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»Nicht wirklich.« Anawak schüttelte den Kopf. »Der gute Sal ist eigentlich ganz in Ordnung. Lediglich ein bisschen unvertraut mit besserwisserischen Zivilisten.«
Der Tunnel mündete in eine Halle, noch höher und länger als das Hangardeck. Sie betraten ein künstliches Gestade, das zu einem tiefer gelegenen, holzgeplankten Becken abfiel. Wie ein riesiger, ausgelaufener Swimmingpool lag es vor ihnen. Eine rechteckige, gläserne Kuppel war in der Mitte eingelassen, bestehend aus zwei aneinander grenzenden Schotts. Seitlich davon erhob sich ein raumgreifendes Bassin, dessen kräuselige Wellen die Hallenbeleuchtung spiegelten. Crowe sah schlanke, torpedoförmige Körper unter der Oberfläche dahinziehen.
»Delphine«, rief sie überrascht.
»Ja.« Peak nickte. »Unsere Spezialstaffel.«
Ihr Blick wanderte nach oben. Auch hier lief ein verzweigtes Schienensystem über die Decke. Futuristisch aussehende Gebilde hingen darin, als hätte jemand überdimensionierte Sportwagen mit Tauchbooten und Flugzeugen gekreuzt. Beiderseits des Beckens setzte sich das Gestade in Form von pierartigen Laufgängen fort.
Boxen für Ausrüstung und Material stapelten sich entlang der Wände. Dazwischen sah Crowe Sonden, Messgeräte und Tauchanzüge in offenen Spinden. In regelmäßigen Abständen führten Steigleitern zum Hallenboden.
Vier Zodiacs lagen im vorderen Beckenbereich auf dem Trockenen.
»Da hat jemand den Stöpsel gezogen, was?«
»Ja, gestern Abend. Der Stöpsel ist übrigens dort.« Peak deutete auf die Kuppel. Crowe schätzte sie auf mindestens acht mal zehn Meter. »Die Schleuse, unser Tor ins Meer. Sie ist doppelt gesichert, im Hallenboden mit Glasschotts, in der Außenhülle mit massiven Stahlschotts. Dazwischen erstreckt sich ein Schacht von drei Meter Höhe. Das System ist narrensicher, es funktioniert wechselseitig. Sobald ein Boot im Schacht ist, schließen wir die Glasabdeckung und öffnen die Stahlschotts. Will es zurück ins Schiffsinnere, verfahren wir genauso. Das Boot steigt in die Schleuse, die Stahlschotts fahren zu, und wir können durch die Glasabdeckung sehen, ob irgendwas mit hineingelangt ist, das uns nicht gefällt. Gleichzeitig wird das Wasser einer chemischen Analyse unterzogen. Das Schleuseninnere ist bestückt mit Sensoren, die es auf Verunreinigungen und Toxide untersuchen. Die Ergebnisse werden auf zwei Displays übertragen, eines am Schleusenrand und eines am Kontrollpult. Etwa eine Minute lang ist das Boot im Schacht gefangen. Erst wenn alles im grünen Bereich liegt, öffnet sich das Glasdach und entlässt es zurück ins Deck. Auf gleiche Weise lassen wir die Delphine raus und rein. Kommen Sie.«
Sie schritten den Steuerbordpier entlang. Auf halber Länge ragte eine Konsole aus dem Boden, dicht an die Kante gesetzt und bestückt mit Monitoren und diversen Bedienfunktionen. Ein knochiger Mann mit stechenden Augen und ausladendem Schnauzbart kam ihnen aus einer Gruppe Uniformierter entgegen.
»Colonel Luther Roscovitz«, stellte Peak ihn vor. »Leiter der Tauchstation.«
»Sie sind Miss Alien, stimmt’s?« Roscovitz entblößte lange, gelbliche Zähne. »Willkommen auf der Kreuzfahrt. Wo haben Sie so lange gesteckt?«
»Mein Raumschiff hatte Verspätung.« Crowe sah sich um. »Schickes Pult.«
»Es erfüllt seinen Zweck. Wir nutzen es zur Bedienung der Schleuse und zum Hoch— und Runterfahren der Tauchboote. Außerdem werden die Pumpen von hier gesteuert, um das Deck unter Wasser zu setzen.«
Crowe rief sich in Erinnerung, was sie über die Independence wusste. Sie machte eine Kopfbewegung zur heckwärtigen Stahlwand, die das Deck abschloss. »Das ist ein Schott, nicht wahr?«
»Genau«, schmunzelte Roscovitz. »Wir können die Heckklappe der Independence absenken und das Schiff tiefer legen, indem wir die achterlichen Ballasttanks fluten. Meerwasser dringt ein, und schon haben wir einen hübschen Hafen, komplett mit Einfahrt.«
»Netter Arbeitsplatz. Gefällt mir.«
»Täuschen Sie sich nicht. Normalerweise drängen sich hier Landungsboote aneinander, Schwerlastschlepper und Hoovercrafts. Aus einer großen Halle wird im Nu ein enger Affenstall. Aber für diese Mission mussten wir ohnehin alles umkrempeln. Sie erfordert keine Landungsboote. Wir brauchten ein Schiff, das schwer genug ist, um nicht durch irgendwelches Viehzeug versenkt zu werden, Riesenwellen verkraften kann, über das komplette Angebot moderner Kommunikationstechnologie verfügt und Platz bietet für Fluggerät und eine Tauchbasis. Es war schieres Glück, dass die LHD-8 gerade im Bau war. Das größte und mächtigste amphibische Schiff aller Zeiten, so gut wie fertig gestellt, plus die Möglichkeit, ein paar Veränderungen vorzunehmen, besser hätte es nicht kommen können. Die Werft in Mississippi ist enorm fortschrittlich. Sie konzipierten das Welldeck in kürzester Zeit um, bauten Schleusen ein und veränderten das Pumpsystem. Jetzt können wir das Becken fluten, ohne die Klappe zu öffnen. Wir brauchen sie ohnehin nur für den Fall, dass wir mit den Zodiacs raus wollen.«
Crowe sah ins Becken hinab. Zwei Leute in Neoprenanzügen standen am Rand des Bassins, eine zierliche, rothaarige Frau und ein athletisch gebauter Riese mit langer, schwarzer Mähne. Sie beobachtete, wie eines der Tiere zum Rand geschwommen kam und den Kopf aus dem Wasser steckte. Es gab keckernde Geräusche von sich. Der Riese strich ihm mit der Hand über die glatte Stirn. Einige Sekunden ließ sich der Delphin die Liebkosung gefallen, dann tauchte er wieder ab.
»Und wer ist das?«, wollte Crowe wissen.
»Sie kümmern sich um die Delphinstaffel«, sagte Anawak. »Alicia Delaware und …«Er zögerte. »Und Greywolf.«
»Greywolf?«
»Ja. Oder auch Jack.« Anawak zuckte die Achseln.
»Nennen Sie ihn, wie Sie wollen. Er hört auf beides.«
»Wozu ist die Staffel gut?«
»Lebende Kameras. Sie bannen Film auf Magnetband, wenn sie draußen unterwegs sind. Der Hauptgrund ist allerdings, dass Delphine weit ausgeprägtere Sinne besitzen als wir. Ihr Sonar erfasst andere Lebewesen, lange bevor unsere Systeme sie sehen. Mit einigen der Tiere hat Jack schon während seiner aktiven Zeit gearbeitet. Sie beherrschen ein ausgeprägtes Vokabular.
Verschiedene Pfiffe. Einen für Orca, einen für Grauwal, einen anderen für Buckelwal, und so weiter und so fort. Sie können nahezu jedes größere Lebewesen, das ihnen bekannt ist, identifizieren, außerdem Schwärme klassifizieren, und was sie nicht kennen, melden sie als unbekannte Lebensform.«
»Beachtlich.« Crowe lächelte. »Und der schöne Mann da unten mit den langen Haaren versteht tatsächlich die Sprache der Delphine?«
Anawak nickte. »Besser als unsere. Manchmal.«
Das Treffen fand im Flagg-Besprechungs-und Lageraum gegenüber dem LFOC statt. Die meisten Anwesenden kannte Crowe inzwischen persönlich oder von den Videokonferenzen. Nun lernte sie noch Murray Shankar kennen, den Chefakustiker von SOSUS, Karen Weaver und Mick Rubin, außerdem den Skipper der Independence, einen drahtigen, weißhaarigen Mann namens Craig C. Buchanan, der aussah, als habe er das Militär erfunden, sowie Floyd Anderson, den Ersten Offizier. Sie schüttelte eifrig Hände und stellte fest, dass sie Anderson mit seinem Bullennacken und den schwarzen Knopfaugen nicht mochte. Als Letzter begrüßte sie ein fettleibiger Mann, der einige Minuten zu spät kam und sehr stark schwitzte. Er trug eine Baseballkappe und Turnschuhe. Über seinen Bauch spannte sich ein knallgelbes T-Shirt mit der Aufschrift: KÜSS mich, ich bin ein Prinz.
»Jack Vanderbilt«, stellte er sich vor. »Ehrlich gesagt, die Mutter von E. T. hab ich mir anders vorgestellt.«
»Tochter wäre charmanter gewesen«, erwiderte Crowe trocken.
»Erwarten Sie keine Komplimente von einem, der aussieht wie ich.« Vanderbilt gluckste. »Ist das nicht wunderbar, Dr. Crowe? Sie haben endlich Gelegenheit, Ihr ganzes nutzlos in den Weltraum abgestrahltes Hoffen und Bangen in freudige Erwartung umzusetzen.«
Alle suchten ihre Plätze auf. Li hielt eine kleine Ansprache, in der sie zusammenfasste, was ohnehin jeder wusste. Dass die Vereinigten Staaten einen Antrag in die UNO eingebracht und im Verlauf einer geheimen Sitzung einstimmig das Mandat erhalten hatten, die logistische und technologische Führungsrolle im Kampf gegen die unbekannte Macht zu übernehmen. Japan und einige Länder Europas waren inzwischen zu ähnlichen Schlüssen gelangt wie das Chateau-Team: Nicht Menschen bedrohten die Menschheit, sondern eine fremde Lebensform. So oder so schien jeder erleichtert, dass man die Vereinigten Staaten nicht lange hatte bitten müssen.
»Einiges spricht dafür, dass wir unmittelbar vor der Entdeckung eines Mittels stehen, das die Menschheit gegen die Toxide der Killeralgen immunisiert, allerdings bekommen wir die Nebenwirkungen nicht unter Kontrolle, und anderswo tauchen Krabben mit mutierten Erregern auf. In den meisten der stark betroffenen Länder ist die Infrastruktur zusammengebrochen. Amerika hat die Verantwortung gerne übernommen, aber unglücklicherweise müssen wir erkennen, dass wir kaum in der Lage sind, unsere eigenen Küsten zu schützen. Währenddessen sammeln sich Würmer an den Kontinentalhängen und — viel schlimmer — im Umfeld vulkanischer Inseln wie La Palma, wo Dr. Frost und Dr. Bohrmann gerade versuchen, die befallenen Hänge mit einer Art Tiefseestaubsauger zu säubern. Was die Wale angeht: Sonarattacken richten nichts aus bei Tieren, deren Natur von einem Fremdorganismus vergewaltigt wird. Aber selbst wenn, würden wir damit weder den Methan-GAU verhindern noch den Golfstrom wieder in Schwung bringen. Die Bekämpfung von Symptomen löst keine Probleme, und zur Ursache konnten wir bislang nicht vorstoßen, nachdem Unterwasseroperationen systematisch sabotiert werden. Wir erlangen keine Erkenntnisse mehr über das, was unten geschieht. Unterdessen geht ein Tiefseekabel nach dem anderen verloren. Die niederschmetternde Bilanz in diesem Krieg ist, dass wir blind und taub geworden sind. Sagen wir ruhig, wir haben ihn verloren.« Li machte eine Pause. »Wen sollen wir angreifen? Was nützt jeder Kampf, wenn La Palma abrutscht und Wasserberge die Küsten Amerikas, Afrikas und Europas überrollen? — Kurz, wir kommen keinen Schritt weiter, solange wir unseren Gegner nicht besser kennen, und wir kennen ihn überhaupt nicht. Der Sinn unserer Mission ist darum nicht der Kampf, sondern die Verhandlung. Wir wollen Kontakt aufnehmen zu der fremden Lebensform und sie dazu bringen, den Terror gegen die menschliche Rasse zu stoppen. Meiner Erfahrung nach lässt sich mit jedem Gegner verhandeln, und vieles deutet darauf hin, dass er sich genau hier aufhält — in der Grönländischen See.« Sie lächelte. »Unsere Hoffnung ruht auf einer friedlichen Lösung. Ich freue mich jedenfalls, als letztes Mitglied unserer Expedition Dr. Samantha Crowe willkommen zu heißen.«
Crowe stützte die Ellbogen auf den Konferenztisch.
