Ranh-Bucht schützten und die Unterwassersabotage der Vietkong stoppten. — Das erzählen sie dir immer als Erstes beim MMS, und sie sind mächtig stolz darauf. Was sie dir nicht erzählen, sind die Umstände, unter denen das geschah. Sie verlieren auch kein Wort über das Swimmer Nullification Program. Das funktioniert nämlich ein bisschen anders. Die Tiere werden darauf dressiert, feindlichen Froschmännern Maske und Flossen herunterzureißen und die Luftschläuche rauszuziehen. Brutal genug, aber in Vietnam trugen sie an Schnauze und Flossen außerdem lange, stilettartige Messer, und einige führten auf dem Rücken Harpunen mit sich. Was dich da unter Wasser angriff, war kein Delphin oder Tümmler mehr, sondern eine Tötungsmaschine. — Und selbst das ist harmlos gegen den Trick, auf den die Navy dann verfiel, als sie den Tieren subkutane Spritzen auf die Schnauzen setzten, mit denen sie die Taucher rammen sollten, was sie auch fleißig taten. Das Problem für den betroffenen Taucher lag jedes Mal darin, dass die Spritze eine Ladung von 3000 psi Karbondioxid in seinen Körper jagte, also komprimierte Kohlensäure. Das Gas breitet sich binnen weniger Sekunden aus. Das Opfer explodiert. Es wird in Fetzen gerissen. — Über 40 Vietkong sind auf diese Weise von unseren Tieren getötet worden und aus Versehen auch zwei Amerikaner, aber ein bisschen Schwund ist überall.«
Anawak spürte, wie sich sein Magen zusammenkrampfte.
»Ähnliches geschah Ende der Achtziger in Bahrain«, fuhr Greywolf fort. »Da war ich erstmalig an der Front. Mein System verrichtete brav seine Arbeit, ich hatte keine Ahnung von MKO. Auch nicht, dass sie die Tiere über unzugänglichen Gebieten mit Fallschirmen abwarfen, zum Teil aus drei Kilometern Höhe, was nicht jedes überlebte. Andere warfen sie ohne Fallschirm aus Helikoptern, immer noch zwanzig Meter über dem Meer. Wieder andere schickten sie mit Minen los, um sie an Schiffsrümpfe und gegnerische U-Boote zu heften. Manchmal warteten sie, bis die Tiere nah genug dran waren, und zündeten die Minen per Fernsteuerung. Kamikaze-Unternehmen. Kurze Zeit später wusste ich darüber Bescheid.« Greywolf schwieg eine Weile. »Ich hätte damals schon aufhören sollen, Leon, aber die Navy war mein Zuhause. Ich war da glücklich. Kein Ahnung, ob du das verstehen kannst, aber so war es nun mal.«
Anawak schwieg. Er verstand es nur zu gut.
»Also tröstete ich mich damit, zu den good guys zu gehören. Aber das Oberkommando gelangte zu der Ansicht, es sei gut, mich künftig ins MKO-Programm einzubinden. Die bad guys fanden, ich sei so ungemein talentiert im Umgang mit den Tieren.« Greywolf spuckte aus. »Und da hatten sie Recht, die Hurensöhne, und ich war ein Idiot, weil ich Ja sagte, anstatt ihnen was auf die Fresse zu geben. Ich hab mir eingeredet, dass Krieg nun mal so ist. Menschen fallen im Gefecht, sie treten auf Minen oder werden erschossen oder verbrannt, also was soll das Lamento wegen einiger Delphine? So kam ich nach San Diego, wo sie gerade daran arbeiteten, Schwertwale mit nuklearen Sprengköpfen auszurüsten …«
»Wie bitte?«
Greywolf sah ihn an. »Du wunderst dich? Ich habe längst aufgehört, mich über irgendwas zu wundern. Es gibt Projekte, Orcas mit so was loszuschicken. So ein Sprengkopf wiegt sieben Tonnen, den schleppt dir ein ausgewachsener Orca meilenweit bis in einen feindlichen Hafen. Einen nuklearen Killerwal zu stoppen ist fast unmöglich. Ich weiß nicht, wie weit sie inzwischen sind, aber ich schätze, das stellt heute kein Problem mehr dar. Damals steckten sie mittendrin in den Versuchen. In diesem Zusammenhang wurde ich Zeuge eines anderen Experiments. — Die Navy zeigt Journalisten gerne Videos von Delphinen, die mit einer scharfen Mine im Maul losschwimmen und sie fröhlich zurückbringen, statt dem russischen U-Boot-Kapitän, für den sie bestimmt war, den Arsch damit wegzublasen. Darauf gründet die Navy ihre Behauptung, solche Killerkommandos gäbe es nicht. Tatsächlich kommt so was vor, aber äußerst selten. Schlimmstenfalls fliegt ein Boot mit drei Mann in die Luft. Damit kann die Navy leben. Es hat sie nicht davon abgehalten, solche Versuche voranzutreiben.« Greywolf machte eine Pause. »Was anderes ist es, wenn du einen nuklearen Wal nicht sauber auf Kurs halten kannst. Wenn der zurückkommt, und das Ding ist scharf, hast du ein Problem. Die Navy kann so viele Orcas losschicken, wie sie will, aber sie muss sichergehen, dass die Wale nicht auf dumme Gedanken kommen. Und der beste Weg, dumme Gedanken zu vermeiden, ist, sie gar nicht erst zuzulassen.«
»John Lilly«, murmelte Anawak.
