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Er fragte sich, was hier geschehen war. Das war nicht das depressive Iqaluit aus den Siebzigern. Menschen grüßten ihn auffallend freundlich auf Inuktitut. Er grüßte zurück, knapp und verschlossen. Ohne stehen zu bleiben, lief er eine Stunde durch die Stadt und ging nur einmal ins Besucherzentrum Unikkaarvik, wo er eine noch gewaltigere Kopie des Trommeltänzers vorfand.
Der Trommeltänzer. Als er klein gewesen war, hatte es oft Trommeltanz gegeben. Vor langer Zeit, als die Dinge noch in Ordnung waren.
Unsinn! Wann wäre hier jemals etwas in Ordnung gewesen!
Er ging zurück auf die Straße und lief weiter, während ihm heiß wurde im kristallenen Sonnenlicht. Die anglikanische Kirche sah tatsächlich aus wie ein Iglu, mit hochgezogener Spitze. Er ließ sie links liegen. Nach einer guten Stunde war er wieder in der Abfertigungshalle des Flughafens und verzog sich mit einer Zeitung auf eine Bank. Außer ihm wartete nur das Ehepaar auf den Weiterflug. Er klappte die Zeitung so auf, dass sie ihn von allen äußeren Einflüssen abschirmte, las die Artikel, ohne ihre Inhalte aufzunehmen, und warf sie schließlich weg.
Die junge Frau vom Schalter bat sie, ihr zu folgen. Sie traten durch einen Nebenausgang des Flughafens aufs Rollfeld, wo eine kleine zweimotorige Propellermaschine vom Typ Piper wartete. Anawak stieg zusammen mit dem Ehepaar über zwei Stufen ins enge Kabineninnere. Die Maschine hatte nur sechs Plätze. Im hinteren Teil war hinter Netzen das Gepäck verstaut. Eine Abtrennung der Kanzel zum Passagierraum gab es nicht. Sie rollten zur Startbahn und mussten einen Moment warten, bis eine andere Maschine gleicher Bauart gelandet war, dann nahmen sie einen kurzen, schnellen Anlauf und hoben etwas wackelig ab. Der Flughafen wurde kleiner und verschwand. Unter ihnen glitzerte die Frobisher Bay. Über teils noch schnee— und eisbedeckte, von Gletschern geschliffene Berge flogen sie nach Westen. Zur Linken gleißte das Sonnenlicht auf der Hudson Strait, rechts funkelte es auf der Oberfläche eines Sees, dessen Name Anawak spontan wieder einfiel: Amadjuak Lake.
Dort waren sie manchmal gewesen.
So vieles kam zurück, in rasender Geschwindigkeit. Erinnerungen manifestierten sich wie Schemen in einem Schneesturm und zogen ihn in die Vergangenheit.
Er wollte nicht dorthin zurück.
Das Land wurde flacher, endete. Zwanzig Minuten lang führte sie ihre Route übers Meer, dann war durch die Cockpitfenster wieder gebirgiges Land zu erkennen. Die Bucht von Tellik Inlet mit ihren sieben Inseln schob sich ins Blickfeld. Über eine davon zog sich die dünne Linie der Landebahn von Cape Dorset.
Sie setzten auf.
Anawak fühlte sein Herz nach draußen drängen. Er war zu Hause. Er war dort, wohin er niemals hatte zurückkommen wollen. Widerwille und Neugier mischten sich mit Angst, während die Piper dem Empfangsgebäude entgegenrollte.
Cape Dorset: das New York des Nordens, wie es mit seinen knapp 1200 Einwohnern halb bewundernd, halb scherzhaft genannt wurde, eines der ausgewiesenen Zentren für Inuit-Kunst.
Jetzt war es so.
Damals war alles anders gewesen.
Cape Dorset: Kinngait in der Sprache der Inuit, Hohe Berge, gelegen in der weiteren Umgebung von Sikusülaq, wo kein Eis auf dem Meer entsteht, weil selbst in den strengsten Wintern milde Strömungen verhinderten, dass die Meeresoberfläche rund um die Foxe Peninsula, Baffin Islands südwestlichen Ausleger, gänzlich zufror. Namen fluteten Anawaks Hirn. Da war diese winzige Insel nahe Cape Dorset, Mallikjuaq, ein Naturschutzgebiet voller kleiner Wunder, mit Fuchsfallen aus dem 19. Jahrhundert, Resten der uralten Thule-Kultur, legendenumwobenen Gräbern und einem romantischen See, an dem sie oft gecampt hatten. Anawak erinnerte sich an den kleinen Kajakstand. Dort war er gerne gewesen, auf Mallikjuaq. Dann sah er in seiner Erinnerung seinen Vater und seine Mutter, und er wusste wieder, was ihn fortgetrieben hatte aus dem Land, das damals noch nicht Nunavut geheißen hatte, sondern Northwest Territories.
Er nahm seinen Rucksack in Empfang und kletterte aus der Piper.
Sofort stürmte ein Mann auf das Ehepaar zu. Offenbar kannte man sich. Die Begrüßung war überschwänglich, aber das war sie bei den Inuit fast immer. Man kannte jede Menge Wörter zu Begrüßung und kein einziges für good bye. Auch zu Anawak hatte niemand ein Wort des Abschieds gesagt vor 19 Jahren, nicht einmal der Mann, der plötzlich klein und verwittert auf dem Rollfeld stand, als das Ehepaar und ihr einheimischer Freund schwatzend abzogen. Einen Moment lang hatte Anawak Mühe, ihn wieder zu erkennen — Ijitsiaq Akesuk war sichtlich gealtert, und er trug einen dünnen grauen Schnurrbart, den er früher nicht gehabt hatte. Aber er war es. Das zerknautschte Gesicht verbreitete sich zu einem Lächeln. Er eilte Anawak entgegen und umarmte ihn mitsamt seinem Rucksack. Dabei entsprudelte seinen Lippen ein Wortschwall auf Inuktitut. Dann besann er sich und sagte auf Englisch: »Leon. Mein Junge. Was für ein gut aussehender junger Doktor.«
Anawak ließ die Umarmung geschehen und klopfte Akesuk halbherzig auf den Rücken. »Onkel Iji. Wie geht’s dir?«
»Wie soll es gehen bei allem, was passiert? Hattest du einen angenehmen Flug? Du musst ja eine Ewigkeit unterwegs gewesen sein, ich weiß gar nicht, wo du überall hinfliegen musstest, um herzukommen …«
»Ich musste ein paar Mal umsteigen.«
»Toronto? Montreal?« Akesuk ließ ihn los und strahlte ihn an. Anawak sah die für Inuit typische Zahnlücke in seinem Oberkiefer. »Natürlich Montreal. Du kommst viel herum, nicht wahr? Ich freue mich. Du musst mir vieles erzählen. Natürlich wohnst du bei mir, Junge, es ist alles hergerichtet. Hast du noch weiteres Gepäck?«
»Nein. Ahm, Onkel Iji …«
»Iji, nur Iji, lass den blöden Onkel. Du bist zu alt, um Onkel zu sagen.«
»Ich habe mich im Hotel eingebucht.«
Akesuk wich ein Stück zurück. »Wo denn?«
»In der Polar Lodge.«
Der alte Mann wirkte eine Sekunde lang enttäuscht. Dann strahlte er wieder. »Das bestellen wir ab. Ich kenne den Manager. Du weißt doch, hier kennt jeder jeden. Kein Problem.«
»Ich will dir keine Umstände machen«, sagte Leon. Ich bin hier, um meinen Vater unters Eis zu bringen, dachte er. Und um dann schleunigst wieder zu verschwinden.
»Du machst keine Umstände«, sagte Akesuk. »Du bist mein Neffe. Wie lange hast du dich eingebucht?«
»Zwei Nächte. Ich denke, das reicht, oder?«
Akesuk legte die Stirn in Falten und musterte ihn von oben bis unten. Dann nahm er Anawak beim Arm und zog ihn in die Halle.
»Da reden wir nochmal drüber. Hast du keinen Hunger?«
»Doch.«
»Wunderbar. Mary-Ann hat ein Karibu-Stew gemacht, und es gibt Robbensuppe mit Reis. Ganz was Feines. Wann hast du so was das letzte Mal gegessen, Robbensuppe, hm?«
Anawak ließ sich mitschleppen. Vor dem Flughafengebäude parkten mehrere Fahrzeuge. Akesuk steuerte zielstrebig auf einen Pick-up zu.
»Leg deinen Rucksack hinten drauf. Kennst du Mary-Ann? Natürlich nicht. Du warst schon weg, als sie von Salluit rüberzog und wir geheiratet haben. Es war ja nicht zum Aushalten mit dem Alleinsein. Sie ist jünger als ich. Das finde ich ganz in Ordnung, muss ich dir sagen. Hast du eine Frau? Du lieber Himmel, was werden wir uns alles zu erzählen haben nach der Ewigkeit, die du nicht mehr hier warst.«
Anawak rutschte auf den Beifahrersitz und schwieg. Akesuk schien beschlossen zu haben, ihn in Grund und Boden zu reden. Er versuchte sich zu erinnern, ob der Alte früher auch so gesprächig gewesen war.
Dann kam ihm der Gedanke, dass sein Onkel möglicherweise ebenso nervös war wie er.
Der eine schwieg. Der andere redete. Jeder hatte seinen Weg.
Sie rumpelten die Hauptstraße entlang. Cape Dorset war durch diverse Höhenzüge in Ortschaften gegliedert. Dem eigentlichen Kinngait schlossen sich Itjurittuq im Nordosten, Kuugalaaq im Westen und Muliujaq im Süden an. Gewohnt hatten sie damals in Kuugalaaq. Seine, Anawaks Familie, hatte dort gelebt. Akesuk, der Bruder seiner Mutter, war in Kinngait zu Hause gewesen.
Anawak fragte ihn nicht, ob er immer noch dort wohnte. Er würde es ohnehin herausfinden.
Sie kurvten durch den ganzen Ort. Sein Onkel erläuterte nahezu jedes Gebäude, an dem sie vorbeifuhren, bis Anawak schlagartig klar wurde, dass Akesuk eine Ortsbesichtigung mit ihm vornahm.
»Onkel Iji, ich kenne das alles«, sagte er.
»Nichts kennst du. Du warst 19 Jahre nicht mehr hier. Alles Mögliche ist neu. Da drüben, erinnerst du dich an den Supermarkt?«
»Nein.«
»Siehst du. Wie auch? Alles neu! Und wir haben noch einen größeren dazubekommen. Früher sind wir immer zum Polar Supply Store gegangen, das hast du doch nicht vergessen, oder? — Da hinten ist unser neues Schulgebäude, na, so neu ist es auch wieder nicht, aber für dich ja schon. — Guck mal rechts! Das kannst du gar nicht kennen, die Tiktaliktaq-Festhalle. Weißt du, wer da schon alles zum Throat Singing war und zum Trommeltanz? Bill Clinton und Jaques Chirac und Helmut Kohl, das war übrigens ein Riese, dieser Kohl, wir sahen daneben aus wie Zwerge, wann war der noch hier, warte mal …?«
Und so weiter und so fort. Sie besichtigten die anglikanische Kirche mit dem Friedhof, auf dem sein Vater beerdigt werden sollte. Anawak sah eine Inuit-Frau vor ihrem Haus an einer Skulptur arbeiten, die einen riesigen Vogel zeigte. Das Wesen erinnerte ihn an die Kunst der Nootka. Ein zweistöckiges, blaugraues Gebäude mit futuristischem Eingangsbereich erwies sich als Regierungssitz. Die dezentralisierte Verwaltung Nunavuts führte dazu, dass in jeder größeren Gemeinde ein solches Gebäude zu stehen hatte. Anawak ergab sich in sein Schicksal, zumal er feststellte, dass das Cape Dorset seiner Kindheit tatsächlich ein anderes gewesen war als dieses.
Und plötzlich hörte er sich sagen: »Fahr zum Hafen, Iji.«
Akesuk riss das Steuer herum. Sie bretterten über eine abschüssige Straße in Richtung Wasser. Holzhäuser aller Größen und Farben verteilten sich scheinbar ungeordnet über die schwarzbraune Landschaft. Vereinzelt waren ein paar Flecken robusten Tundragrases zu sehen, hier und da eine Schneefläche. Cape Dorsets Hafen war wenig mehr als ein Pier mit Verladekränen, wo ein— bis zweimal im Jahr das Versorgungsschiff mit überlebenswichtigen Gütern vor Anker ging. Unweit davon konnte man bei Ebbe das Tellik Inlet durchqueren, um auf die Nachbarinsel zu gelangen — nach Mallikjuaq, zu jenem kleinen Nationalpark mit seinen Gräbern und dem Kajakstand und dem See, an dem sie so oft ihr Camp aufgeschlagen hatten.
Sie hielten an. Anawak stieg aus, ging den Pier entlang und schaute hinaus auf das polarblaue Wasser. Akesuk folgte ihm ein Stück, ohne zu ihm aufzuschließen.