»Danke für die nette Begrüßung.« Sie warf Vanderbilt einen kurzen Blick zu. »Wie Sie vielleicht wissen, war SETI bis heute nicht sonderlich erfolgreich. Angesichts einer räumlichen Ausdehnung von über zehn Milliarden Lichtjahren, die wir für das beobachtbare Universum annehmen, ist alles denkbarer, als zufällig in die richtige Richtung zu senden und jemanden zu erreichen, der gerade zuhört. Insofern sind wir diesmal besser dran. Erstens spricht einiges dafür, dass es die anderen gibt. Zweitens haben wir eine ungefähre Vorstellung davon, wo sie leben, nämlich irgendwo in den Ozeanen und wahrscheinlich direkt unter uns. Aber selbst wenn sie am Südpol hausen würden, hätten wir sie eingegrenzt. Die Meere können sie nicht verlassen, und ein starker Schallimpuls aus der Arktis wird noch jenseits von Afrika gehört werden. Das alles ist ermutigend. — Der wichtigste Punkt scheint mir jedoch, dass wir bereits Kontakt haben. Seit Jahrzehnten schicken wir Botschaften in ihren Lebensraum. Unglücklicherweise haben sie dessen Zerstörung zum Inhalt, also antworten sie nicht mit Gesandten, sondern überziehen uns kommentarlos mit Terror. Das ist in höchstem Maße lästig. Machen wir uns trotzdem vorübergehend frei von negativen Gefühlen und sehen wir in dem Terror eine Chance.«
»Eine Chance?«, echote Peak.
»Ja. Wir müssen ihn als das nehmen, was er ist — als Botschaft einer fremden Lebensform, aus der wir auf ihr Denken schließen können.«
Sie legte die Hand auf einen Stapel Kladden.
»Ich habe unsere Vorgehensweise für Sie zusammengefasst. Zugleich muss ich Ihre Hoffnungen auf einen schnellen Erfolg dämpfen. Jeder von Ihnen wird sich in den letzten Wochen über der Frage gegruselt haben, wer eigentlich da unten sitzt und uns die sieben Plagen schickt. Sie kennen die einschlägigen Filme: Unheimliche Begegnung der Dritten Art, E. T. Alien, Independence Day, The Abyss, Contact, und so weiter. Entweder haben wir es darin mit Monstern zu tun oder mit Heiligen. Denken Sie alleine an die Schlusssequenz von Unheimliche Begegnung: Viele Menschen finden Trost in der Vorstellung, dass überlegene Himmelswesen zu ihnen herabsteigen, um sie einer besseren, lichten Zukunft entgegenzuführen. Sollte das irgendjemandem bekannt vorkommen … Ja, die Sache hat unter der Oberfläche eine religiöse Dimension. Auch SETI hat diese Dimension. Und sie macht uns blind für die schlichte Andersartigkeit fremder Intelligenzen.«
Crowe ließ die Worte einen Moment wirken. Sie hatte lange überlegt, wie sie das Projekt anpacken sollte. Schließlich war sie zu der Überzeugung gelangt, dass es von vorneherein scheitern würde, wenn es ihr nicht gelang, den Teilnehmern der Expedition die Flausen zu nehmen.
»Was ich meine, ist, dass eine seriöse Beschäftigung mit der Andersartigkeit fremder Kulturen in der Science-Fiction so gut wie nicht stattfindet. Tatsächlich tauchen Außerirdische fast immer als ins Groteske übersteigerter Ausdruck menschlicher Hoffnungen und Ängste auf. Die Aliens in Unheimliche Begegnung symbolisieren unsere Sehnsucht nach dem verloren gegangenen Paradies. Im Grunde sind sie Engel, und so verhalten sie sich auch. Einige Auserwählte werden zum Licht geführt. Eine etwaige Kultur dieser Außerirdischen interessiert dabei niemanden. Sie bedienen simpelste religiöse Vorstellungen. Alles an ihnen ist zutiefst menschlich, weil menschgewollt, bis hin zur Dramaturgie ihres Auftretens — weißes, gleißendes Licht, ätherische Erscheinungen, ganz so, wie wir’s gerne hätten. — Ebenso wenig sind die Außerirdischen in Independence Day wirklich außerirdisch. Sie sind böse, indem sie unsere Vorstellungen von Bösartigkeit erfüllen. Auch ihnen wird keine wirkliche Andersartigkeit zugestanden. Gut und böse sind von Menschen postulierte Werte. Kaum eine Fiktion findet Interesse, die sich darüber hinwegsetzt. Wir tun uns nun mal schwer mit der Vorstellung, dass unsere Werte nicht auch die Werte anderer sein sollen und dass deren Vorstellungen von Gut und Böse vielleicht nicht den unseren entsprechen könnten. Dafür müssen Sie nicht mal in den Weltraum horchen. Jede Nation, jede menschliche Kultur hat ihre eigenen Aliens vor der Haustür, nämlich immer die jenseits der Grenze. — Bevor wir das nicht verinnerlicht haben, werden wir kaum eine Kommunikation mit einer fremden Intelligenz zuwege bringen. Denn aller Wahrscheinlichkeit nach wird es keine gemeinsame Wertebasis geben, kein universelles Gut und Böse, möglicherweise nicht einmal kompatible Sinnesapparate, über die man sich austauschen könnte.«
Crowe gab den Stapel Kladden an Johanson weiter, der neben ihr saß, und bat darum, die Exemplare zu verteilen.
»Wenn wir beginnen wollen, über wirkliche Kontakte mit Außerirdischen nachzudenken, sollten wir uns vielleicht einen Ameisenstaat vorstellen. Vorweg, Ameisen sind hoch organisiert, nicht wirklich intelligent. Aber unterstellen wir, sie wären es. Dann stünden wir vor der Aufgabe, uns mit einer Kollektivintelligenz auszutauschen, die kranke und verletzte Artgenossen verspeist, ohne es moralisch anfechtbar zu finden, die Kriege führt, ohne unsere Idee von Frieden zu verstehen, für die individuelle Fortpflanzung etwas vollkommen Unerhörtes darstellt und die den Austausch und Verzehr von Exkrementen wie ein Sakrament behandelt — kurz, die in jeder Hinsicht vollkommen anders funktioniert, die aber funktioniert! Und nun gehen Sie noch einen Schritt weiter: Stellen Sie sich vor, dass wir eine fremde Intelligenz vielleicht nicht einmal als solche erkennen! Leon hier zum Beispiel würde gerne wissen, ob Delphine intelligent sind, also führt er aufwändige Tests durch, aber gibt ihm das Gewissheit? Und umgekehrt, wie sehen uns die anderen? Die Yrr bekämpfen uns, aber halten sie uns für intelligent?
— Ich hoffe, ich habe mich klar ausgedrückt. Was immer wir hier tun: Eine Annäherung an die Yrr wird uns nicht gelingen, solange wir unser Werteverständnis als Nabel der Welt und des Universums betrachten. Wir müssen uns auf das reduzieren, was wir de facto sind — eine von unzähligen möglichen Lebensformen ohne besondere Ansprüche an das große Ganze.«
Crowe bemerkte, dass Lis Blick abschätzend auf Johanson ruhte. Es kam ihr vor, als versuche sie, in seinen Kopf zu kriechen. Interessante Konstellationen an Bord, dachte sie. Sie fing einen Blickkontakt zwischen Jack O’Bannon und Alicia Delaware auf und wusste im selben Augenblick, dass die beiden etwas miteinander hatten.
»Dr. Crowe«, sagte Vanderbilt, während er sein Exemplar der Ausführungen durchblätterte. »Was ist denn Ihrer Meinung nach überhaupt Intelligenz?«
Er stellte die Frage wie eine Falle.
»Ein Glücksfall«, sagte Crowe.
»Ein Glücksfall? Finden Sie?«
»Das Resultat vieler fein aufeinander abgestimmter Bedingungen. Wie viele Definitionen wollen Sie hören? Einige meinen, Intelligenz sei das, was in einer Kultur als wesentlich eingeschätzt wird. Genau da liegt der Hase im Pfeffer. Es gibt mindestens so viele Definitionen wie Kulturen und Mentalitäten. Die einen erforschen die grundlegenden Prozesse geistiger Leistung, andere versuchen Intelligenz statistisch zu messen. Dann die Frage, ist sie angeboren oder erworben? Zu Beginn des 20. Jahrhunderts vertrat man die Ansicht, Intelligenz spiegele sich in der Art und Weise, wie eine spezifische Situation bewältigt wird. Einige greifen das heute wieder auf und definieren Intelligenz als Anpassungsfähigkeit an die Erfordernisse einer sich wandelnden Umgebung. Demnach wäre sie nicht angeboren, sondern erlernt. Viele halten dagegen, Intelligenz sei im menschlichen Konzept verankert und eine angeborene Fähigkeit, die uns hilft, unser Denken auf immer neue Situationen einzustellen. Ihrer Meinung nach ist Intelligenz die Fähigkeit, aus Erfahrung zu lernen und sich den Erfordernissen der Umgebung anzupassen. Und dann gibt es noch die schöne Definition, Intelligenz sei die Fähigkeit zu hinterfragen, was Intelligenz sei.«
Vanderbilt nickte langsam. »Verstehe. Das heißt, Sie wissen es nicht.«
Crowe grinste. »Nun, gestatten Sie mir eine Bemerkung im Hinblick auf Ihr T-Shirt, Mr. Vanderbilt. — Nur an der äußeren Erscheinung wird man ein intelligentes Wesen wahrscheinlich nicht als solches erkennen.«
Gelächter brandete rings um den Tisch auf und ebbte schnell wieder ab. Vanderbilt starrte sie an.
Dann grinste auch er. »Wo Sie Recht haben, sollen Sie Recht behalten«, sagte er.
Nachdem das Eis gebrochen war, kamen sie schnell voran. Crowe skizzierte die nächsten Schritte. Sie hatte das Konzept in den vergangenen Wochen zusammen mit Murray Shankar, Judith Li, Leon Anawak und einigen NASA-Leuten aus dem Boden gestampft. Es basierte auf den wenigen Versuchen zur Kontaktaufnahme mit außerirdischen Lebensformen, die es bislang gegeben hatte.
»Der Weltraum macht es uns leicht«, erklärte Crowe. »Man kann im Mikrowellenbereich ungeheure Datenmengen gezielt verschicken. Licht ist gut sichtbar und reist mit 300000 Sekundenkilometern. Sie brauchen keine Drähte und Kabel. Unter Wasser ist alles anders, weil die Energie kurzwelliger Signale von den Molekülen absorbiert wird und langwellige Signale riesige Antennen erfordern würden. Kommunikation via Licht funktioniert zwar, aber nicht auf größere Distanzen. Bleibt die Akustik. Aber auch die birgt ein Problem, das wir Nachhall-Effekt nennen — akustische Signale werden an allen möglichen Stellen reflektiert, was Interferenzen zur Folge hat. Die Botschaft wird von sich selber überlagert und unverständlich. Um das zu vermeiden, bedienen wir uns eines speziellen Modems.«
»Das Prinzip haben wir den Meeressäugern abgeguckt«, sagte Anawak. »Delphine nutzen es, indem sie Nachhall und Interferenzen gewissermaßen austricksen: Sie singen.«
»Ich dachte, das tun nur Wale«, sagte Peak.
»Dass Wale singen, ist eine menschliche Interpretation«, erwiderte Anawak. »Sie haben möglicherweise nicht mal eine Vorstellung von Musik. Aber Sam meint etwas anderes. Singen heißt in diesem Fall, dass die Tiere unablässig ihre Frequenz und ihr Obertonspektrum modulieren. Damit schließen sie nicht nur Interferenzen aus, sie erweitern auch erheblich das Potenzial zur Übermittlung digitalisierter Information unter Wasser. Wir benutzen also ein Modem, das ebenfalls singt. Im Augenblick schaffen wir 30 KB bei einer Reichweite von drei Kilometern, das entspricht der halben Leistung einer ISDN-Leitung. Es reicht, um sogar Bilder in hoher Qualität zu übertragen.«
»Und was erzählen wir denen?«, fragte Peak.