»Was?«
»Ein Forscher. Er hat in den Sechzigern Hirnversuche mit Delphinen durchgeführt.«
»Ich erinnere mich, dass der Name irgendwann fiel«, sagte Greywolf nachdenklich. »In San Diego jedenfalls wurde ich Zeuge, wie sie Delphinen den Kopf aufmeißelten. Das war 1989. Sie schlugen mit Hammer und Meißel kleine Löcher in die Schädeldecke. Die Tiere waren bei vollem Bewusstsein und mussten von mehreren starken Männern festgehalten werden, weil sie ständig versuchten, vom Tisch zu springen. Man erklärte mir, das sei nicht wegen der Schmerzen, sondern weil den Tieren das Gehämmere auf die Nerven ging. Tatsächlich sehe die Prozedur weit schmerzhafter aus, als es tatsächlich der Fall sei. Durch die Löcher führten sie dann Elektroden ein, um über elektrische Reize das Gehirn zu stimulieren.«
»Ja, das ist John Lilly!«, rief Anawak erregt. »Er hat versucht, eine Art Landkarte des Gehirns herzustellen.«
»Glaub mir, die Navy hat ihre Landkarten erstellt«, sagte Greywolf bitter. »Mir wurde schlecht, aber ich hielt meinen Mund. Sie zeigten mir einen Delphin, der in einem Becken schwamm und eine zaumzeugartige Vorrichtung im Nacken trug. Die Vorrichtung trieb Elektroden durch die Schädeldecke. Sie hatten es geschafft, das Tier durch elektrische Signale zu steuern. Es war erstaunlich, das muss man ihnen lassen. Sie konnten den Delphin dazu bringen, nach rechts oder nach links zu schwimmen, Sprünge zu vollführen, Aggressionen aufzubauen und Attrappen von Tauchern anzugreifen, sie konnten seinen Fluchtmechanismus auslösen und eine Art Ruhezustand herbeiführen. Ob das Tier je aus freiem Willen mitgemacht hätte oder nicht, spielte keine Rolle. Dieser Delphin besaß keinen freien Willen mehr. Er funktionierte wie ein ferngesteuertes Auto, wie ein Kinderspielzeug. — Nun, sie waren begeistert. Es sah alles danach aus, als ob die Sache ein großer Erfolg würde. 1991 waren wir zum Golf unterwegs, und wir nahmen rund zwei Dutzend solcher ferngesteuerter Delphine mit, während sie in San Diego parallel an nuklearen Walen arbeiteten. Ich war immer noch dabei, ich hielt immer noch meine sonst so große Klappe und machte mir weis, dass das nicht mein Projekt sei. Meine Delphine suchten Minen, wurden gut gefüttert und gestreichelt. Man drängte mich, aktiv ins MKO einzusteigen, und ich schaffte es irgendwie, mir Bedenkzeit auszubitten — Bedenkzeit ist in der Armee nicht sonderlich beliebt, in dem Wort steckt Denken! —, aber gut, sie gingen darauf ein. Wir passierten die Straße von Gibraltar und führten Testreihen auf hoher See durch. Anfangs lief alles glatt. Dann begannen die ersten Probleme. In den Labors und Aquarien von San Diego hatte die Fernsteuerung reibungslos funktioniert, aber im offenen Meer waren die Tiere anderen Reizen ausgesetzt. Die Ausfälle häuften sich. Es klappte einfach nicht in freier Natur, jedenfalls nicht so, wie sich die Projektleitung die Sache