Der Pier war das Letzte, was Anawak gesehen hatte, als er Cape Dorset verlassen hatte. Nicht per Flugzeug, sondern mit dem Versorgungsschiff. Zwölf Jahre war er alt gewesen. Das Schiff hatte ihn und seine neue Familie mitgenommen, die voller Hoffnung und Vorfreude auf die neue Welt das Land verließ, und zugleich voller Heimweh nach dem Paradies im Eis, das schon so lange verloren war.
Nach fünf Minuten ging er mit langsamen Schritten zurück zum Pick-up und stieg wortlos ein.
»Ja, unser alter Hafen«, sagte Akesuk leise. »Der alte Hafen. Werd ich nie vergessen. Du bist damals auf und davon, Leon. Es hat allen das Herz gebrochen …«
Anawak sah ihn scharf an. »Wem hat es das Herz gebrochen?«, fragte er.
»Nun ja, deinem …«
»Meinem Vater? Euch? Irgendwelchen Nachbarn?«
Akesuk startete den Wagen.
»Komm«, sagte er. »Wir fahren nach Hause.«
Akesuk wohnte immer noch in dem kleinen Siedlungshaus. Es sah hübsch aus und gepflegt, hellblau mit dunkelblauem Dach. Dahinter stiegen die Hügel sanft an und gipfelten in einigen Kilometern Entfernung im Kinngait, dem hohen Berg, dessen Oberfläche von Schneeadern durchzogen war. Wie ein Gebirge aus Marmor lag er da, mehr ein gedrungener Höhenzug als ein hoher Berg. In Anawaks Erinnerung reichte der Kinngait in den Himmel. Dieser Gebirgskamm lud ein, ihn zu Fuß zu erkunden, versehen mit einer guten Ausrüstung.
Akesuk schaffte es, vor Anawak an der Ladefläche zu sein und den Rucksack herunterzuwuchten. So klein und schmächtig er war, schien es ihm nicht das Geringste auszumachen. Er hielt den Sack mit einer Hand und öffnete mit der anderen die Tür zu seinem Haus, ohne anzuklopfen.
»Mary-Ann«, rief er ins Innere. »Er ist da! Der Junge ist da!«
Ein Hundebaby kam nach draußen getapst. Akesuk stieg darüber hinweg, verschwand im Haus und kehrte Sekunden später in Begleitung einer fülligen Frau zurück, deren freundliches Gesicht sich auf ein imposantes Doppelkinn stützte. Sie umarmte Anawak und begrüßte ihn auf Inuktitut.
»Mary-Ann spricht kein Englisch«, sagte Akesuk entschuldigend. »Ich hoffe, du verstehst noch ein bisschen von deiner Sprache.«
»Meine Sprache ist Englisch«, sagte Anawak.
»Ja, natürlich … mittlerweile.«
»Aber ich verstehe noch eine ganze Menge. Ich verstehe, was sie sagt.«
Mary-Ann fragte ihn, ob er hungrig sei.
Anawak bejahte auf Inuktitut. Sie entblößte ein lückenhaftes Gebiss, nahm den Hund, der an Anawaks Stiefeln schnupperte, und bedeutete ihm, ihr zu folgen. Im Vorraum standen mehrere Paar Schuhe. Anawak streifte mechanisch seine Trekkingstiefel ab und stellte sie dazu.
»Deine gute Erziehung hast du jedenfalls nicht verlernt«, lachte sein Onkel. »Ein Quallunaaq bist du nicht geworden.«
Quallunaaq, Mehrzahl Quallunaat, war die Sammelbezeichnung für alle Nicht-Inuit. Anawak schaute an sich herab, zuckte die Achseln und folgte Mary-Ann in die Küche. Er sah einen modernen Elektroherd, elektrische Geräte, die es in jeder ordentlichen Küche in Vancouver auch gab, nichts, was ihn an den desolaten Zustand seines damaligen Zuhauses erinnert hätte. Unter dem Fenster stand ein runder Esstisch, daneben führte eine Tür auf den Balkon. Akesuk wechselte ein paar Worte mit seiner Frau und schob Anawak aus der Küche in einen behaglich eingerichteten Wohnraum. Schwere Polstermöbel gruppierten sich um einen Turm mit Fernseher, Videorecorder, Radio— und CB-Funkgerät. Eine offene Durchreiche wies zur Küche. Akesuk zeigte ihm das Badezimmer mit der Toilette, den angrenzenden Waschmaschinenraum, den dahinter liegenden Vorratsraum, das Schlafzimmer und ein kleines Zimmer mit einem einzelnen Bett. Auf dem Nachttisch standen frische Blumen, Arktischer Mohn, Purpursteinbrech und Glockenheide.
»Mary-Ann hat sie gepflückt«, sagte Akesuk. Es klang wie eine Einladung, es sich bequem zu machen.
»Danke, ich …« Anawak schüttelte den Kopf. »Ich denke, es ist besser, wenn ich im Hotel übernachte.«
Er hatte erwartet, dass sein Onkel verletzt reagieren würde, aber Akesuk sah ihn nur einige Sekunden sinnierend an.
»Ein Drink?«, fragte er.
»Ich trinke nicht.«
»Ich auch nicht. Wir trinken Fruchtsaft zum Essen.
Willst du?«
»Ja. Gerne.«
Akesuk mischte in zwei Gläsern Saftkonzentrat mit Wasser, und sie gingen mit ihren Drinks auf den Balkon, wo sich der Onkel eine Zigarette ansteckte. Mary-Ann war noch nicht restlos zufrieden mit dem Zustand ihres Stews und hatte angekündigt, vor Ablauf einer Viertelstunde gäbe es nichts zu essen.
»Ich soll im Haus nicht rauchen«, sagte Akesuk. »Dafür heiratet man nun. Ein Leben lang habe ich im Haus geraucht. — Aber es ist besser so. Gesund ist es ja nicht. Wenn man nur davon lassen könnte.« Er lachte und sog mit sichtlicher Befriedigung den Rauch in seine Lungen. »Lass mich raten, mein Junge — du rauchst nicht.«
»Nein.«
»Und du trinkst nicht. Gut, gut.«
Sie blickten eine Weile schweigend auf das Panorama der Bergrücken mit ihren Schneeadern. Hoch am Himmel schimmerten streifige Wolken. Strahlend weiße Elfenbeinmöwen segelten darunter hinweg und stießen von Zeit zu Zeit steil nach unten.
»Wie ist er gestorben?«, fragte Anawak.
»Er ist einfach umgefallen«, sagte Akesuk. »Wir waren auf dem Land. Er sah einen Hasen, wollte ihm hinterher und fiel um.«
»Du hast ihn zurückgebracht?«
»Seinen Körper, ja.«
»Hat er sich totgesoffen?«
Die Bitterkeit, mit der er die Frage stellte, jagte Anawak einen Schrecken vor sich selbst ein. Akesuk sah an ihm vorbei auf die Berge und hüllte sich in Rauch.
»Er hatte einen Herzinfarkt, sagt der Arzt aus Iqaluit. Er hat sich zu wenig bewegt und zu viel geraucht. — Getrunken hat er seit zehn Jahren keinen einzigen Schluck mehr.«
Der Karibu-Eintopf war köstlich. Er schmeckte nach Kindheit. Robbensuppe war hingegen nie nach Anawaks Geschmack gewesen, aber er langte kräftig zu. Mary-Ann saß mit zufriedenem Gesicht dabei. Anawak versuchte, sein Inuktitut wiederzubeleben, aber das Resultat war eher jämmerlich. Er verstand fast alles, dafür haperte es mit dem Sprechen. Also unterhielten sie sich vorwiegend auf Englisch über die Geschehnisse der letzten Wochen, über Walangriffe und die Katastrophe in Europa und was sonst noch bis nach Nunavut drang. Akesuk übersetzte. Mehrfach hatte er das Gespräch auf den toten Vater bringen wollen, aber Anawak ging nicht darauf ein. Die Beisetzung sollte am späten Nachmittag auf dem kleinen Friedhof der anglikanischen Kirche erfolgen. Um diese Jahreszeit brachte man seine Toten schnell unter die Erde, während sie im Winter oft in einer Hütte nahe der Begräbnisstätte verwahrt wurden, wenn der Boden zu hart war, um ein Grab zu schaufeln. In der natürlichen Kälte der Arktis hielten sich die Toten erstaunlich lange, aber die Lagerschuppen mussten mit der Waffe in der Hand bewacht werden. Nunavut war wild. Wölfe und Polarbären, zumal von Hunger getrieben, machten vor den Lebenden ebenso wenig Halt wie vor den Toten.
Nach dem Essen zog Anawak rüber in die Polar Lodge. Akesuk bestand nicht länger darauf, dass er unter ihrem Dach campierte. Er holte die Blumen aus dem kleinen Zimmer nach vorn und stellte sie auf den Esstisch.
»Du kannst es dir ja noch überlegen«, sagte er nur.
Anawak blieben zwei Stunden Zeit bis zur Bestattung, in denen er das Hotelzimmer nicht verließ, sondern auf dem Bett lag und versuchte, etwas Schlaf zu finden. Er wusste nicht, was er tun sollte. Genau genommen hätte er es schon gewusst. Er hätte nach Mallikjuaq fahren können, vielleicht sogar hinüberlaufen — das Tellik Inlet war noch vereist und würde ihn tragen. Oder Akesuk fragen. Der wäre sicherlich mit Begeisterung darangegangen, ihn durch halb Cape Dorset zu schleifen und jedem einzeln vorzustellen. In einer Inuit-Siedlung waren alle irgendwie untereinander versippt und verschwägert. Speziell in Cape Dorset, der Welthauptstadt der Inuit-Kunst, wäre ein solcher Rundgang einer einzigen Vernissage gleichgekommen. Jeder zweite Einwohner der Siedlung galt als Künstler, viele stellten ihre Arbeiten in Galerien rund um den Globus aus. Aber Anawak wusste, dass es etwas vom verlorenen Sohn gehabt hätte, dieses Herumzeigen seiner Person, und niemand hier sollte glauben, er kehre heim. Er war entschlossen, die schützende Distanz zu wahren. Etwas von dieser Welt an sich herankommen zu lassen, hätte nur Wunden aufgerissen, also lag er reglos auf dem Bett und starrte Löcher in die Decke, bis er schließlich wegdämmerte.
Sein Reisewecker riss ihn aus dem Schlaf.
Als er vor die Polar Lodge trat, stand die Sonne deutlich tiefer, aber sie schien immer noch hell und freundlich. Über die Eisflächen des Inlet sah er Mallikjuaq zum Greifen nahe. Die Lodge lag im äußersten Nordosten von Cape Dorset, der Friedhof auf der entgegengesetzten Seite des Orts. Anawak sah auf die Uhr. Reichlich Zeit. Er hatte mit Akesuk vereinbart, dass ihn der Onkel in seinem Pickup mitnahm. Gleich neben der Lodge an der Straße, die zum Strand führte, lag der Polar Supply Store. Bei näherem Hinsehen fiel Anawak auf, dass der Laden zugleich örtliche Paketauslieferung, Fahrzeugverleih und Autoreparaturwerkstatt war. Das Gebäude war ihm von früher in Erinnerung, aber das Schild war neu, und als Anawak eintrat, kamen ihm die zwei Männer hinter der Theke fremd vor. Sie waren beide keine Inuit. Er stöberte ein bisschen herum. Es war gemütlich und ramschig im Innern, und es gab fast alles, von getrockneten Karibu-Würsten bis zu warmen Stiefeln. Im hinteren Teil stapelten sich Lithographien und Skulpturen.
Nicht seine Welt.
Er ging und schlenderte die Straße entlang in Richtung Zentrum. Vor einem Haus saß ein alter Mann an einem fußhohen Lattengestell und bearbeitete die Statuette eines Seetauchers, ein Stück weiter war eine Frau damit befasst, einen Falken aus weißem Marmor zu schleifen. Beide grüßten ihn, und Anawak grüßte im Weitergehen zurück. Er spürte, wie ihre Blicke ihm folgten. Seine Ankunft musste wie ein Lauffeuer durch den Ort gegangen sein. Ihn vorzustellen wäre gar nicht nötig gewesen. Jeder wusste, dass der Sohn des verstorbenen Manumee Anawak in Cape Dorset eingetroffen war, und vermutlich zerfetzten sie sich bereits die Mäuler darüber, warum er im Hotel wohnte und nicht unter dem Dach seines Onkels.
Akesuk wartete vor dem Haus auf ihn. Sie fuhren die paar hundert Meter zur anglikanischen Kirche, vor der sich bereits eine ziemliche Menschenmenge versammelt hatte.
Anawak fragte, ob sie alle seines Vaters wegen da wären.