»Die Gesetze der Physik, der kosmische Code, liegen in Form von Mathematik vor«, sagte Crowe. »Kosmische Ordnung hat die Evolution von Bewusstsein ermöglicht und es in die Lage versetzt, seinerseits die Mathematik neu zu erschaffen, um auf kompakte und kreative Weise den eigenen Ursprung erklären zu können. Mathematik ist die einzige universelle Sprache, die jedes intelligente Wesen versteht, das innerhalb der gültigen physikalischen Rahmenbedingungen existiert, und die werden wir benutzen.«
»Was wollen Sie tun? Mathematikaufgaben stellen?«
»Nein, Gedanken in Mathematik verpacken. 1974 haben wir ein hoch energiereiches irdisches Radiosignal gebündelt und in einen Kugelsternhaufen im Sternbild Herkules geschickt. Wir mussten einen Weg finden, die Botschaft so zu verschlüsseln, dass sie auf einem fremden Planeten verstanden wird, und vielleicht waren wir ein bisschen übereifrig — man muss schon sehr weit entwickelt sein, um den Code zu knacken. Aber mit mathematischen Methoden funktioniert es. Insgesamt verschickten wir 1679 Zeichen im Binärsystem, also Punkt und Strich wie beim Morsen. Jetzt wird’s vertrackt. Ein Mathematiker weiß die Zahl 1679 zu interpretieren, weil sie nur aus dem Produkt von 23 und 73 gebildet werden kann, beides Primzahlen, die nur durch l oder sich selbst geteilt werden können. Damit versteht der Empfänger schon mal die Basis menschlicher Zahlensysteme. Die Anordnung der 1679 Zeichen erfolgte in 73 Spalten zu je 23 Zeichen, und so weiter. Sie sehen, man kann viel unterbringen in ein bisschen Mathematik, und wenn Sie nun Punkt und Strich in Schwarz und Weiß umwandeln — oh Wunder! —, erhalten Sie ein Muster.«
Sie hielt ein Blatt mit einer Grafik hoch. Der Eindruck war der eines grob gepixelten Computerausdrucks. Manches wirkte abstrakt, anderes ließ deutliche Formen erkennen.
»Die obersten Zeilen geben Auskunft über die Zahlen l bis 10 und damit über unser Rechensystem. Darunter kommen die Ordnungszahlen chemischer Elemente: Wasserstoff, Kohlenstoff, Stickstoff, Sauerstoff und Phosphor. Sie sind von wesentlicher Bedeutung für unseren Planeten und das irdische Leben. Danach geht’s weiter mit einer umfangreichen Aufschlüsselung irdischer Biochemie, Formeln von Zuckern und Basen, Struktur der Doppelhelix, und so weiter. Der Umriss im unteren Drittel zeigt einen Menschen, direkt verbunden mit der DNA-Struktur, was Auskünfte über die hiesige Evolution erteilt. Ein außerirdischer Empfänger wird sich kaum mit irdischen Maßeinheiten auskennen, also haben wir die durchschnittliche Körpergröße eines Menschen über die Wellenlänge der übertragenen Radiosignale ausgedrückt.
Dann folgt noch eine Darstellung unseres Sonnensystems, und zum guten Schluss skizzierten wir Aussehen, Arbeitsweise und Größe des Arecibo-Teleskops, von dem das alles abgeschickt wurde.«
»Hübsche Einladung, eben mal herzufliegen und uns aufzufressen«, bemerkte Vanderbilt.
»Ja, damit hat uns Ihre Behörde schon immer in den Ohren gelegen. Und jedes Mal haben wir geantwortet, dass es dieser Einladung nicht bedarf. Seit Jahrzehnten werden Radiowellen in den Weltraum abgestrahlt. Unser gesamter Funkverkehr, auch der geheimdienstliche. Man muss diese Wellen nicht entziffern, um zu begreifen, dass sie nur von einer technischen Zivilisation stammen können.« Crowe legte das Diagramm aus der Hand. »Die Arecibo-Botschaft wird 26000 Jahre unterwegs sein, also erhalten wir die Antwort frühestens in 52000 Jahren. Ich kann Sie beruhigen, diesmal geht’s schneller. Wir werden mehrstufig vorgehen. Unsere erste Botschaft wird einfach sein, tatsächlich nur zwei Mathematikaufgaben. Wenn die da unten Sportsgeist haben, antworten sie. Dieser erste Austausch hat die Funktion, die Existenz der Yrr nachzuweisen und festzustellen, ob ein Dialog überhaupt zustande kommen kann.«
»Warum sollten sie antworten?«, fragte Greywolf. »Sie wissen doch schon alles über uns.«
»Sie wissen vielleicht einiges, aber nicht unbedingt das Wichtigste, nämlich dass wir intelligent sind.«
»Wie bitte?« Vanderbilt schüttelte den Kopf. »Die zerstören unsere Schiffe! Also wissen sie, dass wir so was bauen können. Wie sollten sie an unserer Intelligenz zweifeln?«
»Dass wir technische Konstruktionen herstellen, ist kein Beweis für Intelligenz. Werfen Sie einen Blick auf einen Termitenhügel — eine architektonische Glanzleistung.«
»Das ist was anderes.«
»Kommen Sie runter von Ihrem hohen Ross. Sollte es zutreffen, dass die Kultur der Yrr, wie Dr. Johanson sagt, einzig auf Biologie fußt, müssen wir bezweifeln, dass sie uns gezielten und strukturierten Denkens überhaupt für fähig halten.«
»Sie meinen, die halten uns für …« Vanderbilt verzog angewidert die Lippen. »Tiere?«
»Für Schädlinge vielleicht.«
»Pilzbefall«, grinste Delaware. »Vielleicht haben wir es ja mit Kammerjägern zu tun.«
»Sehen Sie, ich habe mich der Mühe unterzogen, deren Denkstruktur zu ergründen und daraus auf ihre Lebensweise zu schließen«, sagte Crowe. »Ich weiß, das ist alles furchtbar spekulativ, aber irgendwie müssen wir unsere Versuche der Kontaktaufnahme ja eingrenzen. Ich habe also darüber nachgedacht, warum den vielen kriegerischen Kontakten ihrerseits kein einziger diplomatischer vorausging. Es kann heißen, dass sie keinen Wert auf Diplomatie legen. Es kann aber auch bedeuten, dass ihnen gar nicht erst der Gedanke gekommen ist. Gut, auch ein Heer roter Wanderameisen würde mit einem Tier, über das sie herfallen, keine diplomatischen Höflichkeiten austauschen. Allerdings folgen Ameisen ausgeklügelten Instinkten. Die Yrr hingegen weisen sich durch planerisches Vorgehen aus, das von Erkenntnisfähigkeit geprägt ist. Sie entwickeln kreative Strategien. Wenn sie also intelligent und sich ihrer Intelligenz bewusst sind, scheint das keineswegs einherzugehen mit gängigen Vorstellungen von Moral und Ethik, Gut und Böse. In ihrer Logik ist es vielleicht nur konsequent, unsere Spezies mit aller Härte zu bekämpfen. Und solange wir ihnen keinen Grund geben, diese Konsequenz zu überdenken, werden sie es auch nicht tun.«
»Wozu überhaupt eine Nachricht, wenn sie ohnehin schon unsere Tiefseekabel anfressen?«, fragte Rubin. »Daraus müssten die Biester doch alle Informationen saugen können.«
»Da bringen Sie was durcheinander«, lächelte Shankar. »Sam’s Arecibo-Botschaft ist für Außerirdische nur darum verständlich, weil sie so aufgebaut wurde, dass ein fremder Geist sie dechiffrieren kann. Die Mühe machen wir uns bei unserem täglichen Datenaustausch nicht. Für eine fremde Intelligenz kommt da nicht mehr raus als ein Heidendurcheinander.«
»Stimmt«, sagte Johanson. »Aber schauen wir mal weiter. Ich hatte diese Idee mit der Biotechnologie, und Sam greift sie auf. Warum? Weil sie offensichtlich ist. Keine Maschinen, keine Technik. Stattdessen pure Genetik, Organismen als Waffen, gezielte Mutationen. Die Yrr müssen der Natur in ganz anderer Weise verhaftet sein als wir. Ich könnte mir vorstellen, dass sie ihrer natürlichen Umwelt bei weitem nicht so entfremdet sind wie wir.«
»Also edle Wilde?«, fragte Peak.
»Edel würde ich nicht sagen. Ich meine, es ist verwerflich, die Luft mit Maschinenabgasen zu verpesten. Es kann ebenso verwerflich sein, Tiere zu züchten und genetisch zu verändern, wie es einem gerade in den Kram passt. Ich treffe nur Aussagen darüber, wie sie die Bedrohung ihres Lebensraums durch uns empfinden. Wir machen uns Gedanken über die Abholzung des Regenwaldes. Die einen sind dagegen, die anderen tun es trotzdem. Sie sind vielleicht der Regenwald, im übertragenen Sinne. Dafür spricht, wie sie mit Biologie umgehen — und an diesem Punkt kommt etwas hinzu, das mir auffällig erscheint.
Sieht man von den Walen ab, bedienen sie sich in fast allen Fällen massenhaft auftretender Lebensformen. Würmer, Medusen, Großquallen, Muscheln, Krabben — alles Schwarmwesen. Sie opfern Millionen davon zur Erreichung ihrer Ziele. Der Einzelne gilt ihnen nichts. Würden Menschen so denken? Wir züchten Viren und Bakterienkulturen, aber vornehmlich setzen wir auf künstliche Waffen in überschaubarer Stückzahl. Biologische Massenvernichtungsmittel sind nicht wirklich unser Ding. Die Yrr hingegen scheinen sehr damit vertraut zu sein. Warum? Weil sie vielleicht selber Schwarmwesen sind?«
»Sie glauben …«
»Ich denke, dass wir es mit einer Kollektivintelligenz zu tun haben.«
»Und wie fühlt eine Kollektivintelligenz?«, fragte Peak.
»Wie fühlt ein Fischer, würde sich ein Fisch im Netz fragen, wenn er zu solcher Reflektion befähigt wäre«, sagte Anawak. »Warum müssen er und Millionen andere ersticken? Ist das nicht Massenmord?«
»Nein«, sagte Vanderbilt. »Das sind Fischstäbchen.«
Crowe hob die Hände.
»Ich stimme Dr. Johanson zu«, sagte sie. »Und die Schlussfolgerung ist, dass die Yrr einen Kollektivbeschluss gefasst haben, in dem die Frage nach moralischer Verantwortung und Mitgefühl nicht aufkommt. Wir können ihnen nicht mit unschuldigen Kulleraugen kommen, was im Film noch bei dem widerlichsten kosmischen Schleimbeutel klappt. Wir können nur eines versuchen: Ihr Interesse dafür zu wecken, lieber mit uns zu kommunizieren als uns umzubringen. Ohne physikalische und mathematische Kenntnisse hätten die Yrr nicht vollbringen können, was sie bislang vollbracht haben, also fordern wir sie zu einem mathematischen Duell heraus — bis zu dem Punkt, da ihnen ihre Logik oder meinethalben ihre unbegreifliche Moral gebieten wird, ihr Handeln zu überdenken.«
»Dass wir intelligent sind, muss ihnen klar sein«, beharrte Rubin. »Wenn sich jemand durch die Beherrschung von Physik und Mathematik auszeichnet, dann ja wohl wir.«
»Ja, aber sind wir eine bewusste Intelligenz?«
Rubin blinzelte verwirrt. »Wie meinen Sie das?«
»Ich meine, sind wir uns unserer Intelligenz bewusst?«
»Na sicher!«
»Oder sind wir ein lernfähiger Computer? Wir kennen die Antwort, aber kennen die anderen sie auch? Theoretisch können Sie ein komplettes Hirn durch elektronische Pendants ersetzen, dann erhalten Sie künstliche Intelligenz. Die kann alles, was sie auch können. Sie konstruiert Ihnen ein Raumschiff und trickst die Lichtgeschwindigkeit aus. Aber ist dieses Computerhirn sich seiner Leistungen bewusst? 1997 hat Deep Blue, ein IBM-Computer, den amtierenden Weltmeister Garri Kasparow im Schach geschlagen. Verfügt Deep Blue deswegen über Bewusstsein? Hat der Computer gesiegt, ohne zu wissen, warum? Muss man zwangsläufig annehmen, wir seien Lebewesen von bewusster Intelligenz, nur weil wir Städte bauen und Tiefseekabel verlegen? Bei SETI haben wir jedenfalls nie ausgeschlossen, auf eine Maschinenzivilisation zu stoßen, die ihre Konstrukteure überdauert und sich seit Jahrmillionen selbstständig weiterentwickelt hat.«
»Und die da unten? Ich meine, wenn es stimmt, was Sie sagen — vielleicht sind die Yrr ja auch nur Ameisen mit Flossen. Ohne Werte, ohne … ohne …«
»Richtig. Das ist der Grund, warum wir mehrstufig vorgehen«, sagte Crowe lächelnd. »Erst mal will ich wissen, ob da jemand ist. Zweitens, ob man in einen Dialog mit ihm treten kann. Drittens, ob sich die Yrr des Dialogs und ihrer selbst überhaupt bewusst sind. Erst dann, wenn ich zu dem Schluss gelange, dass sie neben all ihrem Wissen und ihren Fähigkeiten auch noch Vorstellungsvermögen und Verständnis mitbringen, bin ich bereit, sie als intelligente Wesen zu betrachten. Erst dann hat es Sinn, über Werte nachzudenken, und seihst dann sollte keiner hier im Raum erwarten, dass sie deckungsgleich mit unseren sind.«
Eine Weile herrschte Schweigen.