vorgestellt hatte, und die Tiere entwickelten sich zum Sicherheitsrisiko. Zurück nach Amerika konnten wir sie nicht bringen, mitnehmen zum Golf wollte sie keiner. — Wir ankerten vor Frankreich. Es gibt dort ein Partnerinstitut, in dem französische Experten am MKO-Programm mitarbeiten. Die Franzosen sind nicht gerade unsere besten Freunde, aber sie haben eine Menge Ahnung von Meeresforschung, also hatte man Allianzen geknüpft. Hier erhofften wir uns ein paar Antworten. Ein Mann namens René Guy Busnel empfing uns und wurde mir vorgestellt als Leiter des verdienstvollen Laboratoire d’Acoustique Animale. Er versprach, sich unserer Probleme anzunehmen, und lud uns zu einer Führung ein. Gleich im ersten dieser verdienstvollen Labors präsentierte er uns einen Delphin, der in eine Vorrichtung aus Schraubstöcken eingespannt und völlig verstümmelt war. Aus seinem Rücken ragte ein armlanges Messer. Ich habe nie gefragt, wozu sie das getan haben, aber ich war dabei, wie die Laborassistenten uns eine Grußkarte des Instituts überreichten, die sie mit dem Blut des Delphins unterschrieben hatten, und alle lachten.«
Greywolf hielt inne. Aus der Tiefe seines gewaltigen Brustkastens drang ein undefinierbarer Laut, etwas wie ein resigniertes Seufzen.
»Busnel fachsimpelte über Hirnexperimente und gelangte zu dem Schluss, dass es so nicht ginge. Die Leiter des Projekts hatten offenbar das eine oder andere übersehen oder falsch eingeschätzt, was weiß ich. Zurück an Bord wurde Kriegsrat gehalten und beschlossen, die Delphine loszuwerden. Wir ließen sie einfach ins Meer hinausschwimmen, und nachdem sie einige hundert Meter weit vom Schiff waren, drückte jemand auf ein Knöpfchen an einem Gerät. — Sie hatten Zündkapseln in das Elektrodengeschirr eingebaut, um zu verhindern, dass die Technik in feindliche Hände fallen konnte. Nicht viel, nur eben genug, um das Geschirr und die Elektroden abzusprengen. Die Tiere wurden dabei getötet. Danach fuhren wir weiter.«
Greywolf nagte an seiner Unterlippe. Dann sah er Anawak an. »Das sind die Delphine, die an der französischen Küste angeschwemmt wurden. Deine Meldung von Island Earth. Jetzt weißt du’s.«
»Und du hast …«
»Ich sagte ihnen, dass es reicht. Sie versuchten, mich umzustimmen. Zwecklos. Natürlich gefiel es ihnen nicht, in ihren Akten vermerkt zu sehen, dass einer ihrer besten Delphintrainer aus ungenannten Gründen den Abschied einreicht. Auf so was stürzen sich immer gleich Hundertschaften von Schreiberlingen, das Fernsehen ruft an, du weißt schon. Es ging hin und her. Schließlich einigten wir uns darauf, dass sie mir einen Haufen Geld geben und ich mich dafür aus gesundheitlichen Gründen ausmustern lasse. Ich bin eigentlich Kampftaucher. Mit Herzmuskelschwäche kannst du das vergessen. Kein Mensch stellt blöde Fragen, wenn du wegen Herzschwäche ausgemustert wirst. Und ich war draußen.«
Anawak sah hinaus auf die Bucht.