Akesuk sah ihn verwundert an. »Natürlich. Was dachtest du denn?«
»Ich wusste nicht, dass er so viele … Freunde hat.«
»Es sind die Menschen, mit denen er lebte. Ob Freunde oder nicht, was spielt das für eine Rolle? Wenn jemand stirbt, geht er von allen, und alle gehen das letzte Stück mit ihm.«
Die Beisetzung war kurz und unsentimental. Anawak hatte im Vorfeld viele Hände zu schütteln. Leute, die er nie zuvor gesehen hatte, kamen auf ihn zu und umarmten ihn. Ein Reverend las aus der Bibel und sprach ein Gebet, dann wurde der Sarg in eine flache Grube gelassen, eben tief genug, um ihn aufzunehmen, und mit blauer Kunststofffolie abgedeckt. Männer begannen Steine darauf zu schichten. Das Kreuz am Ende der Grube saß windschief im harten Boden wie alle Kreuze auf dem Friedhof. Akesuk drückte Anawak eine kleine Holzkiste mit verglastem Deckel in die Hand, in der ein paar verschossene Kunstblumen nebst einem Päckchen Zigaretten und dem in Metall gefassten Zahn eines Bären lagen. Er stupste ihn an, und gehorsam trottete Anawak zum Grab und legte die Kiste unter das Kreuz.
Akesuk hatte wissen wollen, ob er seinen Vater noch einmal zu sehen wünsche, aber Anawak hatte abgelehnt. Während der Reverend sprach, versuchte er sich vorzustellen, wer der Mann war, der in dem Sarg lag, und dass überhaupt jemand darin lag. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass der Tote keinen weiteren Fehler mehr begehen konnte. Sein Vater hatte sich endgültig in die Nichtexistenz verabschiedet und damit in ein Stadium jenseits aller Schuld und Unschuld. Was immer er zu Lebzeiten getan oder versäumt hatte, verlor jede Bedeutung angesichts des schmucklosen Sarges in der kalten Erde. Schon zuvor hatte es keine Rolle mehr gespielt. Für Anawak war der alte Mann vor so vielen Jahren gestorben, dass ihm die Beisetzung lediglich als überfälliges Zeremoniell erschien.
Er gab sich keine Mühe, etwas zu empfinden. Er wünschte nur, so schnell wie möglich von hier fortzukommen.
Zurück nach Hause.
Wo war das?
Mit einem Mal, während die Gemeinde um ihn herum ein Lied anstimmte, beschlich ihn ein eisiges Gefühl von Verlassenheit und Panik. Es lag nicht an der arktischen Kälte, dass es ihn zu schütteln begann. Er hatte an Vancouver und Tofino gedacht, aber da war kein Zuhause.
Anawak blickte in ein schwarzes Loch.
Sein Gesichtsfeld begann sich einzuengen, Spiralen drehten sich vor seinen Augen. Die Schwärze kam über ihn wie eine Woge, gewaltig und unabwendbar. Wie ein Tier saß er in der Falle, ohne Ausweg, und musste mit ansehen, wie sie sich auf ihn herabsenkte.
»Leon.«
Rasende Angst durchfuhr ihn.
»Leon!«
Akesuk hatte ihn am Arm gepackt. Anawak sah verwirrt in das faltige Gesicht mit dem silberfarbenen Schnurrbart.
»Ist alles in Ordnung, Junge?«
»Ja, sicher«, murmelte er.
»Guter Gott! Kannst dich ja kaum auf den Beinen halten«, sagte Akesuk mitleidig. Viele der Trauergäste schauten herüber.
»Es geht schon. Danke, Iji. Es geht.«
Er sah den Leuten an, was sie dachten, und sie lagen meilenweit daneben. Aus ihren Blicken sprach Trauerroutine. An Gräbern geliebter Menschen bricht man eben zusammen. Auch wenn man ein Inuk ist und stolz darauf, vor nichts und niemandem zu kapitulieren.
Außer vielleicht vor Alkohol und Drogen.
Anawak fühlte, wie ihm übel wurde.
Er wandte sich ab und verließ den Friedhof mit schnellen Schritten. Sein Onkel hielt ihn nicht zurück. Vor der Kirche, als er das fest gestampfte Erdreich der Straße unter seinen Füßen spürte, überkam ihn der Drang wegzulaufen, aber er lief nicht. Er ging ein paar Schritte hierhin, dorthin, mit wild schlagendem Herzen. Er wusste nicht, wohin er hätte laufen sollen. Keine Richtung war für ihn bestimmt.
Er nahm ein frühes Abendessen in der Polar Lodge ein. Mary-Ann hatte etwas vorbereitet, aber Anawak erklärte seinem Onkel, er wolle allein sein. Der Alte nickte nur knapp und fuhr ihn zum Hotel. Er sah traurig aus und nicht so, als kaufe er Anawak den Wunsch nach stiller Einkehr mit sich und seinem Vater ab.
Stundenlang lag Anawak auf einem der beiden Einzelbetten in seinem Zimmer und starrte in den laufenden Fernseher. Er fragte sich, wie er einen weiteren Tag in Cape Dorset überstehen und sich zugleich die Erinnerungen vom Leib halten sollte. Er hatte sich für zwei Nächte eingebucht, weil damit zu rechnen war, dass es einen Nachlass und irgendwelche Formalitäten zu regeln gab, aber Akesuk hatte sich bereits um alles gekümmert. Im Grunde war er nutzlos. Ebenso gut konnte er sofort wieder abreisen.
Er beschloss, die zweite Nacht zu canceln. Ein Rückflug nach Iqaluit würde sich kurzfristig einrichten lassen. Mit etwas Glück ergatterte er einen Platz in der Boeing, die ihn zurück nach Montreal flog. Einmal dort, war es ihm egal, wie lange er auf den Anschlussflug zu warten hatte. Montreal war sehenswert und vor allen Dingen weit weg von diesem schrecklichen Ende der Welt namens Cape Dorset.
Schließlich überkam ihn der Schlaf.
Anawak schlief, aber sein Geist versuchte weiterhin, Nunavut zu entrinnen. Er sah sich im Flugzeug sitzen und über Vancouver kreisen. Unablässig kreisten und kreisten sie und warteten auf die Erlaubnis, tiefer gehen zu dürfen, aber der Tower verweigerte die Landung. Der Pilot drehte sich zu Anawak um und sagte: »Wir dürfen hier nicht landen. Sie können nicht nach Vancouver, und nach Tofino können Sie auch nicht.«
»Warum?«, rief Anawak. »Warum können wir nicht landen?«
»Die Bodenkontrolle meint, es sei Ihretwegen. Die sagen, Sie sind hier nicht zu Hause.«
»Aber ich lebe in Vancouver. Ich wohne in Tofino auf einem Schiff.«
»Wir haben nachgefragt. Sie wohnen nirgendwo dort. Kein Leon Anawak ist da unten bekannt. Die Bodenkontrolle sagt, ich soll Sie nach Hause bringen, also wohin soll ich fliegen?«
»Ich weiß es nicht.«
»Sie müssen doch wissen, wo Sie zu Hause sind.«
»Da unten ist mein Zuhause.«
»Gut.«
Die Maschine sackte ab und setzte zur Landung an. Sie drehten mehrere Kurven. Die Lichter der Stadt kamen näher, aber es waren zu wenige für Vancouver, viel zu wenige. Das war nicht Vancouver. Überall lag Schnee, Eisschollen trieben auf einer schwarzen See, im Hintergrund erhob sich ein marmoriertes Gebirge.
Sie landeten in Cape Dorset.
Plötzlich war er wieder zu Hause bei seinen Eltern, die beide noch lebten und ein Fest mit ihm feierten. Es war sein Geburtstag. Viele Kinder aus der Nachbarschaft waren gekommen, alle tanzten ausgelassen um ihn herum, und sein Vater schlug vor, einen Wettlauf durch den Schnee zu machen. Er überreichte Anawak ein riesiges, grob verschnürtes Paket und erklärte ihm, dies sei sein einziges Geschenk und sehr kostbar.
»Darin findest du alles, was du für dein späteres Leben brauchst«, sagte er. »Aber du musst es mitnehmen, wenn wir draußen laufen.«
Anawak versuchte, das Riesenpaket mit beiden Armen über seinem Kopf zu balancieren. Sie gingen nach draußen, wo der Schnee in der Dunkelheit leuchtete, und eine Stimme flüsterte ihm zu, dass ihm keine Wahl bliebe, als das Rennen zu gewinnen, weil die anderen beschlossen hätten, ihn sonst zu töten. Niemand habe sich getraut, es ihm zu verraten, aber unzweifelhaft hätten sie es vor. Bei Nacht würden sie sich allesamt in Wölfe verwandeln und ihn in Stücke reißen, wenn er nicht rasch genug unten am Wasser wäre, also sollte er besser die Beine in die Hand nehmen.
Anawak begann zu weinen. Er konnte sich nicht vorstellen, warum jemand ihm so etwas antun sollte. Er verwünschte seinen Geburtstag, weil er wusste, dass er bald erwachsen sein würde, und er wollte nicht erwachsen sein und zerrissen werden. Seine Finger in das Paket gekrallt, begann er zu laufen. Der Schnee war hoch, er versank mit beiden Beinen darin, bis zur Hüfte reichte er, sodass Anawak kaum vorankam. Er sah sich nach allen Seiten um, aber niemand lief mit ihm. Er war allein. Nur das Haus seiner Eltern lag ein Stück hinter ihm, mit verschlossener Tür, verdunkelt. Ein kalter Mond stand darüber, und mit einem Mal herrschte Totenstille.
Anawak blieb stehen.
Er überlegte, ob er zurück ins Haus gehen sollte, aber da war offenbar niemand mehr. Unheimlich und abstoßend erschien es ihm, ein Ort der Ungewissheit. Keine Menschenseele war zu sehen in der eisigen, mondbeschienenen Nacht, kein Laut erklang. Die Verheißung von den hungrigen Wölfen kam ihm in den Sinn, die darauf warteten, ihn bei lebendigem Leib zu fressen. Waren sie in dem Haus? Hatten sie schon ein Gemetzel angerichtet unter den Gästen? Aber nichts ließ darauf schließen. Cape Dorset und das Haus schienen auf geheimnisvolle Weise jenseits aller Naturgesetze zu liegen. Es war derselbe Platz, an dem eben noch seine Geburtstagsfeier stattgefunden hatte, aber zu einer anderen Zeit, in ferner Zukunft oder noch fernerer Vergangenheit. — Oder vielleicht stand die Zeit auch still, und er blickte auf ein gefrorenes Universum, in dem kein Leben möglich war.
Seine Angst gewann die Oberhand. Er drehte sich um und begann hinunter zum Wasser zu stapfen. Kein Pier wartete dort wie im echten Cape Dorset, sondern nur eine Eiskante. Das Paket war geschrumpft, er konnte es mühelos mit einer Hand greifen, und jetzt kam er auch viel besser voran, sodass er nach wenigen Schritten die Kante erreicht hatte.
Er sah hinaus.
Mondlicht schimmerte auf schwarzen kräuseligen Wellen und treibenden Eisplatten. Der Himmel war voller Sterne. Jemand rief seinen Namen. Die Stimme drang schwach aus einer Schneewehe herüber, und Anawak, hin-und hergerissen zwischen Furcht und Neugier, näherte sich mit zögernden Schritten, bis er sehen konnte, dass es gar keine Wehe war, sondern zwei eng beieinander liegende Körper, von Schnee überpudert. Es waren seine Eltern. Sie starrten mit leerem Blick zum Himmel und waren entweder tot oder außerstande, mit ihm zu sprechen oder ihn wahrzunehmen.
Ich bin erwachsen, dachte er. Ich muss dieses Paket auspacken.
Er betrachtete es in seiner Handfläche.
Winzig war es geworden. Er begann es auszuwickeln, aber im Innern war nur noch mehr Papier. Nichts kam zum Vorschein. Er rupfte das knitterige Zeug auseinander, zerknüllte Schicht um Schicht, warf es weg, bis es kein Päckchen mehr gab und keine reglos hingestreckten Eltern, sondern nur noch die Eiskante und das schwarze Wasser.
Ein gewaltiger Buckel teilte die Wellen und verschwand wieder.
Anawak wandte langsam den Kopf. Er erblickte ein kleines, schäbiges Haus, mehr eine Wellblechbaracke. Die Tür stand offen.
Sein Zuhause.
Nein, dachte er. Nein! Er begann zu weinen. Irgendetwas war schief gelaufen. Das war unmöglich sein Leben. Nicht sein Platz! So war das alles nicht geplant gewesen!
Er hockte im Schnee und starrte auf die Hütte. Er konnte nicht aufhören zu weinen. Namenloses Elend erfasste ihn. Sein Schluchzen zerriss ihm fast die Brust, hallte vom Himmel wider, erfüllte die ganze Welt mit seiner Klage, eine Welt, in der niemand außer ihm existierte.
Nein. Nein!
Licht.
Sein Zimmer in der Polar Lodge.
Aufrecht saß Anawak im Bett. Er zitterte am ganzen Körper. Sein Wecker zeigte 2.30 Uhr. Es dauerte eine Weile, bis er sich so weit beruhigt hatte, dass er aufstehen und den kleinen Kühlschrank öffnen konnte. Seine Zunge klebte am Gaumen. Er sah Wasser, Cola und Bier, griff nach einer Cola, öffnete sie und trank mit langen durstigen Schlucken. Die Dose in der Rechten trat er zum Fenster, zog den Vorhang beiseite und sah hinaus.