»Ich will mich nicht in wissenschaftliche Diskussionen einmischen«, sagte Li schließlich. »Pure Intelligenz ist kalt. Intelligenz gekoppelt mit Bewusstsein ist etwas anderes. Meines Erachtens müssen daraus Werte entstehen. Wenn die Yrr eine bewusste Intelligenz darstellen, müssen sie zumindest einen Wert anerkennen, nämlich den des Lebens. Und das tun sie, denn sie versuchen, sich zu schützen. Also haben sie Werte. Die Frage ist also, ob es irgendwo vielleicht doch eine Schnittmenge mit menschlichen Werten gibt, und sei sie noch so klein.«
Crowe nickte.
»Ja«, sagte sie. »Und sei sie noch so klein.«
Am späten Nachmittag schickten sie den ersten, gebündelten Schallimpuls in die Tiefe. Sie wählten einen Frequenzbereich, den Shankar festgelegt hatte und der im Spektrum des unidentifizierten Geräuschs lag, das die SOSUS-Leute Scratch getauft hatten.
Das Modem modulierte die Frequenz. Das Signal wurde hier und da zurückgeworfen, es kam zu Interferenzen. Crowe und Shankar saßen im CIC und modulierten wiederum die Modulationen, bis sie zufrieden waren. Nach einer Stunde war Crowe sicher, dass die Botschaft für jemanden, der Schallwellen verarbeiten konnte, eindeutig zu verstehen war. Ob die Yrr einen Sinn darin entdecken würden, stand auf einem anderen Blatt.
Und ob sie es für notwendig erachten würden, darauf zu antworten.
Crowe saß im dämmrigen CIC auf der Kante ihres Sessels und empfand ein seltsames Hochgefühl bei dem Gedanken, wie nah sie plötzlich dem Kontakt war, den sie jahrzehntelang herbeigesehnt hatte. Zugleich empfand sie Furcht. Sie spürte eine erdrückende Verantwortung auf sich und den Mitgliedern der Expedition lasten. Das hier war kein Abenteuer wie Arecibo und SETI. Es war der Versuch, eine Katastrophe zu stoppen und die Menschheit zu retten.
Der akademische Traum war zum Alptraum geworden.
Anawak kletterte aus dem Schiffsinnern hoch in die Insel, durchquerte die schmalen Gänge und betrat das Flugdeck.
Das Dach hatte sich im Verlauf der Reise zu einer Art Promenade entwickelt. Wer immer Zeit fand, sich die Beine zu vertreten, schlenderte dort herum, hing seinen Gedanken nach oder besprach sich mit anderen. So paradox es scheinen mochte, hatte sich ausgerechnet die Start— und Landefläche des größten Helikopterträgers der Welt zu einem Ort der Ruhe und des Ideenaustauschs entwickelt. Die sechs Super-Stallions und zwei Super-Cobra -Kampfhubschrauber standen verloren in der asphaltierten Weite.
Greywolf pflegte sein Exotendasein auch an Bord der Independence, wenngleich Delaware eine zunehmende Rolle darin spielte. Eher unspektakulär wuchsen die beiden zusammen. Delaware ließ ihm klugerweise seine Ruhe, was dazu führte, dass er es war, der ihre Gesellschaft suchte. Nach außen hin gaben sie sich als Freunde. Aber Anawak entging nicht, wie das Vertrauen auf beiden Seiten wuchs. Die Signale waren unverkennbar. Immer seltener assistierte Delaware nun ihm, sondern kümmerte sich zusammen mit Greywolf um die Pflege der Delphine.
Anawak fand Greywolf an der Bugkante, wo er im Schneidersitz hockte, den Blick seewärts gewandt. Er setzte sich neben ihn und sah, dass Greywolf an etwas schnitzte.
»Was ist das?«, fragte er.
Greywolf reichte es ihm. Es war ziemlich groß und fast vollendet, ein kunstvoll gearbeitetes Stück Zedernholz. Eine Seite mündete in einem Griff. Der weit größere Teil zeigte ineinander verschlungene Figuren. Anawak erkannte zwei Tiere mit mächtigen Gebissen, einen Vogel und einen Menschen, der offenbar zum Spielball der Kreaturen wurde. Er strich mit den Fingern über das Material.
»Schön«, sagte er.
»Es ist eine Replik.« Greywolf grinste. »Ich mache nur Repliken. Für Originale fehlt mir das Blut.« »Das reine Blut der Indianer.« Anawak lächelte.
»Verstehe schon.«
»Du verstehst wie immer nicht.«
»Schon gut. Was zeigt es?«
»Das, was du siehst.«
»Sei nicht so verdammt überheblich. Erklär’s mir einfach oder lass es bleiben.«
»Es ist eine Zeremonienkeule. Tla-o-qui-aht. Das Original ist aus Walknochen gemacht. Entstammt einer privaten Sammlung aus dem späten neunzehnten Jahrhundert. Was du siehst, ist eine Geschichte aus der Zeit der Vorfahren. Ein Mann stieß eines Tages auf einen geheimnisvollen Käfig mit allen möglichen Kreaturen und nahm ihn mit in sein Dorf. Kurz darauf wurde er krank. Ein starkes Fieber packte ihn, gegen das niemand etwas tun konnte. Keiner wusste, was dazu geführt hatte, dass der Mann so krank war, aber dann träumte er selber den Grund. Er sah, dass die Kreaturen im Käfig schuld waren. In seinen Träumen griffen sie ihn an, weil sie nämlich nicht einfach Tiere waren, sondern Transformer, Gestaltwandler.« Greywolf zeigte auf ein gedrungenes Wesen, das zur Hälfte Säugetier und zur Hälfte Wal war. »Hier siehst du einen Wolf-Killerwal. Im Traum fiel er über den Mann her und packte ihn beim Kopf. Dann kam ein Donnervogel und versuchte den Mann zu retten. Du kannst sehen, wie er die Krallen in die Seiten des Wolf-Killerwals schlägt, aber während sie kämpften, erschien ein Bär-Killerwal, dem es gelang, die Füße des Kranken zu packen. Der Mann erwachte und erzählte seinem Sohn, was er geträumt hatte. Kurz darauf starb er. Der Sohn schnitzte diese Keule und erschlug damit 6000 Gestaltwandler, um den Tod seines Vaters zu rächen.«
»Und was ist der tiefere Sinn?«
»Muss alles einen tieferen Sinn haben?«
»In diesem Fall wird es einen haben. Es ist der ewige Kampf, nicht wahr? Zwischen den Kräften des Guten und des Bösen.«
»Nein.« Greywolf strich sich das Haar aus der Stirn. »Die Geschichte erzählt vom Leben und vom Sterben. Das ist alles. Am Ende stirbst du, so viel steht fest, und bis dahin ist es ein einziges Auf und Ab. Du selber bist machtlos. Du kannst dein Leben gut oder schlecht leben, aber was mit dir geschieht, bestimmen höhere Kräfte. Wenn du im Einklang mit der Natur lebst, wird sie dich heilen, stellst du dich gegen sie, wird sie dich vernichten, aber die wichtigste Erkenntnis ist, dass nicht du die Natur beherrschst, sondern sie dich.«
»Der Sohn des Mannes scheint diese Erkenntnis nicht geteilt zu haben«, sagte Anawak. »Warum sonst hat er sich für den Tod seines Vaters rächen wollen?«
»Die Geschichte sagt nicht, dass er richtig gehandelt hat.«
Anawak gab Greywolf die Zeremonienkeule zurück, griff in seinen Anorak und förderte die Skulptur des Vogelgeists zutage.
»Kannst du mir auch dazu was erzählen?«
Greywolf betrachtete das Stück. Er nahm es in die Hände und drehte es. »Das stammt nicht von der Westküste«, sagte er.
»Nein.«
»Marmor. Es kommt ganz woanders her. Aus deiner Heimat?«
»Cape Dorset.« Anawak zögerte. »Ich habe es von einem Schamanen bekommen.«
»Du lässt dir was von einem Schamanen schenken?«
»Er ist mein Onkel.«
»Und was hat er dir dazu erzählt?«
»Wenig. Er meinte, der Vogelgeist würde meine Gedanken in die richtige Richtung tragen, wenn es so weit wäre. Und er sagte, dass ich dafür möglicherweise einen Mittler brauche.«
Greywolf schwieg eine Weile.
»Es gibt Vogelgeister in allen Kulturen«, sagte er. »Der Donnervogel ist ein alter indianischer Mythos, er repräsentiert viele Facetten. Er ist Teil der Schöpfung, ein Naturgeist, ein höheres Wesen, aber er steht auch für die Identität eines Clans. Ich kenne eine Familie, die ihren Namen auf einen Donnervogel zurückführt, den ihre Vorfahren einst auf dem Gipfel eines Berges in der Nähe von Ucluelet gesehen haben. Aber es gibt noch andere Bedeutungen für Vogelgeister.«
»Sie tauchen immer in Verbindung mit Köpfen auf, nicht?«
»Ja. Erstaunlich, was? Auf alten ägyptischen Darstellungen findest du oft das Bild eines vogelähnlichen Kopfschmucks. Dort hat der Vogelgeist die Bedeutung von Bewusstsein. Es ist im Schädelraum gefangen wie in einem Käfig. Sobald der Schädel geöffnet wird — im übertragenen Sinne —, kann es entkommen, aber du kannst es auch wieder zurück in den Schädel locken. Dann bist du wieder bei Bewusstsein oder wach.«
»Das heißt, im Schlaf geht mein Bewusstsein auf Reisen.«
»Du träumst, aber deine Träume sind keine Phantasien. Sie zeigen dir, was das Bewusstsein in den höheren Welten sieht, die dir normalerweise verborgen bleiben. Hast du mal die Federkrone eines Cherokee-Häuptlings gesehen?«
»In Wildwestfilmen, um ehrlich zu sein.«
»Macht nichts. Mit der Federkrone bringt er zum Ausdruck, dass sein unsichtbarer Geist in seinem Kopf Feder um Feder Gestalten schreibt. Einfacher gesagt, der Kopf hatte eine Reihe guter Einfälle, und darum ist er Häuptling.«
»Die beflügelten Gedanken.«
»Durch Federn, ja. Bei anderen Stämmen reicht oft eine einzige Feder, sie hat dieselbe Bedeutung. Der Vogelgeist repräsentiert das Bewusstsein. Darum durften Indianer auf keinen Fall ihren Skalp oder ihre Skalpfeder verlieren, weil sie zugleich ihr Bewusstsein verloren, schlimmstenfalls für immer.« Greywolf runzelte die Brauen. »Wenn ein Schamane dir diese Skulptur gegeben hat, dann hat er dich auf dein Bewusstsein hingewiesen, auf die Kraft deiner Ideen. Du sollst sie nutzen, aber dafür musst du deinen Geist öffnen. Er muss auf Wanderschaft gehen, und das heißt, er muss sich mit dem Unbewussten zusammenschließen.«
»Warum hast du eigentlich keine Feder im Haar?«
Greywolf verzog die Mundwinkel. »Weil ich, wie du so treffend bemerkt hast, kein richtiger Indianer bin.«
Anawak schwieg. »Ich hatte einen Traum in Nunavut«, sagte er nach einer Weile.
Greywolf erwiderte nichts.
»Sagen wir, mein Geist ging auf Reisen. Ich sank durch das Meereis in die schwarze See. Dann verwandelte sich die See in einen Himmel, und ich stieg einen Eisberg hinauf, bis ich sehen konnte, dass er im blauen Meer trieb. Nach allen Seiten war nichts als Wasser. Wir reisten zusammen über dieses Meer, und ich dachte, der Eisberg wird schmelzen. Komisch, ich empfand keine Angst, nur Neugierde. Ich wusste, dass ich versinken würde, wenn es so weit war, aber ich fürchtete nicht zu ertrinken. Es kam mir eher so vor, als ob ich eintauchen würde in etwas Neues, Unbekanntes.«
»Was hast du erwartet, dort unten vorzufinden?«
Anawak dachte nach. »Leben«, sagte er.
»Was für Leben?«
»Ich weiß nicht. Einfach nur Leben.«
Greywolf blickte auf die kleine, grüne Marmorskulptur des Vogelgeists in seiner riesigen Hand.
»Mal ehrlich, warum sind wir eigentlich an Bord, Licia und ich?«, fragte er unvermittelt.
Anawak schaute aufs Meer hinaus.
»Weil man euch braucht.«
»Nicht wirklich, Leon. Mich vielleicht, weil ich mit Delphinen zurechtkomme, aber ebenso gut hättet ihr jeden anderen Trainer der Navy nehmen können. Und Licia hat überhaupt keine Funktion.«
»Sie ist eine hervorragende Assistentin.«
»Setzt du sie ein? Brauchst du sie?«
»Nein.« Anawak seufzte. Er legte den Kopf in den Nacken und schaute in den Himmel. Wenn man nur lange genug hineinsah und sich vorstellte, dass es genau umgekehrt sei — dass man selber in Wirklichkeit oben war und die Wolken eine tief unten liegende Landschaft bildeten, und dass man nicht auf Dunstberge, sondern auf Hügel, Täler, Flüsse und Seen schaute —, dann glaubte man es irgendwann. Man glaubte es so sehr, dass man sich festhalten musste, um nicht in die Tiefe zu stürzen, die über einem hing. »Nein, ihr seid an Bord, weil ich es mir gewünscht habe.«
Der Tunnel mündete in eine Halle, noch höher und länger als das Hangardeck. Sie betraten ein künstliches Gestade, das zu einem tiefer gelegenen, holzgeplankten Becken abfiel. Wie ein riesiger, ausgelaufener Swimmingpool lag es vor ihnen. Eine rechteckige, gläserne Kuppel war in der Mitte eingelassen, bestehend aus zwei aneinander grenzenden Schotts. Seitlich davon erhob sich ein raumgreifendes Bassin, dessen kräuselige Wellen die Hallenbeleuchtung spiegelten. Crowe sah schlanke, torpedoförmige Körper unter der Oberfläche dahinziehen.