»Ich bin kein Wissenschaftler wie du«, sagte Greywolf leise. »Ich verstehe was von Delphinen und wie man mit ihnen umgeht, aber nichts von Neurologie und diesem ganzen Mist. Ich kann es nicht ertragen, wenn jemand ein allzu offensichtliches Interesse an einem Wal oder einem Delphin entwickelt, das ist alles, und wenn er nur ein Foto machen will. Ich kann es nicht ertragen, und ich kann’s nicht ändern.«
»Shoemaker glaubt heute noch, du willst uns eins auswischen.«
Greywolf schüttelte den Kopf. »Ich war eine Weile der Meinung, Whale Watching wäre in Ordnung, aber du siehst ja, es hat nicht funktioniert. Ich habe mich selber rausgeworfen. Ich habe einfach nur dafür gesorgt, dass ihr es tut.«
Anawak stützte das Kinn in die Hände.
Es war so schön hier. So unglaublich schön war diese Bucht mit den Bergen, war diese ganze Insel, dass es beinahe schmerzte.
»Jack«, sagte er nach einer Weile. »Du wirst umdenken müssen. Es passiert schon wieder. Deine Wale nehmen keine Rache. Sie geben uns nicht die Quittung. Sie werden gesteuert. Irgendjemand fährt sein eigenes MKO-Programm mit ihnen. Es ist noch viel schlimmer als alles, was die Navy mit ihnen gemacht hat.«
Greywolf erwiderte nichts. Schließlich verließen sie den Steg und gingen schweigend den Waldweg zurück nach Tofino. Vor Davies Whaling Station blieb Greywolf stehen.
»Kurz vor meinem Ausstieg hörte ich, dass die Experimente mit den nuklearen Walen einen entscheidenden Sprung nach vorne getan hätten. In dem Zusammenhang fiel ein Name. Es ging um Neurologie und irgendetwas, das sie Neuronencomputer nannten. Sie sagten, um die Tiere vollständig zu beherrschen, müsse man den Gedanken eines gewissen Kurzweil folgen. Professor Dr. Kurzweil. Ich dachte, ich sag’s dir einfach. Keine Ahnung, ob du damit was anfangen kannst.«
Anawak überlegte. »Doch«, sagte er. »Ich glaube schon.«
Chateau Whistler, Kanada
Am frühen Abend klopfte Weaver an Johansons Zimmertüre. Wie es ihre Art war, drückte sie die Klinke hinunter, um einzutreten, aber die Tür war verschlossen.
Sie hatte ihn aus Nanaimo zurückkommen sehen. Johanson hatte sich mit Bohrmann treffen wollen. Weaver fuhr mit dem Fahrstuhl in die Lobby und fand ihn in der Bar, wo er mit dem Deutschen und Stanley Frost zusammensaß. Sie waren über Diagramme gebeugt und in heftige Diskussionen verstrickt.
»Hi.« Weaver trat hinzu. »Kommt ihr weiter?«
»Wir stecken fest«, sagte Bohrmann. »Wir haben immer noch ein paar Unbekannte in der Gleichung.«
»Bah, denen kommen wir auch noch auf die Spur«, knurrte Frost. »Gott würfelt nicht.«
»Das hat Einstein gesagt«, bemerkte Johanson. »Und er hatte Unrecht.«
»Gott würfelt nicht!«
Sie wartete eine Weile. Dann tippte sie Johanson an. »Könnte ich dich — entschuldige die Störung, aber kann ich dich kurz unter vier Augen sprechen?«
Johanson zögerte. »Jetzt sofort? Wir gehen gerade Stans Szenario durch. Treibt einem den Angstschweiß auf die Stirn.«
»Tut mir Leid.«
»Warum leistest du uns nicht Gesellschaft?«
»Kannst du dich nicht wenigstens ein paar Minuten ausklinken? Wir brauchen nicht lange.« Sie lächelte in die Runde. »Danach komme ich hinzu, lasse sämtliche Simulationen über mich ergehen und nerve euch mit neunmalklugen Kommentaren.«
»Mächtig nette Vorstellung«, grinste Frost.
»Und wohin?«, fragte Johanson, als sie den Tisch verließen.