Das Hotel lag auf einer Anhöhe, sodass er den Ortsteil Kinngait und Teile der angrenzenden Viertel überblicken konnte. Es war klar und wolkenlos wie in seinem Traum, aber statt des unermesslichen Sternenhimmels lag nächtliches Zwielicht auf Cape Dorset und tauchte Häuser, Tundra, Schneeflächen und Meer in unwirkliches Rosagold. Es wurde nicht dunkel um diese Zeit, nur die Konturen erschienen weicher und die Farben sanfter.
Mit einem Mal wurde Anawak klar, wie schön es hier war. Er schaute verzaubert auf diesen unglaublichen Himmel, ließ seinen Blick über die Berge schweifen und über die Bucht. Das Eis der Tellik Bay schimmerte wie ausgegossenes Silber. Schwarz und bucklig lag Mallikjuaq vor der Küste wie ein schlafender Wal.
Er sah weiter hinaus und trank von Zeit zu Zeit einen Schluck aus seiner Dose.
Was sollte er tun?
Er erinnerte sich seiner Gefühle vor wenigen Tagen, als er mit Shoemaker und Delaware zusammengesessen hatte. Wie fremd ihm plötzlich die Station geworden war, Tofino, alles. Wie überall ein Zimmer zu fehlen schien, um sich vor der Welt zurückzuziehen. Etwas Bedeutungsvolles hatte sich angekündigt, davon war er überzeugt gewesen. Voller Hochgefühl und Furcht hatte er darauf gewartet, als solle die Verheißung über ihn kommen.
Stattdessen war sein Vater gestorben.
War es das? Dieses Ereignis von Bedeutung? Dass er in die Arktis hatte zurückkehren müssen, um seinen Vater zu beerdigen?
Sicher, er stand vor größeren Herausforderungen. Vor einer der größten, denen sich die Menschheit je ausgesetzt gesehen hatte. Er und einige wenige. Das war an Bedeutsamkeit kaum noch zu überbieten. Aber es hatte nichts mit seinem Leben zu tun. Sein Leben vollzog sich in einem anderen Gefüge. Tsunamis, Methankatastrophen und Seuchen spielten darin keine Rolle. Sein Leben hatte sich mit einer Todesbotschaft in den Vordergrund gedrängt. Und erstmals, seit sie ihn erreicht hatte, begann Anawak zu ahnen, dass sich ihm hier in Nunavut die Chance bot, Tod in neues Leben umzuwandeln. Er selber war tot gewesen. Er musste neu geboren werden.
Nach einer Weile zog er sich an, streifte seine gefütterte Mütze über beide Ohren und ging hinaus in die erleuchtete Nacht. Niemand außer ihm war unterwegs. Eine gute Stunde lief er durch den Ort, bis er neue Müdigkeit kommen fühlte, weit schwerer und freundlicher als die Betäubung durch den laufenden Fernseher. Er kehrte zurück in die warme Lodge, warf seine Kleidung achtlos auf den Boden, rollte sich im Bett zusammen und war eingeschlafen, kaum dass sein Kopf das Kissen berührte.
Am folgenden Morgen rief er Akesuk an.
»Hast du Lust, mit mir zu frühstücken?«, fragte er.
Sein Onkel schien überrascht.
»Mary-Ann und ich sitzen selber gerade beim Frühstück. Ich hatte nicht mit dir gerechnet.«
»Okay. Kein Problem.«
»Nein, warte mal … Wir haben eben erst angefangen. Warum kommst du nicht vorbei und lässt dir eine ordentliche Portion Rührei mit Schinken schmecken?«
»Gut. Bis gleich.«
Die Portion, die Mary-Ann für ihn auftischte, war wirklich ordentlich zu nennen. Sie war so ordentlich, dass Anawak vom Hinschauen satt wurde, aber er langte tapfer zu. Mary-Ann strahlte übers ganze Gesicht. Er fragte sich, was Akesuk ihr erzählt hatte. Irgendeinen triftigen Grund musste er wohl erfunden haben, warum Anawak ihr Abendessen ausgeschlagen hatte. Verstimmt schien sie nicht zu sein.
Es war seltsam, diese Hand zu ergreifen, die Akesuk und seine Frau ihm reichten. Sie zog ihn zurück in die Familie. Anawak wusste noch nicht, ob ihm das gefiel. Der Zauber der Mondnacht war verflogen, und seinen inneren Frieden hatte er bei weitem nicht mit Nunavut gemacht. Er beschloss, sich vorsichtig auf alles Weitere einzulassen.
Nach dem Frühstück räumte Mary-Ann das Geschirr ab und empfahl sich zu Einkäufen in den Ort. Akesuk drehte an den Knöpfen eines Transistorradios, lauschte eine Minute und sagte: »Das ist gut.«
»Was ist gut?«, fragte Anawak.
»IBC meldet gutes Wetter für die nächsten Tage. Man darf sie nicht zu sehr beim Wort nehmen, aber wenn nur die Hälfte davon stimmt, können wir aufs Land fahren.«
»Ihr wollt aufs Land?«
»Ja, für eine Weile. Morgen. Wenn dir danach ist, können wir heute was zusammen unternehmen. — Bei der Gelegenheit, was sind überhaupt deine Pläne? Oder willst du vorzeitig zurück nach Kanada?«
Der alte Fuchs hatte es geahnt.
Anawak verrührte umständlich Milch in seinem Kaffee.
»Ehrlich gesagt, gestern Abend stand ich kurz davor.«
»Das ist keine Überraschung«, konstatierte Akesuk trocken. »Und jetzt?«
Anawak zuckte die Achseln.
»Ich weiß nicht so recht. Ich dachte, vielleicht besuche ich Mallikjuaq oder fahre raus zum Inuksuk Point. — Ich fühle mich in Cape Dorset einfach nicht wohl, Iji. Nimm’s mir nicht krumm. Es ist nun mal kein Ort, an den man sich gerne erinnert mit einem … so einem …«
»Mit einem Vater wie deinem«, ergänzte sein Onkel. Er strich sich über den Schnurrbart und nickte. »Was mich wundert, ist, dass du überhaupt gekommen bist. Du hast 19 Jahre lang keinen Kontakt gehabt, zu niemandem von uns. Und jetzt bin ich der Letzte aus deiner Sippe. Ich habe angerufen, weil ich es für richtig hielt, dich zu informieren, aber ich hatte mich insgeheim damit abgefunden, dass wir dich hier nicht zu Gesicht bekommen werden. Warum also bist du hier?«
»Keine Ahnung, Iji. Nichts hat mich hergezogen. Eher glaube ich, dass Vancouver mich für eine Weile loswerden wollte.«
»Dummes Zeug.«
»An meinem Vater hat es jedenfalls nicht gelegen! Du weißt verdammt genau, dass ich ihm keine Träne nachweine.« Es klang unnötig schroff, aber er konnte es nicht ändern. »Und es wird auch nicht passieren.«
»Du bist zu hart.«
»Er hat falsch gelebt, Iji!«
Akesuk sah ihn lange an.
»Ja, dein Vater hat falsch gelebt, Leon. Aber ein richtiges Leben war damals nicht im Angebot. Das hast du vergessen zu erwähnen.«
Anawak schwieg.
Sein Onkel schlürfte geräuschvoll den letzten Rest aus seiner Kaffeetasse. Dann lächelte er unvermittelt. »Weißt du was? Ich mache dir einen Vorschlag. Mary-Ann und ich werden schon heute abreisen. Wir wollen diesmal ganz woandershin, in den Nordwesten nach Pond Inlet. — Und du kommst mit uns.«
Anawak starrte ihn an.
»Das geht nicht«, sagte er. »Ihr werdet wochenlang unterwegs sein. Ich kann unmöglich so lange fortbleiben.
— Abgesehen davon, dass ich es auch nicht will.« »Du verstehst mich falsch. Du kommst mit, und nach ein paar Tagen fliegst du alleine wieder zurück. Ich muss dir ja nicht überall die Hand halten, du bist erwachsen. In ein Flugzeug wirst du hoffentlich von alleine finden.«
»Viel zu viele Umstände, Iji, ich …«
»Du bereitest mir erhebliche Langeweile mit deinen Umständen. Was soll umständlich daran sein, dich mit ins Eis zu nehmen? Wir schließen uns da oben einer Gruppe an. Alles ist vorbereitet, und für deinen zivilisierten Hintern finden wir schon noch ein Plätzchen.« Er zwinkerte ihm zu. »Aber bilde dir bloß nicht ein, es wäre eine reine Vergnügungsfahrt. Du wirst ebenso zur Bärenwache eingeteilt wie alle anderen.«
Anawak lehnte sich zurück und grübelte darüber nach. Die Einladung erwischte ihn unvorbereitet. Auf diesen weiteren Tag hatte er sich eingestellt. Auf diesen einen. Nicht auf drei oder vier.
Wie sollte er das Li klar machen?
Andererseits hatte Li ihm zu verstehen gegeben, dass er so lange fortbleiben könne, wie er wolle.
Pond Inlet. Drei Tage.
So viel war das eigentlich nicht. Der Flug von Cape Dorset würde maximal zwei Stunden in Anspruch nehmen. Drei Tage auf dem Land, zwei Stunden zurück, direkt nach Iqaluit.
»Und was versprichst du dir davon?«, fragte er.
Akesuk lachte.
»Na, was schon? Dich heimzubringen, Junge.«
Auf dem Land.
In diesen drei Worten drückte sich die ganze Lebensphilosophie der Inuit aus. Auf dem Land zu sein bedeutete, der Siedlung zu entfliehen und die Sommertage in Zeltcamps zu verbringen, an Stranden oder nahe der Meereiskante, um Narwale zu erlegen, Robben und Walrosse zu jagen und um zu fischen. Der Walfang für den Eigenbedarf war den Inuit gestattet. Man nahm mit, was man für ein Überleben jenseits der Zivilisation brauchte, lud Kleidung, Ausrüstung und Jagdutensilien auf ATVs, Schlitten oder Boote. Wild war das Land, auf das man sich begab, ein riesiges Areal, das Menschen seit Jahrtausenden durchstreift hatten, bevor eine unerwünschte Entwicklung sie zwang, sesshaft zu werden.
Auf dem Land gab es keine Zeit, und die fest gefügte Weltordnung der Städte und Siedlungen hörte auf zu existieren. Entfernungen wurden nicht in Kilometern oder Meilen ausgedrückt, sondern in Zeiteinheiten. Zwei Tage war es bis hierhin, ein halber Tag bis dorthin, vielleicht auch einer. Welchen Sinn hatte es, von fünfzig Kilometern zu sprechen, wenn es mittendrin unvorhergesehene Barrieren zu überwinden gab, Packeis und Gräben? Die Natur unterwarf sich keiner Planung. Auf dem Land lebte man ausschließlich in der Gegenwart, weil schon der nächste Moment voller Unwägbarkeiten steckte. Das Land folgte seinem eigenen Rhythmus, dem man sich willig unterwarf. In Jahrtausenden des Nomadentums hatten die Inuit gelernt, dass in dieser Unterwerfung die Beherrschung lag. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hatten sie ungebunden das Land durchstreift, und immer noch entsprach dieses Leben weit mehr ihrer Natur als ein Dasein in festen Häusern und an festen Plätzen.
Mittlerweile, das wurde Anawak mit jeder Minute klarer, hatte sich einiges geändert. Dass die Welt auch von den Inuit erwartete, geregelten Tätigkeiten nachzugehen, um ihren Platz in einer industrialisierten Gesellschaft zu behaupten, schien Akzeptanz gefunden zu haben. Aber im Gegensatz zu damals, als Anawak ein Kind gewesen war, hatte die Welt begonnen, die Inuit zu akzeptieren. Sie gab ihnen etwas von dem zurück, was sie ihnen genommen hatte, und vor allem gab sie ihnen eine Perspektive. Westliche Standards fanden darin ebenso ihren Platz wie uralte Traditionen.
Anawak hatte sein Land verlassen, als es kein Land mehr war, sondern eine Region ohne Wertgefühl und eigene Identität. Er war geflohen mit dem Bild eines zutiefst deprimierten, aller Kraft beraubten Volkes, dem so lange der Respekt verweigert worden war, bis es selber keinen mehr vor sich hatte. Wenn damals überhaupt jemand dieses Bild hätte korrigieren können, dann sein Vater. Aber ausgerechnet der war maßgeblich dafür verantwortlich. Der Mann, der nun auf dem kleinen Friedhof von Cape Dorset lag, war zum Symbol der Resignation geworden — ein zerstörter, ständig alkoholisierter, greinender Choleriker, dem alles misslungen war, zuletzt sogar, seine Familie zu schützen. Anawak hatte an Bord des Schiffes gestanden, das ihn fortbrachte, und als Cape Dorset entrückte, hatte er diesen einen Satz in den Nebel hinausgeschrien, den niemand außer ihm hören konnte und der ihm jetzt noch in den Ohren dröhnte, gedacht für seinen Vater, bezogen auf sein ganzes Volk:
»Warum bringt ihr euch nicht alle um, damit sich niemand mehr für euch schämen muss?«
Der Trommeltänzer. Als er klein gewesen war, hatte es oft Trommeltanz gegeben. Vor langer Zeit, als die Dinge noch in Ordnung waren.