»Delphine«, rief sie überrascht.
»Ja.« Peak nickte. »Unsere Spezialstaffel.«
Ihr Blick wanderte nach oben. Auch hier lief ein verzweigtes Schienensystem über die Decke. Futuristisch aussehende Gebilde hingen darin, als hätte jemand überdimensionierte Sportwagen mit Tauchbooten und Flugzeugen gekreuzt. Beiderseits des Beckens setzte sich das Gestade in Form von pierartigen Laufgängen fort.
Boxen für Ausrüstung und Material stapelten sich entlang der Wände. Dazwischen sah Crowe Sonden, Messgeräte und Tauchanzüge in offenen Spinden. In regelmäßigen Abständen führten Steigleitern zum Hallenboden.
Vier Zodiacs lagen im vorderen Beckenbereich auf dem Trockenen.
»Da hat jemand den Stöpsel gezogen, was?«
»Ja, gestern Abend. Der Stöpsel ist übrigens dort.« Peak deutete auf die Kuppel. Crowe schätzte sie auf mindestens acht mal zehn Meter. »Die Schleuse, unser Tor ins Meer. Sie ist doppelt gesichert, im Hallenboden mit Glasschotts, in der Außenhülle mit massiven Stahlschotts. Dazwischen erstreckt sich ein Schacht von drei Meter Höhe. Das System ist narrensicher, es funktioniert wechselseitig. Sobald ein Boot im Schacht ist, schließen wir die Glasabdeckung und öffnen die Stahlschotts. Will es zurück ins Schiffsinnere, verfahren wir genauso. Das Boot steigt in die Schleuse, die Stahlschotts fahren zu, und wir können durch die Glasabdeckung sehen, ob irgendwas mit hineingelangt ist, das uns nicht gefällt. Gleichzeitig wird das Wasser einer chemischen Analyse unterzogen. Das Schleuseninnere ist bestückt mit Sensoren, die es auf Verunreinigungen und Toxide untersuchen. Die Ergebnisse werden auf zwei Displays übertragen, eines am Schleusenrand und eines am Kontrollpult. Etwa eine Minute lang ist das Boot im Schacht gefangen. Erst wenn alles im grünen Bereich liegt, öffnet sich das Glasdach und entlässt es zurück ins Deck. Auf gleiche Weise lassen wir die Delphine raus und rein. Kommen Sie.«
Sie schritten den Steuerbordpier entlang. Auf halber Länge ragte eine Konsole aus dem Boden, dicht an die Kante gesetzt und bestückt mit Monitoren und diversen Bedienfunktionen. Ein knochiger Mann mit stechenden Augen und ausladendem Schnauzbart kam ihnen aus einer Gruppe Uniformierter entgegen.
»Colonel Luther Roscovitz«, stellte Peak ihn vor. »Leiter der Tauchstation.«
»Sie sind Miss Alien, stimmt’s?« Roscovitz entblößte lange, gelbliche Zähne. »Willkommen auf der Kreuzfahrt. Wo haben Sie so lange gesteckt?«
»Mein Raumschiff hatte Verspätung.« Crowe sah sich um. »Schickes Pult.«
»Es erfüllt seinen Zweck. Wir nutzen es zur Bedienung der Schleuse und zum Hoch— und Runterfahren der Tauchboote. Außerdem werden die Pumpen von hier gesteuert, um das Deck unter Wasser zu setzen.«
Crowe rief sich in Erinnerung, was sie über die Independence wusste. Sie machte eine Kopfbewegung zur heckwärtigen Stahlwand, die das Deck abschloss. »Das ist ein Schott, nicht wahr?«
»Genau«, schmunzelte Roscovitz. »Wir können die Heckklappe der Independence absenken und das Schiff tiefer legen, indem wir die achterlichen Ballasttanks fluten. Meerwasser dringt ein, und schon haben wir einen hübschen Hafen, komplett mit Einfahrt.«
»Netter Arbeitsplatz. Gefällt mir.«
»Täuschen Sie sich nicht. Normalerweise drängen sich hier Landungsboote aneinander, Schwerlastschlepper und Hoovercrafts. Aus einer großen Halle wird im Nu ein enger Affenstall. Aber für diese Mission mussten wir ohnehin alles umkrempeln. Sie erfordert keine Landungsboote. Wir brauchten ein Schiff, das schwer genug ist, um nicht durch irgendwelches Viehzeug versenkt zu werden, Riesenwellen verkraften kann, über das komplette Angebot moderner Kommunikationstechnologie verfügt und Platz bietet für Fluggerät und eine Tauchbasis. Es war schieres Glück, dass die LHD-8 gerade im Bau war. Das größte und mächtigste amphibische Schiff aller Zeiten, so gut wie fertig gestellt, plus die Möglichkeit, ein paar Veränderungen vorzunehmen, besser hätte es nicht kommen können. Die Werft in Mississippi ist enorm fortschrittlich. Sie konzipierten das Welldeck in kürzester Zeit um, bauten Schleusen ein und veränderten das Pumpsystem. Jetzt können wir das Becken fluten, ohne die Klappe zu öffnen. Wir brauchen sie ohnehin nur für den Fall, dass wir mit den Zodiacs raus wollen.«
Crowe sah ins Becken hinab. Zwei Leute in Neoprenanzügen standen am Rand des Bassins, eine zierliche, rothaarige Frau und ein athletisch gebauter Riese mit langer, schwarzer Mähne. Sie beobachtete, wie eines der Tiere zum Rand geschwommen kam und den Kopf aus dem Wasser steckte. Es gab keckernde Geräusche von sich. Der Riese strich ihm mit der Hand über die glatte Stirn. Einige Sekunden ließ sich der Delphin die Liebkosung gefallen, dann tauchte er wieder ab.
»Und wer ist das?«, wollte Crowe wissen.
»Sie kümmern sich um die Delphinstaffel«, sagte Anawak. »Alicia Delaware und …«Er zögerte. »Und Greywolf.«
»Greywolf?«
»Ja. Oder auch Jack.« Anawak zuckte die Achseln.
»Nennen Sie ihn, wie Sie wollen. Er hört auf beides.«
»Wozu ist die Staffel gut?«
»Lebende Kameras. Sie bannen Film auf Magnetband, wenn sie draußen unterwegs sind. Der Hauptgrund ist allerdings, dass Delphine weit ausgeprägtere Sinne besitzen als wir. Ihr Sonar erfasst andere Lebewesen, lange bevor unsere Systeme sie sehen. Mit einigen der Tiere hat Jack schon während seiner aktiven Zeit gearbeitet. Sie beherrschen ein ausgeprägtes Vokabular.
Verschiedene Pfiffe. Einen für Orca, einen für Grauwal, einen anderen für Buckelwal, und so weiter und so fort. Sie können nahezu jedes größere Lebewesen, das ihnen bekannt ist, identifizieren, außerdem Schwärme klassifizieren, und was sie nicht kennen, melden sie als unbekannte Lebensform.«
»Beachtlich.« Crowe lächelte. »Und der schöne Mann da unten mit den langen Haaren versteht tatsächlich die Sprache der Delphine?«
Anawak nickte. »Besser als unsere. Manchmal.«
Das Treffen fand im Flagg-Besprechungs-und Lageraum gegenüber dem LFOC statt. Die meisten Anwesenden kannte Crowe inzwischen persönlich oder von den Videokonferenzen. Nun lernte sie noch Murray Shankar kennen, den Chefakustiker von SOSUS, Karen Weaver und Mick Rubin, außerdem den Skipper der Independence, einen drahtigen, weißhaarigen Mann namens Craig C. Buchanan, der aussah, als habe er das Militär erfunden, sowie Floyd Anderson, den Ersten Offizier. Sie schüttelte eifrig Hände und stellte fest, dass sie Anderson mit seinem Bullennacken und den schwarzen Knopfaugen nicht mochte. Als Letzter begrüßte sie ein fettleibiger Mann, der einige Minuten zu spät kam und sehr stark schwitzte. Er trug eine Baseballkappe und Turnschuhe. Über seinen Bauch spannte sich ein knallgelbes T-Shirt mit der Aufschrift: KÜSS mich, ich bin ein Prinz.
»Jack Vanderbilt«, stellte er sich vor. »Ehrlich gesagt, die Mutter von E. T. hab ich mir anders vorgestellt.«
»Tochter wäre charmanter gewesen«, erwiderte Crowe trocken.
»Erwarten Sie keine Komplimente von einem, der aussieht wie ich.« Vanderbilt gluckste. »Ist das nicht wunderbar, Dr. Crowe? Sie haben endlich Gelegenheit, Ihr ganzes nutzlos in den Weltraum abgestrahltes Hoffen und Bangen in freudige Erwartung umzusetzen.«
Alle suchten ihre Plätze auf. Li hielt eine kleine Ansprache, in der sie zusammenfasste, was ohnehin jeder wusste. Dass die Vereinigten Staaten einen Antrag in die UNO eingebracht und im Verlauf einer geheimen Sitzung einstimmig das Mandat erhalten hatten, die logistische und technologische Führungsrolle im Kampf gegen die unbekannte Macht zu übernehmen. Japan und einige Länder Europas waren inzwischen zu ähnlichen Schlüssen gelangt wie das Chateau-Team: Nicht Menschen bedrohten die Menschheit, sondern eine fremde Lebensform. So oder so schien jeder erleichtert, dass man die Vereinigten Staaten nicht lange hatte bitten müssen.
»Einiges spricht dafür, dass wir unmittelbar vor der Entdeckung eines Mittels stehen, das die Menschheit gegen die Toxide der Killeralgen immunisiert, allerdings bekommen wir die Nebenwirkungen nicht unter Kontrolle, und anderswo tauchen Krabben mit mutierten Erregern auf. In den meisten der stark betroffenen Länder ist die Infrastruktur zusammengebrochen. Amerika hat die Verantwortung gerne übernommen, aber unglücklicherweise müssen wir erkennen, dass wir kaum in der Lage sind, unsere eigenen Küsten zu schützen. Währenddessen sammeln sich Würmer an den Kontinentalhängen und — viel schlimmer — im Umfeld vulkanischer Inseln wie La Palma, wo Dr. Frost und Dr. Bohrmann gerade versuchen, die befallenen Hänge mit einer Art Tiefseestaubsauger zu säubern. Was die Wale angeht: Sonarattacken richten nichts aus bei Tieren, deren Natur von einem Fremdorganismus vergewaltigt wird. Aber selbst wenn, würden wir damit weder den Methan-GAU verhindern noch den Golfstrom wieder in Schwung bringen. Die Bekämpfung von Symptomen löst keine Probleme, und zur Ursache konnten wir bislang nicht vorstoßen, nachdem Unterwasseroperationen systematisch sabotiert werden. Wir erlangen keine Erkenntnisse mehr über das, was unten geschieht. Unterdessen geht ein Tiefseekabel nach dem anderen verloren. Die niederschmetternde Bilanz in diesem Krieg ist, dass wir blind und taub geworden sind. Sagen wir ruhig, wir haben ihn verloren.« Li machte eine Pause. »Wen sollen wir angreifen? Was nützt jeder Kampf, wenn La Palma abrutscht und Wasserberge die Küsten Amerikas, Afrikas und Europas überrollen? — Kurz, wir kommen keinen Schritt weiter, solange wir unseren Gegner nicht besser kennen, und wir kennen ihn überhaupt nicht. Der Sinn unserer Mission ist darum nicht der Kampf, sondern die Verhandlung. Wir wollen Kontakt aufnehmen zu der fremden Lebensform und sie dazu bringen, den Terror gegen die menschliche Rasse zu stoppen. Meiner Erfahrung nach lässt sich mit jedem Gegner verhandeln, und vieles deutet darauf hin, dass er sich genau hier aufhält — in der Grönländischen See.« Sie lächelte. »Unsere Hoffnung ruht auf einer friedlichen Lösung. Ich freue mich jedenfalls, als letztes Mitglied unserer Expedition Dr. Samantha Crowe willkommen zu heißen.«
Crowe stützte die Ellbogen auf den Konferenztisch.