»Egal. In die Halle.«
»Ist es irgendwas von Bedeutung?«
»Bedeutung ist gar kein Ausdruck!«
»Gut.«
Sie gingen nach draußen. Die Sonne stand tief. Im Untergehen überzog sie das Chateau und die verschneiten Gipfel der Rockys mit rötlichem Licht. Die Helikopter vor dem Hotel sahen aus wie Rieseninsekten in Ruhestellung. Sie spazierten ein Stück in Richtung Whistler Village. Plötzlich war Weaver die ganze Sache peinlich. Die anderen mussten glauben, sie und Johanson hätten Geheimnisse miteinander, aber tatsächlich wollte sie einfach nur seine Meinung hören. Sie wollte ihm die Entscheidung überlassen, wann er mit seiner Theorie vor den Stab trat, und dazu gehörte auch, ihn vorab zu informieren.
»Wie war es in Nanaimo?«, fragte sie.
»Zum Gruseln.«
»Es heißt, Long Island sei von Killerkrabben überrannt worden.« »Krabben mit Killeralgen«, sagte Johanson. »Ähnlich wie in Europa, nur viel giftiger.«
»Klingt nach einer neuen Angriffswelle.«
»Ja. Oliviera, Fenwick und Rubin haben sich an die Analysen begeben.« Er räusperte sich. »Dein Interesse in allen Ehren, aber eigentlich wolltest du mir was erzählen.«
»Ich habe den ganzen Tag mit Satellitendaten verbracht. Dann habe ich die Radarauswertungen mit Multispektralaufnahmen verglichen. Ich hätte gerne auch die Daten von Bauers autarken Driftern abgefragt, aber sie liefern keine Daten mehr. Es hat auch so gereicht. Du weißt, dass sich der Meeresspiegel in den Randbereichen großer ozeanischer Wirbel hochwölbt?«
»Hab davon gehört.«
»Ein solcher Bereich ist der Golfstrom. Bauer hat vermutet, dass etwas in dieser Region geschieht. Er fand die nordatlantischen Schlote nicht mehr, in denen das Wasser absinkt, und schloss daraus, dass etwas das Verhalten der großen Strömungen stört, aber er war sich nicht ganz sicher.«
»Und?«
Sie blieb stehen und sah ihn an. »Ich habe es durchgerechnet, verglichen, betrachtet, durchgerechnet, verglichen, angezweifelt, betrachtet, durchgerechnet. Die Golfstromwölbung ist verschwunden.«
Johanson runzelte die Stirn. »Du meinst …«
»Der Wirbel dreht sich nicht mehr wie früher, und wenn du die Spektralaufnahmen daneben betrachtest, stellst du fest, dass im gleichen Maße die Wärme zurückgegangen ist. Es gibt keinen Zweifel, Sigur. Wir sehen einer neuen Eiszeit entgegen. Der Golfstrom hat aufgehört zu fließen. Etwas hat ihn gestoppt.«
Sicherheitsrat
»Das ist eine verdammte Schweinerei! Und irgendjemand wird dafür bezahlen.«
Der Präsident wollte Blut sehen.
Er war in der Offutt Air Force Base eingetroffen und hatte als Erstes eine abhörsichere Videokonferenz mit dem Nationalen Sicherheitsrat einberufen. Washington, Offutt und das Chateau waren zusammengeschaltet. Im Lageraum des Weißen Hauses saßen der Vizepräsident, der Verteidigungsminister und sein Stellvertreter, die Außenministerin, der Sicherheitsberater des Präsidenten, der Direktor des FBI und der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs beisammen. Aus der Zentrale für Terrorismusbekämpfung tief im fensterlosen Inneren des CIA-Hauptquartiers am Potomac waren der Direktor der Behörde, der Deputy Director for Operations und der Direktor des Counterterrorism Center und Leiter der Sondereinsätze zugeschaltet. Die Oberbefehlshabende des Central Command, General Judith Li, und der Stellvertretende CIA-Director Jack Vanderbilt komplettierten den Kreis. Sie saßen im provisorischen War Room des Chateaus vor einer Reihe von Bildschirmen, auf denen die übrigen Teilnehmer der Sitzung zu sehen waren. Die meisten trugen einen Ausdruck wilder Entschlossenheit zur Schau, einige wirkten eher ratlos.
Der Präsident gab sich keine Mühe, seine Wut zu verbergen. Am Nachmittag hatte ihm sein Vize den Vorschlag unterbreitet, die Stabschefs mit der Leitung eines Krisenkabinetts zu betrauen, aber er bestand darauf, die Plenarsitzungen des Nationalen Sicherheitsrats selber zu leiten. Auf keinen Fall wollte er sich die Entscheidungsgewalt aus der Hand nehmen lassen.