Unsinn! Wann wäre hier jemals etwas in Ordnung gewesen!
Er ging zurück auf die Straße und lief weiter, während ihm heiß wurde im kristallenen Sonnenlicht. Die anglikanische Kirche sah tatsächlich aus wie ein Iglu, mit hochgezogener Spitze. Er ließ sie links liegen. Nach einer guten Stunde war er wieder in der Abfertigungshalle des Flughafens und verzog sich mit einer Zeitung auf eine Bank. Außer ihm wartete nur das Ehepaar auf den Weiterflug. Er klappte die Zeitung so auf, dass sie ihn von allen äußeren Einflüssen abschirmte, las die Artikel, ohne ihre Inhalte aufzunehmen, und warf sie schließlich weg.
Die junge Frau vom Schalter bat sie, ihr zu folgen. Sie traten durch einen Nebenausgang des Flughafens aufs Rollfeld, wo eine kleine zweimotorige Propellermaschine vom Typ Piper wartete. Anawak stieg zusammen mit dem Ehepaar über zwei Stufen ins enge Kabineninnere. Die Maschine hatte nur sechs Plätze. Im hinteren Teil war hinter Netzen das Gepäck verstaut. Eine Abtrennung der Kanzel zum Passagierraum gab es nicht. Sie rollten zur Startbahn und mussten einen Moment warten, bis eine andere Maschine gleicher Bauart gelandet war, dann nahmen sie einen kurzen, schnellen Anlauf und hoben etwas wackelig ab. Der Flughafen wurde kleiner und verschwand. Unter ihnen glitzerte die Frobisher Bay. Über teils noch schnee— und eisbedeckte, von Gletschern geschliffene Berge flogen sie nach Westen. Zur Linken gleißte das Sonnenlicht auf der Hudson Strait, rechts funkelte es auf der Oberfläche eines Sees, dessen Name Anawak spontan wieder einfiel: Amadjuak Lake.
Dort waren sie manchmal gewesen.
So vieles kam zurück, in rasender Geschwindigkeit. Erinnerungen manifestierten sich wie Schemen in einem Schneesturm und zogen ihn in die Vergangenheit.
Er wollte nicht dorthin zurück.
Das Land wurde flacher, endete. Zwanzig Minuten lang führte sie ihre Route übers Meer, dann war durch die Cockpitfenster wieder gebirgiges Land zu erkennen. Die Bucht von Tellik Inlet mit ihren sieben Inseln schob sich ins Blickfeld. Über eine davon zog sich die dünne Linie der Landebahn von Cape Dorset.
Sie setzten auf.
Anawak fühlte sein Herz nach draußen drängen. Er war zu Hause. Er war dort, wohin er niemals hatte zurückkommen wollen. Widerwille und Neugier mischten sich mit Angst, während die Piper dem Empfangsgebäude entgegenrollte.
Cape Dorset: das New York des Nordens, wie es mit seinen knapp 1200 Einwohnern halb bewundernd, halb scherzhaft genannt wurde, eines der ausgewiesenen Zentren für Inuit-Kunst.
Jetzt war es so.
Damals war alles anders gewesen.
Cape Dorset: Kinngait in der Sprache der Inuit, Hohe Berge, gelegen in der weiteren Umgebung von Sikusülaq, wo kein Eis auf dem Meer entsteht, weil selbst in den strengsten Wintern milde Strömungen verhinderten, dass die Meeresoberfläche rund um die Foxe Peninsula, Baffin Islands südwestlichen Ausleger, gänzlich zufror. Namen fluteten Anawaks Hirn. Da war diese winzige Insel nahe Cape Dorset, Mallikjuaq, ein Naturschutzgebiet voller kleiner Wunder, mit Fuchsfallen aus dem 19. Jahrhundert, Resten der uralten Thule-Kultur, legendenumwobenen Gräbern und einem romantischen See, an dem sie oft gecampt hatten. Anawak erinnerte sich an den kleinen Kajakstand. Dort war er gerne gewesen, auf Mallikjuaq. Dann sah er in seiner Erinnerung seinen Vater und seine Mutter, und er wusste wieder, was ihn fortgetrieben hatte aus dem Land, das damals noch nicht Nunavut geheißen hatte, sondern Northwest Territories.
Er nahm seinen Rucksack in Empfang und kletterte aus der Piper.
Sofort stürmte ein Mann auf das Ehepaar zu. Offenbar kannte man sich. Die Begrüßung war überschwänglich, aber das war sie bei den Inuit fast immer. Man kannte jede Menge Wörter zu Begrüßung und kein einziges für good bye. Auch zu Anawak hatte niemand ein Wort des Abschieds gesagt vor 19 Jahren, nicht einmal der Mann, der plötzlich klein und verwittert auf dem Rollfeld stand, als das Ehepaar und ihr einheimischer Freund schwatzend abzogen. Einen Moment lang hatte Anawak Mühe, ihn wieder zu erkennen — Ijitsiaq Akesuk war sichtlich gealtert, und er trug einen dünnen grauen Schnurrbart, den er früher nicht gehabt hatte. Aber er war es. Das zerknautschte Gesicht verbreitete sich zu einem Lächeln. Er eilte Anawak entgegen und umarmte ihn mitsamt seinem Rucksack. Dabei entsprudelte seinen Lippen ein Wortschwall auf Inuktitut. Dann besann er sich und sagte auf Englisch: »Leon. Mein Junge. Was für ein gut aussehender junger Doktor.«
Anawak ließ die Umarmung geschehen und klopfte Akesuk halbherzig auf den Rücken. »Onkel Iji. Wie geht’s dir?«
»Wie soll es gehen bei allem, was passiert? Hattest du einen angenehmen Flug? Du musst ja eine Ewigkeit unterwegs gewesen sein, ich weiß gar nicht, wo du überall hinfliegen musstest, um herzukommen …«
»Ich musste ein paar Mal umsteigen.«
»Toronto? Montreal?« Akesuk ließ ihn los und strahlte ihn an. Anawak sah die für Inuit typische Zahnlücke in seinem Oberkiefer. »Natürlich Montreal. Du kommst viel herum, nicht wahr? Ich freue mich. Du musst mir vieles erzählen. Natürlich wohnst du bei mir, Junge, es ist alles hergerichtet. Hast du noch weiteres Gepäck?«
»Nein. Ahm, Onkel Iji …«
»Iji, nur Iji, lass den blöden Onkel. Du bist zu alt, um Onkel zu sagen.«
»Ich habe mich im Hotel eingebucht.«
Akesuk wich ein Stück zurück. »Wo denn?«
»In der Polar Lodge.«
Der alte Mann wirkte eine Sekunde lang enttäuscht. Dann strahlte er wieder. »Das bestellen wir ab. Ich kenne den Manager. Du weißt doch, hier kennt jeder jeden. Kein Problem.«
»Ich will dir keine Umstände machen«, sagte Leon. Ich bin hier, um meinen Vater unters Eis zu bringen, dachte er. Und um dann schleunigst wieder zu verschwinden.
»Du machst keine Umstände«, sagte Akesuk. »Du bist mein Neffe. Wie lange hast du dich eingebucht?«
»Zwei Nächte. Ich denke, das reicht, oder?«
Akesuk legte die Stirn in Falten und musterte ihn von oben bis unten. Dann nahm er Anawak beim Arm und zog ihn in die Halle.
»Da reden wir nochmal drüber. Hast du keinen Hunger?«
»Doch.«
»Wunderbar. Mary-Ann hat ein Karibu-Stew gemacht, und es gibt Robbensuppe mit Reis. Ganz was Feines. Wann hast du so was das letzte Mal gegessen, Robbensuppe, hm?«
Anawak ließ sich mitschleppen. Vor dem Flughafengebäude parkten mehrere Fahrzeuge. Akesuk steuerte zielstrebig auf einen Pick-up zu.
»Leg deinen Rucksack hinten drauf. Kennst du Mary-Ann? Natürlich nicht. Du warst schon weg, als sie von Salluit rüberzog und wir geheiratet haben. Es war ja nicht zum Aushalten mit dem Alleinsein. Sie ist jünger als ich. Das finde ich ganz in Ordnung, muss ich dir sagen. Hast du eine Frau? Du lieber Himmel, was werden wir uns alles zu erzählen haben nach der Ewigkeit, die du nicht mehr hier warst.«
Anawak rutschte auf den Beifahrersitz und schwieg. Akesuk schien beschlossen zu haben, ihn in Grund und Boden zu reden. Er versuchte sich zu erinnern, ob der Alte früher auch so gesprächig gewesen war.
Dann kam ihm der Gedanke, dass sein Onkel möglicherweise ebenso nervös war wie er.
Der eine schwieg. Der andere redete. Jeder hatte seinen Weg.
Sie rumpelten die Hauptstraße entlang. Cape Dorset war durch diverse Höhenzüge in Ortschaften gegliedert. Dem eigentlichen Kinngait schlossen sich Itjurittuq im Nordosten, Kuugalaaq im Westen und Muliujaq im Süden an. Gewohnt hatten sie damals in Kuugalaaq. Seine, Anawaks Familie, hatte dort gelebt. Akesuk, der Bruder seiner Mutter, war in Kinngait zu Hause gewesen.
Anawak fragte ihn nicht, ob er immer noch dort wohnte. Er würde es ohnehin herausfinden.
Sie kurvten durch den ganzen Ort. Sein Onkel erläuterte nahezu jedes Gebäude, an dem sie vorbeifuhren, bis Anawak schlagartig klar wurde, dass Akesuk eine Ortsbesichtigung mit ihm vornahm.
»Onkel Iji, ich kenne das alles«, sagte er.
»Nichts kennst du. Du warst 19 Jahre nicht mehr hier. Alles Mögliche ist neu. Da drüben, erinnerst du dich an den Supermarkt?«
»Nein.«
»Siehst du. Wie auch? Alles neu! Und wir haben noch einen größeren dazubekommen. Früher sind wir immer zum Polar Supply Store gegangen, das hast du doch nicht vergessen, oder? — Da hinten ist unser neues Schulgebäude, na, so neu ist es auch wieder nicht, aber für dich ja schon. — Guck mal rechts! Das kannst du gar nicht kennen, die Tiktaliktaq-Festhalle. Weißt du, wer da schon alles zum Throat Singing war und zum Trommeltanz? Bill Clinton und Jaques Chirac und Helmut Kohl, das war übrigens ein Riese, dieser Kohl, wir sahen daneben aus wie Zwerge, wann war der noch hier, warte mal …?«
Und so weiter und so fort. Sie besichtigten die anglikanische Kirche mit dem Friedhof, auf dem sein Vater beerdigt werden sollte. Anawak sah eine Inuit-Frau vor ihrem Haus an einer Skulptur arbeiten, die einen riesigen Vogel zeigte. Das Wesen erinnerte ihn an die Kunst der Nootka. Ein zweistöckiges, blaugraues Gebäude mit futuristischem Eingangsbereich erwies sich als Regierungssitz. Die dezentralisierte Verwaltung Nunavuts führte dazu, dass in jeder größeren Gemeinde ein solches Gebäude zu stehen hatte. Anawak ergab sich in sein Schicksal, zumal er feststellte, dass das Cape Dorset seiner Kindheit tatsächlich ein anderes gewesen war als dieses.
Und plötzlich hörte er sich sagen: »Fahr zum Hafen, Iji.«
Akesuk riss das Steuer herum. Sie bretterten über eine abschüssige Straße in Richtung Wasser. Holzhäuser aller Größen und Farben verteilten sich scheinbar ungeordnet über die schwarzbraune Landschaft. Vereinzelt waren ein paar Flecken robusten Tundragrases zu sehen, hier und da eine Schneefläche. Cape Dorsets Hafen war wenig mehr als ein Pier mit Verladekränen, wo ein— bis zweimal im Jahr das Versorgungsschiff mit überlebenswichtigen Gütern vor Anker ging. Unweit davon konnte man bei Ebbe das Tellik Inlet durchqueren, um auf die Nachbarinsel zu gelangen — nach Mallikjuaq, zu jenem kleinen Nationalpark mit seinen Gräbern und dem Kajakstand und dem See, an dem sie so oft ihr Camp aufgeschlagen hatten.
Sie hielten an. Anawak stieg aus, ging den Pier entlang und schaute hinaus auf das polarblaue Wasser. Akesuk folgte ihm ein Stück, ohne zu ihm aufzuschließen.
Der Pier war das Letzte, was Anawak gesehen hatte, als er Cape Dorset verlassen hatte. Nicht per Flugzeug, sondern mit dem Versorgungsschiff. Zwölf Jahre war er alt gewesen. Das Schiff hatte ihn und seine neue Familie mitgenommen, die voller Hoffnung und Vorfreude auf die neue Welt das Land verließ, und zugleich voller Heimweh nach dem Paradies im Eis, das schon so lange verloren war.