»Danke für die nette Begrüßung.« Sie warf Vanderbilt einen kurzen Blick zu. »Wie Sie vielleicht wissen, war SETI bis heute nicht sonderlich erfolgreich. Angesichts einer räumlichen Ausdehnung von über zehn Milliarden Lichtjahren, die wir für das beobachtbare Universum annehmen, ist alles denkbarer, als zufällig in die richtige Richtung zu senden und jemanden zu erreichen, der gerade zuhört. Insofern sind wir diesmal besser dran. Erstens spricht einiges dafür, dass es die anderen gibt. Zweitens haben wir eine ungefähre Vorstellung davon, wo sie leben, nämlich irgendwo in den Ozeanen und wahrscheinlich direkt unter uns. Aber selbst wenn sie am Südpol hausen würden, hätten wir sie eingegrenzt. Die Meere können sie nicht verlassen, und ein starker Schallimpuls aus der Arktis wird noch jenseits von Afrika gehört werden. Das alles ist ermutigend. — Der wichtigste Punkt scheint mir jedoch, dass wir bereits Kontakt haben. Seit Jahrzehnten schicken wir Botschaften in ihren Lebensraum. Unglücklicherweise haben sie dessen Zerstörung zum Inhalt, also antworten sie nicht mit Gesandten, sondern überziehen uns kommentarlos mit Terror. Das ist in höchstem Maße lästig. Machen wir uns trotzdem vorübergehend frei von negativen Gefühlen und sehen wir in dem Terror eine Chance.«
»Eine Chance?«, echote Peak.
»Ja. Wir müssen ihn als das nehmen, was er ist — als Botschaft einer fremden Lebensform, aus der wir auf ihr Denken schließen können.«
Sie legte die Hand auf einen Stapel Kladden.
»Ich habe unsere Vorgehensweise für Sie zusammengefasst. Zugleich muss ich Ihre Hoffnungen auf einen schnellen Erfolg dämpfen. Jeder von Ihnen wird sich in den letzten Wochen über der Frage gegruselt haben, wer eigentlich da unten sitzt und uns die sieben Plagen schickt. Sie kennen die einschlägigen Filme: Unheimliche Begegnung der Dritten Art, E. T. Alien, Independence Day, The Abyss, Contact, und so weiter. Entweder haben wir es darin mit Monstern zu tun oder mit Heiligen. Denken Sie alleine an die Schlusssequenz von Unheimliche Begegnung: Viele Menschen finden Trost in der Vorstellung, dass überlegene Himmelswesen zu ihnen herabsteigen, um sie einer besseren, lichten Zukunft entgegenzuführen. Sollte das irgendjemandem bekannt vorkommen … Ja, die Sache hat unter der Oberfläche eine religiöse Dimension. Auch SETI hat diese Dimension. Und sie macht uns blind für die schlichte Andersartigkeit fremder Intelligenzen.«
Crowe ließ die Worte einen Moment wirken. Sie hatte lange überlegt, wie sie das Projekt anpacken sollte. Schließlich war sie zu der Überzeugung gelangt, dass es von vorneherein scheitern würde, wenn es ihr nicht gelang, den Teilnehmern der Expedition die Flausen zu nehmen.
»Was ich meine, ist, dass eine seriöse Beschäftigung mit der Andersartigkeit fremder Kulturen in der Science-Fiction so gut wie nicht stattfindet. Tatsächlich tauchen Außerirdische fast immer als ins Groteske übersteigerter Ausdruck menschlicher Hoffnungen und Ängste auf. Die Aliens in Unheimliche Begegnung symbolisieren unsere Sehnsucht nach dem verloren gegangenen Paradies. Im Grunde sind sie Engel, und so verhalten sie sich auch. Einige Auserwählte werden zum Licht geführt. Eine etwaige Kultur dieser Außerirdischen interessiert dabei niemanden. Sie bedienen simpelste religiöse Vorstellungen. Alles an ihnen ist zutiefst menschlich, weil menschgewollt, bis hin zur Dramaturgie ihres Auftretens — weißes, gleißendes Licht, ätherische Erscheinungen, ganz so, wie wir’s gerne hätten. — Ebenso wenig sind die Außerirdischen in Independence Day wirklich außerirdisch. Sie sind böse, indem sie unsere Vorstellungen von Bösartigkeit erfüllen. Auch ihnen wird keine wirkliche Andersartigkeit zugestanden. Gut und böse sind von Menschen postulierte Werte. Kaum eine Fiktion findet Interesse, die sich darüber hinwegsetzt. Wir tun uns nun mal schwer mit der Vorstellung, dass unsere Werte nicht auch die Werte anderer sein sollen und dass deren Vorstellungen von Gut und Böse vielleicht nicht den unseren entsprechen könnten. Dafür müssen Sie nicht mal in den Weltraum horchen. Jede Nation, jede menschliche Kultur hat ihre eigenen Aliens vor der Haustür, nämlich immer die jenseits der Grenze. — Bevor wir das nicht verinnerlicht haben, werden wir kaum eine Kommunikation mit einer fremden Intelligenz zuwege bringen. Denn aller Wahrscheinlichkeit nach wird es keine gemeinsame Wertebasis geben, kein universelles Gut und Böse, möglicherweise nicht einmal kompatible Sinnesapparate, über die man sich austauschen könnte.«
Crowe gab den Stapel Kladden an Johanson weiter, der neben ihr saß, und bat darum, die Exemplare zu verteilen.
»Wenn wir beginnen wollen, über wirkliche Kontakte mit Außerirdischen nachzudenken, sollten wir uns vielleicht einen Ameisenstaat vorstellen. Vorweg, Ameisen sind hoch organisiert, nicht wirklich intelligent. Aber unterstellen wir, sie wären es. Dann stünden wir vor der Aufgabe, uns mit einer Kollektivintelligenz auszutauschen, die kranke und verletzte Artgenossen verspeist, ohne es moralisch anfechtbar zu finden, die Kriege führt, ohne unsere Idee von Frieden zu verstehen, für die individuelle Fortpflanzung etwas vollkommen Unerhörtes darstellt und die den Austausch und Verzehr von Exkrementen wie ein Sakrament behandelt — kurz, die in jeder Hinsicht vollkommen anders funktioniert, die aber funktioniert! Und nun gehen Sie noch einen Schritt weiter: Stellen Sie sich vor, dass wir eine fremde Intelligenz vielleicht nicht einmal als solche erkennen! Leon hier zum Beispiel würde gerne wissen, ob Delphine intelligent sind, also führt er aufwändige Tests durch, aber gibt ihm das Gewissheit? Und umgekehrt, wie sehen uns die anderen? Die Yrr bekämpfen uns, aber halten sie uns für intelligent?
— Ich hoffe, ich habe mich klar ausgedrückt. Was immer wir hier tun: Eine Annäherung an die Yrr wird uns nicht gelingen, solange wir unser Werteverständnis als Nabel der Welt und des Universums betrachten. Wir müssen uns auf das reduzieren, was wir de facto sind — eine von unzähligen möglichen Lebensformen ohne besondere Ansprüche an das große Ganze.«
Crowe bemerkte, dass Lis Blick abschätzend auf Johanson ruhte. Es kam ihr vor, als versuche sie, in seinen Kopf zu kriechen. Interessante Konstellationen an Bord, dachte sie. Sie fing einen Blickkontakt zwischen Jack O’Bannon und Alicia Delaware auf und wusste im selben Augenblick, dass die beiden etwas miteinander hatten.
»Dr. Crowe«, sagte Vanderbilt, während er sein Exemplar der Ausführungen durchblätterte. »Was ist denn Ihrer Meinung nach überhaupt Intelligenz?«
Er stellte die Frage wie eine Falle.
»Ein Glücksfall«, sagte Crowe.
»Ein Glücksfall? Finden Sie?«
»Das Resultat vieler fein aufeinander abgestimmter Bedingungen. Wie viele Definitionen wollen Sie hören? Einige meinen, Intelligenz sei das, was in einer Kultur als wesentlich eingeschätzt wird. Genau da liegt der Hase im Pfeffer. Es gibt mindestens so viele Definitionen wie Kulturen und Mentalitäten. Die einen erforschen die grundlegenden Prozesse geistiger Leistung, andere versuchen Intelligenz statistisch zu messen. Dann die Frage, ist sie angeboren oder erworben? Zu Beginn des 20. Jahrhunderts vertrat man die Ansicht, Intelligenz spiegele sich in der Art und Weise, wie eine spezifische Situation bewältigt wird. Einige greifen das heute wieder auf und definieren Intelligenz als Anpassungsfähigkeit an die Erfordernisse einer sich wandelnden Umgebung. Demnach wäre sie nicht angeboren, sondern erlernt. Viele halten dagegen, Intelligenz sei im menschlichen Konzept verankert und eine angeborene Fähigkeit, die uns hilft, unser Denken auf immer neue Situationen einzustellen. Ihrer Meinung nach ist Intelligenz die Fähigkeit, aus Erfahrung zu lernen und sich den Erfordernissen der Umgebung anzupassen. Und dann gibt es noch die schöne Definition, Intelligenz sei die Fähigkeit zu hinterfragen, was Intelligenz sei.«
Vanderbilt nickte langsam. »Verstehe. Das heißt, Sie wissen es nicht.«
Crowe grinste. »Nun, gestatten Sie mir eine Bemerkung im Hinblick auf Ihr T-Shirt, Mr. Vanderbilt. — Nur an der äußeren Erscheinung wird man ein intelligentes Wesen wahrscheinlich nicht als solches erkennen.«
Gelächter brandete rings um den Tisch auf und ebbte schnell wieder ab. Vanderbilt starrte sie an.
Dann grinste auch er. »Wo Sie Recht haben, sollen Sie Recht behalten«, sagte er.
Nachdem das Eis gebrochen war, kamen sie schnell voran. Crowe skizzierte die nächsten Schritte. Sie hatte das Konzept in den vergangenen Wochen zusammen mit Murray Shankar, Judith Li, Leon Anawak und einigen NASA-Leuten aus dem Boden gestampft. Es basierte auf den wenigen Versuchen zur Kontaktaufnahme mit außerirdischen Lebensformen, die es bislang gegeben hatte.
»Der Weltraum macht es uns leicht«, erklärte Crowe. »Man kann im Mikrowellenbereich ungeheure Datenmengen gezielt verschicken. Licht ist gut sichtbar und reist mit 300000 Sekundenkilometern. Sie brauchen keine Drähte und Kabel. Unter Wasser ist alles anders, weil die Energie kurzwelliger Signale von den Molekülen absorbiert wird und langwellige Signale riesige Antennen erfordern würden. Kommunikation via Licht funktioniert zwar, aber nicht auf größere Distanzen. Bleibt die Akustik. Aber auch die birgt ein Problem, das wir Nachhall-Effekt nennen — akustische Signale werden an allen möglichen Stellen reflektiert, was Interferenzen zur Folge hat. Die Botschaft wird von sich selber überlagert und unverständlich. Um das zu vermeiden, bedienen wir uns eines speziellen Modems.«
»Das Prinzip haben wir den Meeressäugern abgeguckt«, sagte Anawak. »Delphine nutzen es, indem sie Nachhall und Interferenzen gewissermaßen austricksen: Sie singen.«
»Ich dachte, das tun nur Wale«, sagte Peak.
»Dass Wale singen, ist eine menschliche Interpretation«, erwiderte Anawak. »Sie haben möglicherweise nicht mal eine Vorstellung von Musik. Aber Sam meint etwas anderes. Singen heißt in diesem Fall, dass die Tiere unablässig ihre Frequenz und ihr Obertonspektrum modulieren. Damit schließen sie nicht nur Interferenzen aus, sie erweitern auch erheblich das Potenzial zur Übermittlung digitalisierter Information unter Wasser. Wir benutzen also ein Modem, das ebenfalls singt. Im Augenblick schaffen wir 30 KB bei einer Reichweite von drei Kilometern, das entspricht der halben Leistung einer ISDN-Leitung. Es reicht, um sogar Bilder in hoher Qualität zu übertragen.«
»Und was erzählen wir denen?«, fragte Peak.
»Die Gesetze der Physik, der kosmische Code, liegen in Form von Mathematik vor«, sagte Crowe. »Kosmische Ordnung hat die Evolution von Bewusstsein ermöglicht und es in die Lage versetzt, seinerseits die Mathematik neu zu erschaffen, um auf kompakte und kreative Weise den eigenen Ursprung erklären zu können. Mathematik ist die einzige universelle Sprache, die jedes intelligente Wesen versteht, das innerhalb der gültigen physikalischen Rahmenbedingungen existiert, und die werden wir benutzen.«
»Was wollen Sie tun? Mathematikaufgaben stellen?«
»Nein, Gedanken in Mathematik verpacken. 1974 haben wir ein hoch energiereiches irdisches Radiosignal gebündelt und in einen Kugelsternhaufen im Sternbild Herkules geschickt. Wir mussten einen Weg finden, die Botschaft so zu verschlüsseln, dass sie auf einem fremden Planeten verstanden wird, und vielleicht waren wir ein bisschen übereifrig — man muss schon sehr weit entwickelt sein, um den Code zu knacken. Aber mit mathematischen Methoden funktioniert es. Insgesamt verschickten wir 1679 Zeichen im Binärsystem, also Punkt und Strich wie beim Morsen. Jetzt wird’s vertrackt. Ein Mathematiker weiß die Zahl 1679 zu interpretieren, weil sie nur aus dem Produkt von 23 und 73 gebildet werden kann, beides Primzahlen, die nur durch l oder sich selbst geteilt werden können. Damit versteht der Empfänger schon mal die Basis menschlicher Zahlensysteme. Die Anordnung der 1679 Zeichen erfolgte in 73 Spalten zu je 23 Zeichen, und so weiter. Sie sehen, man kann viel unterbringen in ein bisschen Mathematik, und wenn Sie nun Punkt und Strich in Schwarz und Weiß umwandeln — oh Wunder! —, erhalten Sie ein Muster.«
Sie hielt ein Blatt mit einer Grafik hoch. Der Eindruck war der eines grob gepixelten Computerausdrucks. Manches wirkte abstrakt, anderes ließ deutliche Formen erkennen.