Damit handelte er ganz im Sinne Lis. In der Hierarchie der Berater war Li nicht die wichtigste Stimme. Den höchsten militärischen Rang bekleidete der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs. Er war militärischer Hauptberater des Präsidenten, und auch er hatte einen Stellvertreter. Jeder Idiot hatte einen Stellvertreter. Li wusste allerdings, dass der Präsident gern auf sie hörte, und es erfüllte sie mit glühendem Stolz. In jeder Sekunde war die Vision ihrer künftigen Laufbahn präsent, selbst jetzt, da sie hochkonzentriert dem Verlauf der Sitzung folgte. Vom General Commander würde sie es zur Vorsitzenden der Vereinigten Stabschefs bringen. Der jetzige Vorsitzende stand kurz davor, aus dem Amt zu scheiden, und sein Stellvertreter war erwiesenermaßen eine Flasche. Danach konnte sie eine politische Runde als Außenministerin oder im Verteidigungsministerium drehen und sich anschließend für die Präsidentschaftswahl aufstellen lassen. Wenn sie ihren Job jetzt gut machte — und das hieß, uneingeschränkt im Interesse der Vereinigten Staaten —, war ihr die Wahl so gut wie sicher. Die Welt stand am Abgrund, Li vor dem Aufstieg. »Wir stehen gegen einen gesichtslosen Feind«, sagte der Präsident. »Einige hier sind der Meinung, wir müssten uns dem Teil der Menschheit zuwenden, von dem die Bedrohung auszugehen scheint. Andere bezweifeln, dass mehr dahinter steckt als eine tragische Häufung natürlicher Prozesse. Was mich betrifft, ich will keine langen Vorträge, sondern einen Konsens, damit wir handlungsfähig werden. Ich will Pläne sehen, will wissen, was es kostet und wie lange es dauert.« Er kniff die Augen zusammen. Den Grad seiner Wut und seiner Entschlossenheit konnte man immer daran ablesen, wie sehr er die Augen zusammenkniff. »Ich persönlich glaube nicht an das Märchen von der ausgeflippten Natur. Wir sind im Krieg. Das ist meine Meinung. Amerika ist im Krieg, also was machen wir?«
Der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs sagte, man müsse aus der Defensive treten und zum Angriff übergehen. Es klang sehr entschlossen. Der Verteidigungsminister sah ihn stirnrunzelnd an.
»Wen wollen Sie angreifen?«
»Da ist jemand, den wir angreifen werden«, sagte der Vorsitzende entschieden. »Darauf kommt’s erst mal an.«
Der Vizepräsident gab zu verstehen, dass er einzelne Gruppierungen derzeit kaum für fähig halte, terroristische Offensiven dieses Kalibers durchzuziehen.
»Wenn, dann steckt ein Land dahinter«, sagte er. »Oder eine politische Region. Vielleicht mehrere Staaten, wer weiß. Jack Vanderbilt hat den Gedanken als Erster formuliert, und ich halte so was durchaus für möglich. Ich meine, wir sollten unser Augenmerk darauf lenken, wer zu solchen Dingen fähig ist.«
»Fähig wären einige«, sagte der Direktor der CIA.
Der Präsident nickte. Seit ihm der Direktor unmittelbar vor seinem Amtsantritt einen langen Vortrag über the good, the bad and the ugly der CIA gehalten hatte, sah er die Welt bevölkert von gottlosen Verbrechern, die den Untergang der Vereinigten Staaten von Amerika planten. Ganz Unrecht hatte er mit dieser Einschätzung nicht.
»Es fragt sich, ob wir in den Reihen unserer klassischen Feinde suchen müssen«, bemerkte er trotzdem.