Nach fünf Minuten ging er mit langsamen Schritten zurück zum Pick-up und stieg wortlos ein.
»Ja, unser alter Hafen«, sagte Akesuk leise. »Der alte Hafen. Werd ich nie vergessen. Du bist damals auf und davon, Leon. Es hat allen das Herz gebrochen …«
Anawak sah ihn scharf an. »Wem hat es das Herz gebrochen?«, fragte er.
»Nun ja, deinem …«
»Meinem Vater? Euch? Irgendwelchen Nachbarn?«
Akesuk startete den Wagen.
»Komm«, sagte er. »Wir fahren nach Hause.«
Akesuk wohnte immer noch in dem kleinen Siedlungshaus. Es sah hübsch aus und gepflegt, hellblau mit dunkelblauem Dach. Dahinter stiegen die Hügel sanft an und gipfelten in einigen Kilometern Entfernung im Kinngait, dem hohen Berg, dessen Oberfläche von Schneeadern durchzogen war. Wie ein Gebirge aus Marmor lag er da, mehr ein gedrungener Höhenzug als ein hoher Berg. In Anawaks Erinnerung reichte der Kinngait in den Himmel. Dieser Gebirgskamm lud ein, ihn zu Fuß zu erkunden, versehen mit einer guten Ausrüstung.
Akesuk schaffte es, vor Anawak an der Ladefläche zu sein und den Rucksack herunterzuwuchten. So klein und schmächtig er war, schien es ihm nicht das Geringste auszumachen. Er hielt den Sack mit einer Hand und öffnete mit der anderen die Tür zu seinem Haus, ohne anzuklopfen.
»Mary-Ann«, rief er ins Innere. »Er ist da! Der Junge ist da!«
Ein Hundebaby kam nach draußen getapst. Akesuk stieg darüber hinweg, verschwand im Haus und kehrte Sekunden später in Begleitung einer fülligen Frau zurück, deren freundliches Gesicht sich auf ein imposantes Doppelkinn stützte. Sie umarmte Anawak und begrüßte ihn auf Inuktitut.
»Mary-Ann spricht kein Englisch«, sagte Akesuk entschuldigend. »Ich hoffe, du verstehst noch ein bisschen von deiner Sprache.«
»Meine Sprache ist Englisch«, sagte Anawak.
»Ja, natürlich … mittlerweile.«
»Aber ich verstehe noch eine ganze Menge. Ich verstehe, was sie sagt.«
Mary-Ann fragte ihn, ob er hungrig sei.
Anawak bejahte auf Inuktitut. Sie entblößte ein lückenhaftes Gebiss, nahm den Hund, der an Anawaks Stiefeln schnupperte, und bedeutete ihm, ihr zu folgen. Im Vorraum standen mehrere Paar Schuhe. Anawak streifte mechanisch seine Trekkingstiefel ab und stellte sie dazu.
»Deine gute Erziehung hast du jedenfalls nicht verlernt«, lachte sein Onkel. »Ein Quallunaaq bist du nicht geworden.«
Quallunaaq, Mehrzahl Quallunaat, war die Sammelbezeichnung für alle Nicht-Inuit. Anawak schaute an sich herab, zuckte die Achseln und folgte Mary-Ann in die Küche. Er sah einen modernen Elektroherd, elektrische Geräte, die es in jeder ordentlichen Küche in Vancouver auch gab, nichts, was ihn an den desolaten Zustand seines damaligen Zuhauses erinnert hätte. Unter dem Fenster stand ein runder Esstisch, daneben führte eine Tür auf den Balkon. Akesuk wechselte ein paar Worte mit seiner Frau und schob Anawak aus der Küche in einen behaglich eingerichteten Wohnraum. Schwere Polstermöbel gruppierten sich um einen Turm mit Fernseher, Videorecorder, Radio— und CB-Funkgerät. Eine offene Durchreiche wies zur Küche. Akesuk zeigte ihm das Badezimmer mit der Toilette, den angrenzenden Waschmaschinenraum, den dahinter liegenden Vorratsraum, das Schlafzimmer und ein kleines Zimmer mit einem einzelnen Bett. Auf dem Nachttisch standen frische Blumen, Arktischer Mohn, Purpursteinbrech und Glockenheide.
»Mary-Ann hat sie gepflückt«, sagte Akesuk. Es klang wie eine Einladung, es sich bequem zu machen.
»Danke, ich …« Anawak schüttelte den Kopf. »Ich denke, es ist besser, wenn ich im Hotel übernachte.«
Er hatte erwartet, dass sein Onkel verletzt reagieren würde, aber Akesuk sah ihn nur einige Sekunden sinnierend an.
»Ein Drink?«, fragte er.
»Ich trinke nicht.«
»Ich auch nicht. Wir trinken Fruchtsaft zum Essen.
Willst du?«
»Ja. Gerne.«
Akesuk mischte in zwei Gläsern Saftkonzentrat mit Wasser, und sie gingen mit ihren Drinks auf den Balkon, wo sich der Onkel eine Zigarette ansteckte. Mary-Ann war noch nicht restlos zufrieden mit dem Zustand ihres Stews und hatte angekündigt, vor Ablauf einer Viertelstunde gäbe es nichts zu essen.
»Ich soll im Haus nicht rauchen«, sagte Akesuk. »Dafür heiratet man nun. Ein Leben lang habe ich im Haus geraucht. — Aber es ist besser so. Gesund ist es ja nicht. Wenn man nur davon lassen könnte.« Er lachte und sog mit sichtlicher Befriedigung den Rauch in seine Lungen. »Lass mich raten, mein Junge — du rauchst nicht.«
»Nein.«
»Und du trinkst nicht. Gut, gut.«
Sie blickten eine Weile schweigend auf das Panorama der Bergrücken mit ihren Schneeadern. Hoch am Himmel schimmerten streifige Wolken. Strahlend weiße Elfenbeinmöwen segelten darunter hinweg und stießen von Zeit zu Zeit steil nach unten.
»Wie ist er gestorben?«, fragte Anawak.
»Er ist einfach umgefallen«, sagte Akesuk. »Wir waren auf dem Land. Er sah einen Hasen, wollte ihm hinterher und fiel um.«
»Du hast ihn zurückgebracht?«
»Seinen Körper, ja.«
»Hat er sich totgesoffen?«
Die Bitterkeit, mit der er die Frage stellte, jagte Anawak einen Schrecken vor sich selbst ein. Akesuk sah an ihm vorbei auf die Berge und hüllte sich in Rauch.
»Er hatte einen Herzinfarkt, sagt der Arzt aus Iqaluit. Er hat sich zu wenig bewegt und zu viel geraucht. — Getrunken hat er seit zehn Jahren keinen einzigen Schluck mehr.«
Der Karibu-Eintopf war köstlich. Er schmeckte nach Kindheit. Robbensuppe war hingegen nie nach Anawaks Geschmack gewesen, aber er langte kräftig zu. Mary-Ann saß mit zufriedenem Gesicht dabei. Anawak versuchte, sein Inuktitut wiederzubeleben, aber das Resultat war eher jämmerlich. Er verstand fast alles, dafür haperte es mit dem Sprechen. Also unterhielten sie sich vorwiegend auf Englisch über die Geschehnisse der letzten Wochen, über Walangriffe und die Katastrophe in Europa und was sonst noch bis nach Nunavut drang. Akesuk übersetzte. Mehrfach hatte er das Gespräch auf den toten Vater bringen wollen, aber Anawak ging nicht darauf ein. Die Beisetzung sollte am späten Nachmittag auf dem kleinen Friedhof der anglikanischen Kirche erfolgen. Um diese Jahreszeit brachte man seine Toten schnell unter die Erde, während sie im Winter oft in einer Hütte nahe der Begräbnisstätte verwahrt wurden, wenn der Boden zu hart war, um ein Grab zu schaufeln. In der natürlichen Kälte der Arktis hielten sich die Toten erstaunlich lange, aber die Lagerschuppen mussten mit der Waffe in der Hand bewacht werden. Nunavut war wild. Wölfe und Polarbären, zumal von Hunger getrieben, machten vor den Lebenden ebenso wenig Halt wie vor den Toten.
Nach dem Essen zog Anawak rüber in die Polar Lodge. Akesuk bestand nicht länger darauf, dass er unter ihrem Dach campierte. Er holte die Blumen aus dem kleinen Zimmer nach vorn und stellte sie auf den Esstisch.
»Du kannst es dir ja noch überlegen«, sagte er nur.
Anawak blieben zwei Stunden Zeit bis zur Bestattung, in denen er das Hotelzimmer nicht verließ, sondern auf dem Bett lag und versuchte, etwas Schlaf zu finden. Er wusste nicht, was er tun sollte. Genau genommen hätte er es schon gewusst. Er hätte nach Mallikjuaq fahren können, vielleicht sogar hinüberlaufen — das Tellik Inlet war noch vereist und würde ihn tragen. Oder Akesuk fragen. Der wäre sicherlich mit Begeisterung darangegangen, ihn durch halb Cape Dorset zu schleifen und jedem einzeln vorzustellen. In einer Inuit-Siedlung waren alle irgendwie untereinander versippt und verschwägert. Speziell in Cape Dorset, der Welthauptstadt der Inuit-Kunst, wäre ein solcher Rundgang einer einzigen Vernissage gleichgekommen. Jeder zweite Einwohner der Siedlung galt als Künstler, viele stellten ihre Arbeiten in Galerien rund um den Globus aus. Aber Anawak wusste, dass es etwas vom verlorenen Sohn gehabt hätte, dieses Herumzeigen seiner Person, und niemand hier sollte glauben, er kehre heim. Er war entschlossen, die schützende Distanz zu wahren. Etwas von dieser Welt an sich herankommen zu lassen, hätte nur Wunden aufgerissen, also lag er reglos auf dem Bett und starrte Löcher in die Decke, bis er schließlich wegdämmerte.
Sein Reisewecker riss ihn aus dem Schlaf.
Als er vor die Polar Lodge trat, stand die Sonne deutlich tiefer, aber sie schien immer noch hell und freundlich. Über die Eisflächen des Inlet sah er Mallikjuaq zum Greifen nahe. Die Lodge lag im äußersten Nordosten von Cape Dorset, der Friedhof auf der entgegengesetzten Seite des Orts. Anawak sah auf die Uhr. Reichlich Zeit. Er hatte mit Akesuk vereinbart, dass ihn der Onkel in seinem Pickup mitnahm. Gleich neben der Lodge an der Straße, die zum Strand führte, lag der Polar Supply Store. Bei näherem Hinsehen fiel Anawak auf, dass der Laden zugleich örtliche Paketauslieferung, Fahrzeugverleih und Autoreparaturwerkstatt war. Das Gebäude war ihm von früher in Erinnerung, aber das Schild war neu, und als Anawak eintrat, kamen ihm die zwei Männer hinter der Theke fremd vor. Sie waren beide keine Inuit. Er stöberte ein bisschen herum. Es war gemütlich und ramschig im Innern, und es gab fast alles, von getrockneten Karibu-Würsten bis zu warmen Stiefeln. Im hinteren Teil stapelten sich Lithographien und Skulpturen.
Nicht seine Welt.
Er ging und schlenderte die Straße entlang in Richtung Zentrum. Vor einem Haus saß ein alter Mann an einem fußhohen Lattengestell und bearbeitete die Statuette eines Seetauchers, ein Stück weiter war eine Frau damit befasst, einen Falken aus weißem Marmor zu schleifen. Beide grüßten ihn, und Anawak grüßte im Weitergehen zurück. Er spürte, wie ihre Blicke ihm folgten. Seine Ankunft musste wie ein Lauffeuer durch den Ort gegangen sein. Ihn vorzustellen wäre gar nicht nötig gewesen. Jeder wusste, dass der Sohn des verstorbenen Manumee Anawak in Cape Dorset eingetroffen war, und vermutlich zerfetzten sie sich bereits die Mäuler darüber, warum er im Hotel wohnte und nicht unter dem Dach seines Onkels.
Akesuk wartete vor dem Haus auf ihn. Sie fuhren die paar hundert Meter zur anglikanischen Kirche, vor der sich bereits eine ziemliche Menschenmenge versammelt hatte.
Anawak fragte, ob sie alle seines Vaters wegen da wären.