»Die obersten Zeilen geben Auskunft über die Zahlen l bis 10 und damit über unser Rechensystem. Darunter kommen die Ordnungszahlen chemischer Elemente: Wasserstoff, Kohlenstoff, Stickstoff, Sauerstoff und Phosphor. Sie sind von wesentlicher Bedeutung für unseren Planeten und das irdische Leben. Danach geht’s weiter mit einer umfangreichen Aufschlüsselung irdischer Biochemie, Formeln von Zuckern und Basen, Struktur der Doppelhelix, und so weiter. Der Umriss im unteren Drittel zeigt einen Menschen, direkt verbunden mit der DNA-Struktur, was Auskünfte über die hiesige Evolution erteilt. Ein außerirdischer Empfänger wird sich kaum mit irdischen Maßeinheiten auskennen, also haben wir die durchschnittliche Körpergröße eines Menschen über die Wellenlänge der übertragenen Radiosignale ausgedrückt.
Dann folgt noch eine Darstellung unseres Sonnensystems, und zum guten Schluss skizzierten wir Aussehen, Arbeitsweise und Größe des Arecibo-Teleskops, von dem das alles abgeschickt wurde.«
»Hübsche Einladung, eben mal herzufliegen und uns aufzufressen«, bemerkte Vanderbilt.
»Ja, damit hat uns Ihre Behörde schon immer in den Ohren gelegen. Und jedes Mal haben wir geantwortet, dass es dieser Einladung nicht bedarf. Seit Jahrzehnten werden Radiowellen in den Weltraum abgestrahlt. Unser gesamter Funkverkehr, auch der geheimdienstliche. Man muss diese Wellen nicht entziffern, um zu begreifen, dass sie nur von einer technischen Zivilisation stammen können.« Crowe legte das Diagramm aus der Hand. »Die Arecibo-Botschaft wird 26000 Jahre unterwegs sein, also erhalten wir die Antwort frühestens in 52000 Jahren. Ich kann Sie beruhigen, diesmal geht’s schneller. Wir werden mehrstufig vorgehen. Unsere erste Botschaft wird einfach sein, tatsächlich nur zwei Mathematikaufgaben. Wenn die da unten Sportsgeist haben, antworten sie. Dieser erste Austausch hat die Funktion, die Existenz der Yrr nachzuweisen und festzustellen, ob ein Dialog überhaupt zustande kommen kann.«
»Warum sollten sie antworten?«, fragte Greywolf. »Sie wissen doch schon alles über uns.«
»Sie wissen vielleicht einiges, aber nicht unbedingt das Wichtigste, nämlich dass wir intelligent sind.«
»Wie bitte?« Vanderbilt schüttelte den Kopf. »Die zerstören unsere Schiffe! Also wissen sie, dass wir so was bauen können. Wie sollten sie an unserer Intelligenz zweifeln?«
»Dass wir technische Konstruktionen herstellen, ist kein Beweis für Intelligenz. Werfen Sie einen Blick auf einen Termitenhügel — eine architektonische Glanzleistung.«
»Das ist was anderes.«
»Kommen Sie runter von Ihrem hohen Ross. Sollte es zutreffen, dass die Kultur der Yrr, wie Dr. Johanson sagt, einzig auf Biologie fußt, müssen wir bezweifeln, dass sie uns gezielten und strukturierten Denkens überhaupt für fähig halten.«
»Sie meinen, die halten uns für …« Vanderbilt verzog angewidert die Lippen. »Tiere?«
»Für Schädlinge vielleicht.«
»Pilzbefall«, grinste Delaware. »Vielleicht haben wir es ja mit Kammerjägern zu tun.«
»Sehen Sie, ich habe mich der Mühe unterzogen, deren Denkstruktur zu ergründen und daraus auf ihre Lebensweise zu schließen«, sagte Crowe. »Ich weiß, das ist alles furchtbar spekulativ, aber irgendwie müssen wir unsere Versuche der Kontaktaufnahme ja eingrenzen. Ich habe also darüber nachgedacht, warum den vielen kriegerischen Kontakten ihrerseits kein einziger diplomatischer vorausging. Es kann heißen, dass sie keinen Wert auf Diplomatie legen. Es kann aber auch bedeuten, dass ihnen gar nicht erst der Gedanke gekommen ist. Gut, auch ein Heer roter Wanderameisen würde mit einem Tier, über das sie herfallen, keine diplomatischen Höflichkeiten austauschen. Allerdings folgen Ameisen ausgeklügelten Instinkten. Die Yrr hingegen weisen sich durch planerisches Vorgehen aus, das von Erkenntnisfähigkeit geprägt ist. Sie entwickeln kreative Strategien. Wenn sie also intelligent und sich ihrer Intelligenz bewusst sind, scheint das keineswegs einherzugehen mit gängigen Vorstellungen von Moral und Ethik, Gut und Böse. In ihrer Logik ist es vielleicht nur konsequent, unsere Spezies mit aller Härte zu bekämpfen. Und solange wir ihnen keinen Grund geben, diese Konsequenz zu überdenken, werden sie es auch nicht tun.«
»Wozu überhaupt eine Nachricht, wenn sie ohnehin schon unsere Tiefseekabel anfressen?«, fragte Rubin. »Daraus müssten die Biester doch alle Informationen saugen können.«
»Da bringen Sie was durcheinander«, lächelte Shankar. »Sam’s Arecibo-Botschaft ist für Außerirdische nur darum verständlich, weil sie so aufgebaut wurde, dass ein fremder Geist sie dechiffrieren kann. Die Mühe machen wir uns bei unserem täglichen Datenaustausch nicht. Für eine fremde Intelligenz kommt da nicht mehr raus als ein Heidendurcheinander.«
»Stimmt«, sagte Johanson. »Aber schauen wir mal weiter. Ich hatte diese Idee mit der Biotechnologie, und Sam greift sie auf. Warum? Weil sie offensichtlich ist. Keine Maschinen, keine Technik. Stattdessen pure Genetik, Organismen als Waffen, gezielte Mutationen. Die Yrr müssen der Natur in ganz anderer Weise verhaftet sein als wir. Ich könnte mir vorstellen, dass sie ihrer natürlichen Umwelt bei weitem nicht so entfremdet sind wie wir.«
»Also edle Wilde?«, fragte Peak.
»Edel würde ich nicht sagen. Ich meine, es ist verwerflich, die Luft mit Maschinenabgasen zu verpesten. Es kann ebenso verwerflich sein, Tiere zu züchten und genetisch zu verändern, wie es einem gerade in den Kram passt. Ich treffe nur Aussagen darüber, wie sie die Bedrohung ihres Lebensraums durch uns empfinden. Wir machen uns Gedanken über die Abholzung des Regenwaldes. Die einen sind dagegen, die anderen tun es trotzdem. Sie sind vielleicht der Regenwald, im übertragenen Sinne. Dafür spricht, wie sie mit Biologie umgehen — und an diesem Punkt kommt etwas hinzu, das mir auffällig erscheint.
Sieht man von den Walen ab, bedienen sie sich in fast allen Fällen massenhaft auftretender Lebensformen. Würmer, Medusen, Großquallen, Muscheln, Krabben — alles Schwarmwesen. Sie opfern Millionen davon zur Erreichung ihrer Ziele. Der Einzelne gilt ihnen nichts. Würden Menschen so denken? Wir züchten Viren und Bakterienkulturen, aber vornehmlich setzen wir auf künstliche Waffen in überschaubarer Stückzahl. Biologische Massenvernichtungsmittel sind nicht wirklich unser Ding. Die Yrr hingegen scheinen sehr damit vertraut zu sein. Warum? Weil sie vielleicht selber Schwarmwesen sind?«
»Sie glauben …«
»Ich denke, dass wir es mit einer Kollektivintelligenz zu tun haben.«
»Und wie fühlt eine Kollektivintelligenz?«, fragte Peak.
»Wie fühlt ein Fischer, würde sich ein Fisch im Netz fragen, wenn er zu solcher Reflektion befähigt wäre«, sagte Anawak. »Warum müssen er und Millionen andere ersticken? Ist das nicht Massenmord?«
»Nein«, sagte Vanderbilt. »Das sind Fischstäbchen.«
Crowe hob die Hände.
»Ich stimme Dr. Johanson zu«, sagte sie. »Und die Schlussfolgerung ist, dass die Yrr einen Kollektivbeschluss gefasst haben, in dem die Frage nach moralischer Verantwortung und Mitgefühl nicht aufkommt. Wir können ihnen nicht mit unschuldigen Kulleraugen kommen, was im Film noch bei dem widerlichsten kosmischen Schleimbeutel klappt. Wir können nur eines versuchen: Ihr Interesse dafür zu wecken, lieber mit uns zu kommunizieren als uns umzubringen. Ohne physikalische und mathematische Kenntnisse hätten die Yrr nicht vollbringen können, was sie bislang vollbracht haben, also fordern wir sie zu einem mathematischen Duell heraus — bis zu dem Punkt, da ihnen ihre Logik oder meinethalben ihre unbegreifliche Moral gebieten wird, ihr Handeln zu überdenken.«
»Dass wir intelligent sind, muss ihnen klar sein«, beharrte Rubin. »Wenn sich jemand durch die Beherrschung von Physik und Mathematik auszeichnet, dann ja wohl wir.«
»Ja, aber sind wir eine bewusste Intelligenz?«
Rubin blinzelte verwirrt. »Wie meinen Sie das?«
»Ich meine, sind wir uns unserer Intelligenz bewusst?«
»Na sicher!«
»Oder sind wir ein lernfähiger Computer? Wir kennen die Antwort, aber kennen die anderen sie auch? Theoretisch können Sie ein komplettes Hirn durch elektronische Pendants ersetzen, dann erhalten Sie künstliche Intelligenz. Die kann alles, was sie auch können. Sie konstruiert Ihnen ein Raumschiff und trickst die Lichtgeschwindigkeit aus. Aber ist dieses Computerhirn sich seiner Leistungen bewusst? 1997 hat Deep Blue, ein IBM-Computer, den amtierenden Weltmeister Garri Kasparow im Schach geschlagen. Verfügt Deep Blue deswegen über Bewusstsein? Hat der Computer gesiegt, ohne zu wissen, warum? Muss man zwangsläufig annehmen, wir seien Lebewesen von bewusster Intelligenz, nur weil wir Städte bauen und Tiefseekabel verlegen? Bei SETI haben wir jedenfalls nie ausgeschlossen, auf eine Maschinenzivilisation zu stoßen, die ihre Konstrukteure überdauert und sich seit Jahrmillionen selbstständig weiterentwickelt hat.«
»Und die da unten? Ich meine, wenn es stimmt, was Sie sagen — vielleicht sind die Yrr ja auch nur Ameisen mit Flossen. Ohne Werte, ohne … ohne …«
»Richtig. Das ist der Grund, warum wir mehrstufig vorgehen«, sagte Crowe lächelnd. »Erst mal will ich wissen, ob da jemand ist. Zweitens, ob man in einen Dialog mit ihm treten kann. Drittens, ob sich die Yrr des Dialogs und ihrer selbst überhaupt bewusst sind. Erst dann, wenn ich zu dem Schluss gelange, dass sie neben all ihrem Wissen und ihren Fähigkeiten auch noch Vorstellungsvermögen und Verständnis mitbringen, bin ich bereit, sie als intelligente Wesen zu betrachten. Erst dann hat es Sinn, über Werte nachzudenken, und seihst dann sollte keiner hier im Raum erwarten, dass sie deckungsgleich mit unseren sind.«
Eine Weile herrschte Schweigen.
»Ich will mich nicht in wissenschaftliche Diskussionen einmischen«, sagte Li schließlich. »Pure Intelligenz ist kalt. Intelligenz gekoppelt mit Bewusstsein ist etwas anderes. Meines Erachtens müssen daraus Werte entstehen. Wenn die Yrr eine bewusste Intelligenz darstellen, müssen sie zumindest einen Wert anerkennen, nämlich den des Lebens. Und das tun sie, denn sie versuchen, sich zu schützen. Also haben sie Werte. Die Frage ist also, ob es irgendwo vielleicht doch eine Schnittmenge mit menschlichen Werten gibt, und sei sie noch so klein.«
Crowe nickte.