»Angegriffen wird die freie Welt, nicht nur Amerika.«
»Die freie Welt?« Der Verteidigungsminister schnaubte. »Mann, das sind wir! Europa ist Teil des freien Amerika. Japans Freiheit ist Amerikas Freiheit. Kanada, Australien … Wenn Amerika nicht frei ist, sind die es auch nicht.« Er hatte ein Blatt vor sich liegen und schlug mit der flachen Hand darauf. Es vereinte seine Notizen vom Tage. Er war der Meinung, dass kein Sachverhalt so kompliziert war, dass man ihn nicht auf ein einzelnes Blatt Papier herunterbrechen konnte. »Nur zur Erinnerung«, sagte er. »Über biologische Waffen verfügen Israel und wir, das sind die Guten. Dann Südafrika, China, Russland, Indien, die sind hässlich. Außerdem Nordkorea, der Iran, der Irak, Syrien, Libyen, Ägypten, Pakistan, Kasachstan und der Sudan. Die Bösen. Und das hier ist eine biologische Attacke. Das ist böse.«
»Es könnten auch chemische Komponenten eine Rolle spielen«, sagte der Stellvertretende Verteidigungsminister. »Oder?«
»Langsam.« Der CIA-Direktor hob die Hand. »Gehen wir mal davon aus, dass derartige Aktionen, wie wir sie erleben, mit einer Menge Geld verbunden sind und einem Heidenaufwand. Chemische Waffen sind einfach und billig herzustellen, aber der Biokram bündelt enorme Ressourcen. Und wir sind ja nicht blind. Pakistan und Indien arbeiten mit uns zusammen. Wir haben über hundert pakistanische Geheimdienstler für verdeckte Operationen ausgebildet. In Afghanistan und Indien arbeiten einige Dutzend Agenten für die CIA mit zum Teil exzellenten Kontakten. Den ganzen Raum da unten können Sie vergessen. Wir haben paramilitärische Trupps im Sudan, die mit dortigen Oppositionellen zusammenarbeiten, und in Südafrika sitzen Leute von uns mit in der Regierung. Nirgendwo dort ist offenkundig geworden, dass was Größeres im Gange ist. Wir müssen also zusehen, wo in letzter Zeit Summen geflossen sind und Aktivitäten zu beobachten waren. Unsere Aufgabe ist, das Feld einzugrenzen, nicht alle Schurken dieser Welt aufzuzählen.«
»Ich kann dazu anmerken«, sagte der Direktor des FBI, »dass kein Geld fließt.«
»Wie meinen Sie das?«
»Sie wissen, dass uns die Durchführungsverordnungen für die Überwachung terroristischer Finanzquellen weit reichende Einblicke ermöglichen. Das Finanzministerium ist ziemlich genau im Bilde, wo größere Summen transferiert wurden. Wir sollten was mitbekommen haben.«
»Und?«, fragte Vanderbilt.
»Keine Hinweise. Weder in Afrika, Fernasien oder im Nahen Osten. Nichts deutet darauf hin, dass überhaupt ein Land involviert ist.«
Vanderbilt räusperte sich. »Das binden die uns doch nicht auf die Nase«, sagte er. »Es steht auch nicht in der Washington Post.«
»Nochmals, wir haben keine …«
»Tut mir Leid, wenn ich jemanden desillusionieren muss«, fuhr ihm Vanderbilt dazwischen. »Aber glaubt einer im Ernst, wer fähig ist, die Nordsee zu zerdeppern und New York zu vergiften, präsentiert unseren Leuten sein Geldköfferchen?«
Die Augen des Präsidenten verengten sich zu Schlitzen.
»Die Welt verändert sich«, sagte er. »In so einer Welt erwarte ich, dass wir in jedes Köfferchen gucken können. Wir können uns aussuchen, ob die Schweinehunde so schlau oder wir so blöde sind. Ich weiß, dass einige von ihnen verdammt schlau sind, aber unser Job ist es dann eben, schlauer zu sein. Und zwar ab heute.« Er sah den Direktor der Terrorismusbekämpfung an. »Also, wie schlau sind wir?«
Der Direktor zuckte die Achseln. »Das Letzte, was wir reinbekommen haben, ist eine Warnung der Inder vor pakistanischen Dschihadisten, die das Weiße Haus in die Luft sprengen wollen. Wir kennen die Leute bereits. Es besteht keine Gefahr. Wir wussten es übrigens vorher, und wir hatten verschiedene finanzielle Transaktionen verfolgt. Das Global Response Center trägt jeden Tag bergeweise Informationen zusammen über den internationalen Terrorismus. Es stimmt, Mister President. Da passiert nichts, was wir nicht mitkriegen.«
»Und im Moment ist Ruhe?« »Ruhe ist nie. Aber das, was geschieht, wurde offenkundig nicht vorbereitet oder finanziert. — Was nichts heißen muss, zugegeben.« Der Blick des Präsidenten ruhte einige Sekunden auf dem Sprecher und wanderte weiter zum Direktor für verdeckte Operationen. »Ich erwarte verdoppelte Anstrengungen Ihrer Leute«, sagte er scharf. »Egal, auf welchen Außenposten und Stützpunkten sie sich rumtreiben. Amerikanische Bürger werden nicht zu Schaden kommen, weil jemand hier seine Hausaufgaben nicht gemacht hat.« »Natürlich, Sir.« »Ich darf nochmals daran erinnern, dass wir angegriffen werden. Wir sind im Krieg! Ich will wissen, mit wem.« »Schauen Sie in den Nahen Osten«, rief Vanderbilt ungeduldig. »Das tun wir«, sagte Li neben ihm. Der dicke Mann seufzte, ohne sie anzusehen. Er wusste, dass Li anderer Meinung war.