Akesuk sah ihn verwundert an. »Natürlich. Was dachtest du denn?«
»Ich wusste nicht, dass er so viele … Freunde hat.«
»Es sind die Menschen, mit denen er lebte. Ob Freunde oder nicht, was spielt das für eine Rolle? Wenn jemand stirbt, geht er von allen, und alle gehen das letzte Stück mit ihm.«
Die Beisetzung war kurz und unsentimental. Anawak hatte im Vorfeld viele Hände zu schütteln. Leute, die er nie zuvor gesehen hatte, kamen auf ihn zu und umarmten ihn. Ein Reverend las aus der Bibel und sprach ein Gebet, dann wurde der Sarg in eine flache Grube gelassen, eben tief genug, um ihn aufzunehmen, und mit blauer Kunststofffolie abgedeckt. Männer begannen Steine darauf zu schichten. Das Kreuz am Ende der Grube saß windschief im harten Boden wie alle Kreuze auf dem Friedhof. Akesuk drückte Anawak eine kleine Holzkiste mit verglastem Deckel in die Hand, in der ein paar verschossene Kunstblumen nebst einem Päckchen Zigaretten und dem in Metall gefassten Zahn eines Bären lagen. Er stupste ihn an, und gehorsam trottete Anawak zum Grab und legte die Kiste unter das Kreuz.
Akesuk hatte wissen wollen, ob er seinen Vater noch einmal zu sehen wünsche, aber Anawak hatte abgelehnt. Während der Reverend sprach, versuchte er sich vorzustellen, wer der Mann war, der in dem Sarg lag, und dass überhaupt jemand darin lag. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass der Tote keinen weiteren Fehler mehr begehen konnte. Sein Vater hatte sich endgültig in die Nichtexistenz verabschiedet und damit in ein Stadium jenseits aller Schuld und Unschuld. Was immer er zu Lebzeiten getan oder versäumt hatte, verlor jede Bedeutung angesichts des schmucklosen Sarges in der kalten Erde. Schon zuvor hatte es keine Rolle mehr gespielt. Für Anawak war der alte Mann vor so vielen Jahren gestorben, dass ihm die Beisetzung lediglich als überfälliges Zeremoniell erschien.
Er gab sich keine Mühe, etwas zu empfinden. Er wünschte nur, so schnell wie möglich von hier fortzukommen.
Zurück nach Hause.
Wo war das?
Mit einem Mal, während die Gemeinde um ihn herum ein Lied anstimmte, beschlich ihn ein eisiges Gefühl von Verlassenheit und Panik. Es lag nicht an der arktischen Kälte, dass es ihn zu schütteln begann. Er hatte an Vancouver und Tofino gedacht, aber da war kein Zuhause.
Anawak blickte in ein schwarzes Loch.
Sein Gesichtsfeld begann sich einzuengen, Spiralen drehten sich vor seinen Augen. Die Schwärze kam über ihn wie eine Woge, gewaltig und unabwendbar. Wie ein Tier saß er in der Falle, ohne Ausweg, und musste mit ansehen, wie sie sich auf ihn herabsenkte.
»Leon.«
Rasende Angst durchfuhr ihn.
»Leon!«
Akesuk hatte ihn am Arm gepackt. Anawak sah verwirrt in das faltige Gesicht mit dem silberfarbenen Schnurrbart.
»Ist alles in Ordnung, Junge?«
»Ja, sicher«, murmelte er.
»Guter Gott! Kannst dich ja kaum auf den Beinen halten«, sagte Akesuk mitleidig. Viele der Trauergäste schauten herüber.
»Es geht schon. Danke, Iji. Es geht.«
Er sah den Leuten an, was sie dachten, und sie lagen meilenweit daneben. Aus ihren Blicken sprach Trauerroutine. An Gräbern geliebter Menschen bricht man eben zusammen. Auch wenn man ein Inuk ist und stolz darauf, vor nichts und niemandem zu kapitulieren.
Außer vielleicht vor Alkohol und Drogen.
Anawak fühlte, wie ihm übel wurde.
Er wandte sich ab und verließ den Friedhof mit schnellen Schritten. Sein Onkel hielt ihn nicht zurück. Vor der Kirche, als er das fest gestampfte Erdreich der Straße unter seinen Füßen spürte, überkam ihn der Drang wegzulaufen, aber er lief nicht. Er ging ein paar Schritte hierhin, dorthin, mit wild schlagendem Herzen. Er wusste nicht, wohin er hätte laufen sollen. Keine Richtung war für ihn bestimmt.
Er nahm ein frühes Abendessen in der Polar Lodge ein. Mary-Ann hatte etwas vorbereitet, aber Anawak erklärte seinem Onkel, er wolle allein sein. Der Alte nickte nur knapp und fuhr ihn zum Hotel. Er sah traurig aus und nicht so, als kaufe er Anawak den Wunsch nach stiller Einkehr mit sich und seinem Vater ab.
Stundenlang lag Anawak auf einem der beiden Einzelbetten in seinem Zimmer und starrte in den laufenden Fernseher. Er fragte sich, wie er einen weiteren Tag in Cape Dorset überstehen und sich zugleich die Erinnerungen vom Leib halten sollte. Er hatte sich für zwei Nächte eingebucht, weil damit zu rechnen war, dass es einen Nachlass und irgendwelche Formalitäten zu regeln gab, aber Akesuk hatte sich bereits um alles gekümmert. Im Grunde war er nutzlos. Ebenso gut konnte er sofort wieder abreisen.
Er beschloss, die zweite Nacht zu canceln. Ein Rückflug nach Iqaluit würde sich kurzfristig einrichten lassen. Mit etwas Glück ergatterte er einen Platz in der Boeing, die ihn zurück nach Montreal flog. Einmal dort, war es ihm egal, wie lange er auf den Anschlussflug zu warten hatte. Montreal war sehenswert und vor allen Dingen weit weg von diesem schrecklichen Ende der Welt namens Cape Dorset.
Schließlich überkam ihn der Schlaf.
Anawak schlief, aber sein Geist versuchte weiterhin, Nunavut zu entrinnen. Er sah sich im Flugzeug sitzen und über Vancouver kreisen. Unablässig kreisten und kreisten sie und warteten auf die Erlaubnis, tiefer gehen zu dürfen, aber der Tower verweigerte die Landung. Der Pilot drehte sich zu Anawak um und sagte: »Wir dürfen hier nicht landen. Sie können nicht nach Vancouver, und nach Tofino können Sie auch nicht.«
»Warum?«, rief Anawak. »Warum können wir nicht landen?«
»Die Bodenkontrolle meint, es sei Ihretwegen. Die sagen, Sie sind hier nicht zu Hause.«
»Aber ich lebe in Vancouver. Ich wohne in Tofino auf einem Schiff.«
»Wir haben nachgefragt. Sie wohnen nirgendwo dort. Kein Leon Anawak ist da unten bekannt. Die Bodenkontrolle sagt, ich soll Sie nach Hause bringen, also wohin soll ich fliegen?«
»Ich weiß es nicht.«
»Sie müssen doch wissen, wo Sie zu Hause sind.«
»Da unten ist mein Zuhause.«
»Gut.«
Die Maschine sackte ab und setzte zur Landung an. Sie drehten mehrere Kurven. Die Lichter der Stadt kamen näher, aber es waren zu wenige für Vancouver, viel zu wenige. Das war nicht Vancouver. Überall lag Schnee, Eisschollen trieben auf einer schwarzen See, im Hintergrund erhob sich ein marmoriertes Gebirge.
Sie landeten in Cape Dorset.
Plötzlich war er wieder zu Hause bei seinen Eltern, die beide noch lebten und ein Fest mit ihm feierten. Es war sein Geburtstag. Viele Kinder aus der Nachbarschaft waren gekommen, alle tanzten ausgelassen um ihn herum, und sein Vater schlug vor, einen Wettlauf durch den Schnee zu machen. Er überreichte Anawak ein riesiges, grob verschnürtes Paket und erklärte ihm, dies sei sein einziges Geschenk und sehr kostbar.
»Darin findest du alles, was du für dein späteres Leben brauchst«, sagte er. »Aber du musst es mitnehmen, wenn wir draußen laufen.«
Anawak versuchte, das Riesenpaket mit beiden Armen über seinem Kopf zu balancieren. Sie gingen nach draußen, wo der Schnee in der Dunkelheit leuchtete, und eine Stimme flüsterte ihm zu, dass ihm keine Wahl bliebe, als das Rennen zu gewinnen, weil die anderen beschlossen hätten, ihn sonst zu töten. Niemand habe sich getraut, es ihm zu verraten, aber unzweifelhaft hätten sie es vor. Bei Nacht würden sie sich allesamt in Wölfe verwandeln und ihn in Stücke reißen, wenn er nicht rasch genug unten am Wasser wäre, also sollte er besser die Beine in die Hand nehmen.
Anawak begann zu weinen. Er konnte sich nicht vorstellen, warum jemand ihm so etwas antun sollte. Er verwünschte seinen Geburtstag, weil er wusste, dass er bald erwachsen sein würde, und er wollte nicht erwachsen sein und zerrissen werden. Seine Finger in das Paket gekrallt, begann er zu laufen. Der Schnee war hoch, er versank mit beiden Beinen darin, bis zur Hüfte reichte er, sodass Anawak kaum vorankam. Er sah sich nach allen Seiten um, aber niemand lief mit ihm. Er war allein. Nur das Haus seiner Eltern lag ein Stück hinter ihm, mit verschlossener Tür, verdunkelt. Ein kalter Mond stand darüber, und mit einem Mal herrschte Totenstille.
Anawak blieb stehen.
Er überlegte, ob er zurück ins Haus gehen sollte, aber da war offenbar niemand mehr. Unheimlich und abstoßend erschien es ihm, ein Ort der Ungewissheit. Keine Menschenseele war zu sehen in der eisigen, mondbeschienenen Nacht, kein Laut erklang. Die Verheißung von den hungrigen Wölfen kam ihm in den Sinn, die darauf warteten, ihn bei lebendigem Leib zu fressen. Waren sie in dem Haus? Hatten sie schon ein Gemetzel angerichtet unter den Gästen? Aber nichts ließ darauf schließen. Cape Dorset und das Haus schienen auf geheimnisvolle Weise jenseits aller Naturgesetze zu liegen. Es war derselbe Platz, an dem eben noch seine Geburtstagsfeier stattgefunden hatte, aber zu einer anderen Zeit, in ferner Zukunft oder noch fernerer Vergangenheit. — Oder vielleicht stand die Zeit auch still, und er blickte auf ein gefrorenes Universum, in dem kein Leben möglich war.
Seine Angst gewann die Oberhand. Er drehte sich um und begann hinunter zum Wasser zu stapfen. Kein Pier wartete dort wie im echten Cape Dorset, sondern nur eine Eiskante. Das Paket war geschrumpft, er konnte es mühelos mit einer Hand greifen, und jetzt kam er auch viel besser voran, sodass er nach wenigen Schritten die Kante erreicht hatte.
Er sah hinaus.
Mondlicht schimmerte auf schwarzen kräuseligen Wellen und treibenden Eisplatten. Der Himmel war voller Sterne. Jemand rief seinen Namen. Die Stimme drang schwach aus einer Schneewehe herüber, und Anawak, hin-und hergerissen zwischen Furcht und Neugier, näherte sich mit zögernden Schritten, bis er sehen konnte, dass es gar keine Wehe war, sondern zwei eng beieinander liegende Körper, von Schnee überpudert. Es waren seine Eltern. Sie starrten mit leerem Blick zum Himmel und waren entweder tot oder außerstande, mit ihm zu sprechen oder ihn wahrzunehmen.
Ich bin erwachsen, dachte er. Ich muss dieses Paket auspacken.
Er betrachtete es in seiner Handfläche.
Winzig war es geworden. Er begann es auszuwickeln, aber im Innern war nur noch mehr Papier. Nichts kam zum Vorschein. Er rupfte das knitterige Zeug auseinander, zerknüllte Schicht um Schicht, warf es weg, bis es kein Päckchen mehr gab und keine reglos hingestreckten Eltern, sondern nur noch die Eiskante und das schwarze Wasser.
Ein gewaltiger Buckel teilte die Wellen und verschwand wieder.
Anawak wandte langsam den Kopf. Er erblickte ein kleines, schäbiges Haus, mehr eine Wellblechbaracke. Die Tür stand offen.
Sein Zuhause.
Nein, dachte er. Nein! Er begann zu weinen. Irgendetwas war schief gelaufen. Das war unmöglich sein Leben. Nicht sein Platz! So war das alles nicht geplant gewesen!
Er hockte im Schnee und starrte auf die Hütte. Er konnte nicht aufhören zu weinen. Namenloses Elend erfasste ihn. Sein Schluchzen zerriss ihm fast die Brust, hallte vom Himmel wider, erfüllte die ganze Welt mit seiner Klage, eine Welt, in der niemand außer ihm existierte.
Nein. Nein!
Licht.
Sein Zimmer in der Polar Lodge.
Aufrecht saß Anawak im Bett. Er zitterte am ganzen Körper. Sein Wecker zeigte 2.30 Uhr. Es dauerte eine Weile, bis er sich so weit beruhigt hatte, dass er aufstehen und den kleinen Kühlschrank öffnen konnte. Seine Zunge klebte am Gaumen. Er sah Wasser, Cola und Bier, griff nach einer Cola, öffnete sie und trank mit langen durstigen Schlucken. Die Dose in der Rechten trat er zum Fenster, zog den Vorhang beiseite und sah hinaus.