»Ja«, sagte sie. »Und sei sie noch so klein.«
Am späten Nachmittag schickten sie den ersten, gebündelten Schallimpuls in die Tiefe. Sie wählten einen Frequenzbereich, den Shankar festgelegt hatte und der im Spektrum des unidentifizierten Geräuschs lag, das die SOSUS-Leute Scratch getauft hatten.
Das Modem modulierte die Frequenz. Das Signal wurde hier und da zurückgeworfen, es kam zu Interferenzen. Crowe und Shankar saßen im CIC und modulierten wiederum die Modulationen, bis sie zufrieden waren. Nach einer Stunde war Crowe sicher, dass die Botschaft für jemanden, der Schallwellen verarbeiten konnte, eindeutig zu verstehen war. Ob die Yrr einen Sinn darin entdecken würden, stand auf einem anderen Blatt.
Und ob sie es für notwendig erachten würden, darauf zu antworten.
Crowe saß im dämmrigen CIC auf der Kante ihres Sessels und empfand ein seltsames Hochgefühl bei dem Gedanken, wie nah sie plötzlich dem Kontakt war, den sie jahrzehntelang herbeigesehnt hatte. Zugleich empfand sie Furcht. Sie spürte eine erdrückende Verantwortung auf sich und den Mitgliedern der Expedition lasten. Das hier war kein Abenteuer wie Arecibo und SETI. Es war der Versuch, eine Katastrophe zu stoppen und die Menschheit zu retten.
Der akademische Traum war zum Alptraum geworden.
Freunde
Anawak kletterte aus dem Schiffsinnern hoch in die Insel, durchquerte die schmalen Gänge und betrat das Flugdeck.
Das Dach hatte sich im Verlauf der Reise zu einer Art Promenade entwickelt. Wer immer Zeit fand, sich die Beine zu vertreten, schlenderte dort herum, hing seinen Gedanken nach oder besprach sich mit anderen. So paradox es scheinen mochte, hatte sich ausgerechnet die Start— und Landefläche des größten Helikopterträgers der Welt zu einem Ort der Ruhe und des Ideenaustauschs entwickelt. Die sechs Super-Stallions und zwei Super-Cobra -Kampfhubschrauber standen verloren in der asphaltierten Weite.
Greywolf pflegte sein Exotendasein auch an Bord der Independence, wenngleich Delaware eine zunehmende Rolle darin spielte. Eher unspektakulär wuchsen die beiden zusammen. Delaware ließ ihm klugerweise seine Ruhe, was dazu führte, dass er es war, der ihre Gesellschaft suchte. Nach außen hin gaben sie sich als Freunde. Aber Anawak entging nicht, wie das Vertrauen auf beiden Seiten wuchs. Die Signale waren unverkennbar. Immer seltener assistierte Delaware nun ihm, sondern kümmerte sich zusammen mit Greywolf um die Pflege der Delphine.
Anawak fand Greywolf an der Bugkante, wo er im Schneidersitz hockte, den Blick seewärts gewandt. Er setzte sich neben ihn und sah, dass Greywolf an etwas schnitzte.
»Was ist das?«, fragte er.
Greywolf reichte es ihm. Es war ziemlich groß und fast vollendet, ein kunstvoll gearbeitetes Stück Zedernholz. Eine Seite mündete in einem Griff. Der weit größere Teil zeigte ineinander verschlungene Figuren. Anawak erkannte zwei Tiere mit mächtigen Gebissen, einen Vogel und einen Menschen, der offenbar zum Spielball der Kreaturen wurde. Er strich mit den Fingern über das Material.
»Schön«, sagte er.
»Es ist eine Replik.« Greywolf grinste. »Ich mache nur Repliken. Für Originale fehlt mir das Blut.« »Das reine Blut der Indianer.« Anawak lächelte.
»Verstehe schon.«
»Du verstehst wie immer nicht.«
»Schon gut. Was zeigt es?«
»Das, was du siehst.«
»Sei nicht so verdammt überheblich. Erklär’s mir einfach oder lass es bleiben.«
»Es ist eine Zeremonienkeule. Tla-o-qui-aht. Das Original ist aus Walknochen gemacht. Entstammt einer privaten Sammlung aus dem späten neunzehnten Jahrhundert. Was du siehst, ist eine Geschichte aus der Zeit der Vorfahren. Ein Mann stieß eines Tages auf einen geheimnisvollen Käfig mit allen möglichen Kreaturen und nahm ihn mit in sein Dorf. Kurz darauf wurde er krank. Ein starkes Fieber packte ihn, gegen das niemand etwas tun konnte. Keiner wusste, was dazu geführt hatte, dass der Mann so krank war, aber dann träumte er selber den Grund. Er sah, dass die Kreaturen im Käfig schuld waren. In seinen Träumen griffen sie ihn an, weil sie nämlich nicht einfach Tiere waren, sondern Transformer, Gestaltwandler.« Greywolf zeigte auf ein gedrungenes Wesen, das zur Hälfte Säugetier und zur Hälfte Wal war. »Hier siehst du einen Wolf-Killerwal. Im Traum fiel er über den Mann her und packte ihn beim Kopf. Dann kam ein Donnervogel und versuchte den Mann zu retten. Du kannst sehen, wie er die Krallen in die Seiten des Wolf-Killerwals schlägt, aber während sie kämpften, erschien ein Bär-Killerwal, dem es gelang, die Füße des Kranken zu packen. Der Mann erwachte und erzählte seinem Sohn, was er geträumt hatte. Kurz darauf starb er. Der Sohn schnitzte diese Keule und erschlug damit 6000 Gestaltwandler, um den Tod seines Vaters zu rächen.«
»Und was ist der tiefere Sinn?«
»Muss alles einen tieferen Sinn haben?«
»In diesem Fall wird es einen haben. Es ist der ewige Kampf, nicht wahr? Zwischen den Kräften des Guten und des Bösen.«
»Nein.« Greywolf strich sich das Haar aus der Stirn. »Die Geschichte erzählt vom Leben und vom Sterben. Das ist alles. Am Ende stirbst du, so viel steht fest, und bis dahin ist es ein einziges Auf und Ab. Du selber bist machtlos. Du kannst dein Leben gut oder schlecht leben, aber was mit dir geschieht, bestimmen höhere Kräfte. Wenn du im Einklang mit der Natur lebst, wird sie dich heilen, stellst du dich gegen sie, wird sie dich vernichten, aber die wichtigste Erkenntnis ist, dass nicht du die Natur beherrschst, sondern sie dich.«
»Der Sohn des Mannes scheint diese Erkenntnis nicht geteilt zu haben«, sagte Anawak. »Warum sonst hat er sich für den Tod seines Vaters rächen wollen?«
»Die Geschichte sagt nicht, dass er richtig gehandelt hat.«
Anawak gab Greywolf die Zeremonienkeule zurück, griff in seinen Anorak und förderte die Skulptur des Vogelgeists zutage.
»Kannst du mir auch dazu was erzählen?«
Greywolf betrachtete das Stück. Er nahm es in die Hände und drehte es. »Das stammt nicht von der Westküste«, sagte er.
»Nein.«
»Marmor. Es kommt ganz woanders her. Aus deiner Heimat?«
»Cape Dorset.« Anawak zögerte. »Ich habe es von einem Schamanen bekommen.«
»Du lässt dir was von einem Schamanen schenken?«
»Er ist mein Onkel.«
»Und was hat er dir dazu erzählt?«
»Wenig. Er meinte, der Vogelgeist würde meine Gedanken in die richtige Richtung tragen, wenn es so weit wäre. Und er sagte, dass ich dafür möglicherweise einen Mittler brauche.«
Greywolf schwieg eine Weile.
»Es gibt Vogelgeister in allen Kulturen«, sagte er. »Der Donnervogel ist ein alter indianischer Mythos, er repräsentiert viele Facetten. Er ist Teil der Schöpfung, ein Naturgeist, ein höheres Wesen, aber er steht auch für die Identität eines Clans. Ich kenne eine Familie, die ihren Namen auf einen Donnervogel zurückführt, den ihre Vorfahren einst auf dem Gipfel eines Berges in der Nähe von Ucluelet gesehen haben. Aber es gibt noch andere Bedeutungen für Vogelgeister.«
»Sie tauchen immer in Verbindung mit Köpfen auf, nicht?«
»Ja. Erstaunlich, was? Auf alten ägyptischen Darstellungen findest du oft das Bild eines vogelähnlichen Kopfschmucks. Dort hat der Vogelgeist die Bedeutung von Bewusstsein. Es ist im Schädelraum gefangen wie in einem Käfig. Sobald der Schädel geöffnet wird — im übertragenen Sinne —, kann es entkommen, aber du kannst es auch wieder zurück in den Schädel locken. Dann bist du wieder bei Bewusstsein oder wach.«
»Das heißt, im Schlaf geht mein Bewusstsein auf Reisen.«
»Du träumst, aber deine Träume sind keine Phantasien. Sie zeigen dir, was das Bewusstsein in den höheren Welten sieht, die dir normalerweise verborgen bleiben. Hast du mal die Federkrone eines Cherokee-Häuptlings gesehen?«
»In Wildwestfilmen, um ehrlich zu sein.«
»Macht nichts. Mit der Federkrone bringt er zum Ausdruck, dass sein unsichtbarer Geist in seinem Kopf Feder um Feder Gestalten schreibt. Einfacher gesagt, der Kopf hatte eine Reihe guter Einfälle, und darum ist er Häuptling.«
»Die beflügelten Gedanken.«
»Durch Federn, ja. Bei anderen Stämmen reicht oft eine einzige Feder, sie hat dieselbe Bedeutung. Der Vogelgeist repräsentiert das Bewusstsein. Darum durften Indianer auf keinen Fall ihren Skalp oder ihre Skalpfeder verlieren, weil sie zugleich ihr Bewusstsein verloren, schlimmstenfalls für immer.« Greywolf runzelte die Brauen. »Wenn ein Schamane dir diese Skulptur gegeben hat, dann hat er dich auf dein Bewusstsein hingewiesen, auf die Kraft deiner Ideen. Du sollst sie nutzen, aber dafür musst du deinen Geist öffnen. Er muss auf Wanderschaft gehen, und das heißt, er muss sich mit dem Unbewussten zusammenschließen.«
»Warum hast du eigentlich keine Feder im Haar?«
Greywolf verzog die Mundwinkel. »Weil ich, wie du so treffend bemerkt hast, kein richtiger Indianer bin.«
Anawak schwieg. »Ich hatte einen Traum in Nunavut«, sagte er nach einer Weile.
Greywolf erwiderte nichts.
»Sagen wir, mein Geist ging auf Reisen. Ich sank durch das Meereis in die schwarze See. Dann verwandelte sich die See in einen Himmel, und ich stieg einen Eisberg hinauf, bis ich sehen konnte, dass er im blauen Meer trieb. Nach allen Seiten war nichts als Wasser. Wir reisten zusammen über dieses Meer, und ich dachte, der Eisberg wird schmelzen. Komisch, ich empfand keine Angst, nur Neugierde. Ich wusste, dass ich versinken würde, wenn es so weit war, aber ich fürchtete nicht zu ertrinken. Es kam mir eher so vor, als ob ich eintauchen würde in etwas Neues, Unbekanntes.«
»Was hast du erwartet, dort unten vorzufinden?«
Anawak dachte nach. »Leben«, sagte er.
»Was für Leben?«
»Ich weiß nicht. Einfach nur Leben.«
Greywolf blickte auf die kleine, grüne Marmorskulptur des Vogelgeists in seiner riesigen Hand.
»Mal ehrlich, warum sind wir eigentlich an Bord, Licia und ich?«, fragte er unvermittelt.
Anawak schaute aufs Meer hinaus.
»Weil man euch braucht.«
»Nicht wirklich, Leon. Mich vielleicht, weil ich mit Delphinen zurechtkomme, aber ebenso gut hättet ihr jeden anderen Trainer der Navy nehmen können. Und Licia hat überhaupt keine Funktion.«
»Sie ist eine hervorragende Assistentin.«
»Setzt du sie ein? Brauchst du sie?«
»Nein.« Anawak seufzte. Er legte den Kopf in den Nacken und schaute in den Himmel. Wenn man nur lange genug hineinsah und sich vorstellte, dass es genau umgekehrt sei — dass man selber in Wirklichkeit oben war und die Wolken eine tief unten liegende Landschaft bildeten, und dass man nicht auf Dunstberge, sondern auf Hügel, Täler, Flüsse und Seen schaute —, dann glaubte man es irgendwann. Man glaubte es so sehr, dass man sich festhalten musste, um nicht in die Tiefe zu stürzen, die über einem hing. »Nein, ihr seid an Bord, weil ich es mir gewünscht habe.«