»Man kann sich natürlich selber ins Gesicht schlagen, um den Eindruck zu erwecken, verprügelt worden zu sein«, sagte Li. »Aber ist das glaubhaft? Wenn wir irgendwelche vitalen Interessen von Ländern zugrunde legen, die uns nicht wohl gesinnt sind, wäre es idiotisch anzunehmen, sie würden sich selber schaden. Wenn sie es auf uns abgesehen haben, macht ein bisschen Terror anderswo in der Welt sicherlich Sinn, um davon abzulenken, dass es gegen die Vereinigten Staaten geht.
Aber doch nicht so.«
»Da sind wir anderer Meinung«, sagte der CIA-Direktor.
»Ich weiß. Diese ist meine: Wir sind nicht das Hauptziel. Zu viel ist passiert, zu ominös ist, was abläuft. Was soll das für ein Irrsinnsaufwand sein, Tausende von Tieren unter Kontrolle zu bringen und Millionen neuer Organismen zu züchten, einen Tsunami in der Nordsee auszulösen, den Fischfang zu sabotieren, Australien und Südamerika mit Quallen zu verseuchen, Schiffe zu zerstören? Niemand würde einen ökonomischen oder politischen Nutzen daraus ziehen. Aber es geschieht, und ob es Jack passt oder nicht, es geschieht auch im Nahen Osten. Damit müssen wir leben, aber ich weigere mich, es den Arabern in die Schuhe zu schieben.«
»Ein paar Frachter sind versenkt worden«, knurrte Vanderbilt. »Im Nahen Osten.«
»Mehr als ein paar.«
»Vielleicht haben wir es mit einem Größenwahnsinnigen zu tun?«, schlug die Außenministerin vor. »Einem Verbrecher.«
»Schon eher«, sagte Li. »So jemand könnte unter dem Deckmantel der Wohlanständigkeit unbemerkt gewaltige Summen bewegen und sämtliche technologischen Mittel nutzen. Ich schätze, wir müssen mehr in dieser Kategorie denken. Jemand erfindet was. Also erfinden wir was dagegen. Jemand schickt uns Würmer auf den Hals. Wir erfinden was gegen diese Würmer. Jemand züchtet Killerkrabben, giftige Algen und Substanzen. Wir ergreifen Gegenmaßnahmen.«
»Was für Gegenmaßnahmen haben Sie ergriffen?«, fragte die Außenministerin.
»Wir haben …«, begann der Verteidigungsminister.
»Wir haben den Großraum New York gesperrt«, fuhr ihm Li dazwischen, die es nicht mochte, wenn jemand ihre Hausaufgaben hoch hielt. »Und eben hörte ich, dass die Krabbenwarnungen vor Washington ernst zu nehmen sind. Das verdanken wir der Drohnenaufklärung. Wir werden auch Washington unter Quarantäne stellen. Die Belegschaft des Weißen Hauses sollte also dem Beispiel ihres Präsidenten folgen und einen anderen Ort aufsuchen für die Dauer der Krise. Ich habe im Umkreis sämtlicher Küstenstädte Einheiten mit Flammenwerfern postieren lassen. Wir denken außerdem über chemische Gegenmittel nach.«