Das Hotel lag auf einer Anhöhe, sodass er den Ortsteil Kinngait und Teile der angrenzenden Viertel überblicken konnte. Es war klar und wolkenlos wie in seinem Traum, aber statt des unermesslichen Sternenhimmels lag nächtliches Zwielicht auf Cape Dorset und tauchte Häuser, Tundra, Schneeflächen und Meer in unwirkliches Rosagold. Es wurde nicht dunkel um diese Zeit, nur die Konturen erschienen weicher und die Farben sanfter.
Mit einem Mal wurde Anawak klar, wie schön es hier war. Er schaute verzaubert auf diesen unglaublichen Himmel, ließ seinen Blick über die Berge schweifen und über die Bucht. Das Eis der Tellik Bay schimmerte wie ausgegossenes Silber. Schwarz und bucklig lag Mallikjuaq vor der Küste wie ein schlafender Wal.
Er sah weiter hinaus und trank von Zeit zu Zeit einen Schluck aus seiner Dose.
Was sollte er tun?
Er erinnerte sich seiner Gefühle vor wenigen Tagen, als er mit Shoemaker und Delaware zusammengesessen hatte. Wie fremd ihm plötzlich die Station geworden war, Tofino, alles. Wie überall ein Zimmer zu fehlen schien, um sich vor der Welt zurückzuziehen. Etwas Bedeutungsvolles hatte sich angekündigt, davon war er überzeugt gewesen. Voller Hochgefühl und Furcht hatte er darauf gewartet, als solle die Verheißung über ihn kommen.
Stattdessen war sein Vater gestorben.
War es das? Dieses Ereignis von Bedeutung? Dass er in die Arktis hatte zurückkehren müssen, um seinen Vater zu beerdigen?
Sicher, er stand vor größeren Herausforderungen. Vor einer der größten, denen sich die Menschheit je ausgesetzt gesehen hatte. Er und einige wenige. Das war an Bedeutsamkeit kaum noch zu überbieten. Aber es hatte nichts mit seinem Leben zu tun. Sein Leben vollzog sich in einem anderen Gefüge. Tsunamis, Methankatastrophen und Seuchen spielten darin keine Rolle. Sein Leben hatte sich mit einer Todesbotschaft in den Vordergrund gedrängt. Und erstmals, seit sie ihn erreicht hatte, begann Anawak zu ahnen, dass sich ihm hier in Nunavut die Chance bot, Tod in neues Leben umzuwandeln. Er selber war tot gewesen. Er musste neu geboren werden.
Nach einer Weile zog er sich an, streifte seine gefütterte Mütze über beide Ohren und ging hinaus in die erleuchtete Nacht. Niemand außer ihm war unterwegs. Eine gute Stunde lief er durch den Ort, bis er neue Müdigkeit kommen fühlte, weit schwerer und freundlicher als die Betäubung durch den laufenden Fernseher. Er kehrte zurück in die warme Lodge, warf seine Kleidung achtlos auf den Boden, rollte sich im Bett zusammen und war eingeschlafen, kaum dass sein Kopf das Kissen berührte.
Am folgenden Morgen rief er Akesuk an.
»Hast du Lust, mit mir zu frühstücken?«, fragte er.
Sein Onkel schien überrascht.
»Mary-Ann und ich sitzen selber gerade beim Frühstück. Ich hatte nicht mit dir gerechnet.«
»Okay. Kein Problem.«
»Nein, warte mal … Wir haben eben erst angefangen. Warum kommst du nicht vorbei und lässt dir eine ordentliche Portion Rührei mit Schinken schmecken?«
»Gut. Bis gleich.«
Die Portion, die Mary-Ann für ihn auftischte, war wirklich ordentlich zu nennen. Sie war so ordentlich, dass Anawak vom Hinschauen satt wurde, aber er langte tapfer zu. Mary-Ann strahlte übers ganze Gesicht. Er fragte sich, was Akesuk ihr erzählt hatte. Irgendeinen triftigen Grund musste er wohl erfunden haben, warum Anawak ihr Abendessen ausgeschlagen hatte. Verstimmt schien sie nicht zu sein.
Es war seltsam, diese Hand zu ergreifen, die Akesuk und seine Frau ihm reichten. Sie zog ihn zurück in die Familie. Anawak wusste noch nicht, ob ihm das gefiel. Der Zauber der Mondnacht war verflogen, und seinen inneren Frieden hatte er bei weitem nicht mit Nunavut gemacht. Er beschloss, sich vorsichtig auf alles Weitere einzulassen.
Nach dem Frühstück räumte Mary-Ann das Geschirr ab und empfahl sich zu Einkäufen in den Ort. Akesuk drehte an den Knöpfen eines Transistorradios, lauschte eine Minute und sagte: »Das ist gut.«
»Was ist gut?«, fragte Anawak.
»IBC meldet gutes Wetter für die nächsten Tage. Man darf sie nicht zu sehr beim Wort nehmen, aber wenn nur die Hälfte davon stimmt, können wir aufs Land fahren.«
»Ihr wollt aufs Land?«
»Ja, für eine Weile. Morgen. Wenn dir danach ist, können wir heute was zusammen unternehmen. — Bei der Gelegenheit, was sind überhaupt deine Pläne? Oder willst du vorzeitig zurück nach Kanada?«
Der alte Fuchs hatte es geahnt.
Anawak verrührte umständlich Milch in seinem Kaffee.
»Ehrlich gesagt, gestern Abend stand ich kurz davor.«
»Das ist keine Überraschung«, konstatierte Akesuk trocken. »Und jetzt?«
Anawak zuckte die Achseln.
»Ich weiß nicht so recht. Ich dachte, vielleicht besuche ich Mallikjuaq oder fahre raus zum Inuksuk Point. — Ich fühle mich in Cape Dorset einfach nicht wohl, Iji. Nimm’s mir nicht krumm. Es ist nun mal kein Ort, an den man sich gerne erinnert mit einem … so einem …«
»Mit einem Vater wie deinem«, ergänzte sein Onkel. Er strich sich über den Schnurrbart und nickte. »Was mich wundert, ist, dass du überhaupt gekommen bist. Du hast 19 Jahre lang keinen Kontakt gehabt, zu niemandem von uns. Und jetzt bin ich der Letzte aus deiner Sippe. Ich habe angerufen, weil ich es für richtig hielt, dich zu informieren, aber ich hatte mich insgeheim damit abgefunden, dass wir dich hier nicht zu Gesicht bekommen werden. Warum also bist du hier?«
»Keine Ahnung, Iji. Nichts hat mich hergezogen. Eher glaube ich, dass Vancouver mich für eine Weile loswerden wollte.«
»Dummes Zeug.«
»An meinem Vater hat es jedenfalls nicht gelegen! Du weißt verdammt genau, dass ich ihm keine Träne nachweine.« Es klang unnötig schroff, aber er konnte es nicht ändern. »Und es wird auch nicht passieren.«
»Du bist zu hart.«
»Er hat falsch gelebt, Iji!«
Akesuk sah ihn lange an.
»Ja, dein Vater hat falsch gelebt, Leon. Aber ein richtiges Leben war damals nicht im Angebot. Das hast du vergessen zu erwähnen.«
Anawak schwieg.
Sein Onkel schlürfte geräuschvoll den letzten Rest aus seiner Kaffeetasse. Dann lächelte er unvermittelt. »Weißt du was? Ich mache dir einen Vorschlag. Mary-Ann und ich werden schon heute abreisen. Wir wollen diesmal ganz woandershin, in den Nordwesten nach Pond Inlet. — Und du kommst mit uns.«
Anawak starrte ihn an.
»Das geht nicht«, sagte er. »Ihr werdet wochenlang unterwegs sein. Ich kann unmöglich so lange fortbleiben.
— Abgesehen davon, dass ich es auch nicht will.« »Du verstehst mich falsch. Du kommst mit, und nach ein paar Tagen fliegst du alleine wieder zurück. Ich muss dir ja nicht überall die Hand halten, du bist erwachsen. In ein Flugzeug wirst du hoffentlich von alleine finden.«
»Viel zu viele Umstände, Iji, ich …«
»Du bereitest mir erhebliche Langeweile mit deinen Umständen. Was soll umständlich daran sein, dich mit ins Eis zu nehmen? Wir schließen uns da oben einer Gruppe an. Alles ist vorbereitet, und für deinen zivilisierten Hintern finden wir schon noch ein Plätzchen.« Er zwinkerte ihm zu. »Aber bilde dir bloß nicht ein, es wäre eine reine Vergnügungsfahrt. Du wirst ebenso zur Bärenwache eingeteilt wie alle anderen.«
Anawak lehnte sich zurück und grübelte darüber nach. Die Einladung erwischte ihn unvorbereitet. Auf diesen weiteren Tag hatte er sich eingestellt. Auf diesen einen. Nicht auf drei oder vier.
Wie sollte er das Li klar machen?
Andererseits hatte Li ihm zu verstehen gegeben, dass er so lange fortbleiben könne, wie er wolle.
Pond Inlet. Drei Tage.
So viel war das eigentlich nicht. Der Flug von Cape Dorset würde maximal zwei Stunden in Anspruch nehmen. Drei Tage auf dem Land, zwei Stunden zurück, direkt nach Iqaluit.
»Und was versprichst du dir davon?«, fragte er.
Akesuk lachte.
»Na, was schon? Dich heimzubringen, Junge.«
Auf dem Land.
In diesen drei Worten drückte sich die ganze Lebensphilosophie der Inuit aus. Auf dem Land zu sein bedeutete, der Siedlung zu entfliehen und die Sommertage in Zeltcamps zu verbringen, an Stranden oder nahe der Meereiskante, um Narwale zu erlegen, Robben und Walrosse zu jagen und um zu fischen. Der Walfang für den Eigenbedarf war den Inuit gestattet. Man nahm mit, was man für ein Überleben jenseits der Zivilisation brauchte, lud Kleidung, Ausrüstung und Jagdutensilien auf ATVs, Schlitten oder Boote. Wild war das Land, auf das man sich begab, ein riesiges Areal, das Menschen seit Jahrtausenden durchstreift hatten, bevor eine unerwünschte Entwicklung sie zwang, sesshaft zu werden.
Auf dem Land gab es keine Zeit, und die fest gefügte Weltordnung der Städte und Siedlungen hörte auf zu existieren. Entfernungen wurden nicht in Kilometern oder Meilen ausgedrückt, sondern in Zeiteinheiten. Zwei Tage war es bis hierhin, ein halber Tag bis dorthin, vielleicht auch einer. Welchen Sinn hatte es, von fünfzig Kilometern zu sprechen, wenn es mittendrin unvorhergesehene Barrieren zu überwinden gab, Packeis und Gräben? Die Natur unterwarf sich keiner Planung. Auf dem Land lebte man ausschließlich in der Gegenwart, weil schon der nächste Moment voller Unwägbarkeiten steckte. Das Land folgte seinem eigenen Rhythmus, dem man sich willig unterwarf. In Jahrtausenden des Nomadentums hatten die Inuit gelernt, dass in dieser Unterwerfung die Beherrschung lag. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hatten sie ungebunden das Land durchstreift, und immer noch entsprach dieses Leben weit mehr ihrer Natur als ein Dasein in festen Häusern und an festen Plätzen.
Mittlerweile, das wurde Anawak mit jeder Minute klarer, hatte sich einiges geändert. Dass die Welt auch von den Inuit erwartete, geregelten Tätigkeiten nachzugehen, um ihren Platz in einer industrialisierten Gesellschaft zu behaupten, schien Akzeptanz gefunden zu haben. Aber im Gegensatz zu damals, als Anawak ein Kind gewesen war, hatte die Welt begonnen, die Inuit zu akzeptieren. Sie gab ihnen etwas von dem zurück, was sie ihnen genommen hatte, und vor allem gab sie ihnen eine Perspektive. Westliche Standards fanden darin ebenso ihren Platz wie uralte Traditionen.
Anawak hatte sein Land verlassen, als es kein Land mehr war, sondern eine Region ohne Wertgefühl und eigene Identität. Er war geflohen mit dem Bild eines zutiefst deprimierten, aller Kraft beraubten Volkes, dem so lange der Respekt verweigert worden war, bis es selber keinen mehr vor sich hatte. Wenn damals überhaupt jemand dieses Bild hätte korrigieren können, dann sein Vater. Aber ausgerechnet der war maßgeblich dafür verantwortlich. Der Mann, der nun auf dem kleinen Friedhof von Cape Dorset lag, war zum Symbol der Resignation geworden — ein zerstörter, ständig alkoholisierter, greinender Choleriker, dem alles misslungen war, zuletzt sogar, seine Familie zu schützen. Anawak hatte an Bord des Schiffes gestanden, das ihn fortbrachte, und als Cape Dorset entrückte, hatte er diesen einen Satz in den Nebel hinausgeschrien, den niemand außer ihm hören konnte und der ihm jetzt noch in den Ohren dröhnte, gedacht für seinen Vater, bezogen auf sein ganzes Volk:
»Warum bringt ihr euch nicht alle um, damit sich niemand mehr für euch schämen muss?«