Wale müssen trinken. Eine absurde Vorstellung angesichts eines Lebens unter Wasser, aber die Gefahr, im Ozean zu verdursten, ist für einen Wal ebenso groß wie für einen Schiffbrüchigen. Quallen bestehen fast vollständig aus Wasser, Süßwasser nämlich, ebenso wie Tintenfische, die viel lebenswichtige Flüssigkeit liefern, und darum taucht der Pottwal nach Tintenfischen und Medusen. Senkrecht stößt er hinab, in eintausend, zweitausend, mitunter bis zu dreitausend Meter Tiefe, bleibt dort länger als eine Stunde, bis er wieder für zehn Minuten an die Wasseroberfläche zurückkehrt, um zu atmen, und wieder taucht er ab.
   Weaver ist einem Pottwal begegnet. Einem regungslosen Räuber mit guten Augen. Sie durchquert das Reich der Finsternis und der guten Augen. Alle hier unten sehen gut.
   Was siehst du? Was siehst du nicht?
   Du gehst eine Straße entlang. In einiger Entfernung erkennst du einen Mann, der dir entgegenkommt. Noch ein Stück weiter führt eine Frau einen Hund spazieren. Klick, Momentaufnahme! Beschreibe, wie viele Lebewesen auf der Straße unterwegs sind und ihre Entfernung zueinander.
   Wir sind vier.
   Nein, wir sind mehr. In den Bäumen sehe ich drei Vögel, also sind wir sieben. Der Mann ist achtzehn Meter weit entfernt, die Frau fünfzehn. Der Hund dreizehneinhalb, er zieht ihr voraus, liegt in seinem Halsband. Die Vögel befinden sich in zehn Meter Höhe und sitzen je einen halben Meter auseinander. — Nein! In Wahrheit tummeln sich auf dieser Straße Milliarden Lebewesen. Nur drei davon sind Menschen. Eines ist ein Hund. Außer den drei Vögeln sitzen noch 57 weitere Vögel in den Bäumen, die ich nicht sehe. Die Bäume selber sind Lebewesen, in deren Blattwerk und Borke Myriaden von Insekten wohnen. Das Gefieder der Vögel besiedeln Milben, ebenso wie die Poren unserer Haut. Der Hund vereint auf seinem Fell eine halbe Hundertschaft Flöhe, vierzehn Zecken, zwei Mücken und in Darm und Magen Tausende winziger Würmer. Sein Speichel ist gesättigt mit Bakterien. Ähnlich besiedelt sind wir, und die Entfernung all dieser Lebensformen zueinander beträgt praktisch null. Sporen, Bakterien und Viren schweben in der Luft, bilden organische Ketten, deren Teil wir sind, verflechten uns alle zu einem einzigen Superorganismus, und ebenso verhält es sich im Meer.
   Was bist du, Karen Weaver?
   Ich bin in weitem Umkreis die einzige menschliche Lebensform — sieht man von Rubin ab, der keine Lebensform mehr ist, weil tot.
   Du bist ein Partikel.
   Ein Partikel in der Vielfalt. Keinem anderen Menschen gleichst du vollständig, wie keine Zelle einer anderen in jedem Detail gleicht. Irgendetwas ist immer anders. So musst du die Welt betrachten. Als Spannbreite von Ähnlichkeiten. Ist es nicht tröstlich, dich als Partikel begreifen zu dürfen, wenn dir dafür Einzigartigkeit zugestanden wird?
   Du bist ein Partikel in Raum und Zeit.
   Der Tiefenmesser blinkt auf.
   Zweitausend Meter.
   Siebzehn Minuten. Seit siebzehn Minuten bin ich unterwegs. Das sagt dir diese Uhr?
   Ja.
   Um die Welt zu begreifen, musst du eine andere Zeit entdecken. Du müsstest dich erinnern, aber das kannst du nicht. Der Mensch ist seit zwei Millionen Jahren kurzsichtig. Homo sapiens hat die größte Zeitspanne im Verlauf seiner Evolution mit Jagen und Sammeln verbracht. Das hat sein Gehirn geformt, wie es heute ist. Die Zukunft unserer Vorfahren war immer nur das unmittelbar Folgende, alles darüber Hinausgehende so verschwommen wie lange Zurückliegendes. Wir lebten im Augenblick, primär interessiert an Fortpflanzung. Schlimme Katastrophen gerieten in Vergessenheit oder hielten Einzug in die Mythologie. Die Verdrängung war ein Geschenk der Evolution, aber heute ist sie zu unserem Fluch geworden. Immer noch überschaut unser Geist keinen Zeithorizont, der mehr als ein paar Jahre in die Vergangenheit und in die Zukunft reicht. Wenige Generationen, und wir verdrängen, ignorieren, vergessen. Außerstande, uns Vergangenes zu merken und daraus zu lernen, sind wir unfähig, die Zukunft zu betrachten.
   Menschen sind nicht geschaffen, das Ganze zu sehen und ihren Platz darin. Wir teilen nicht die Erinnerung der Welt.
   Blödsinn! Die Welt erinnert sich nicht. Menschen erinnern sich, aber nicht die Welt. Das mit der Welterinnerung ist esoterischer Quatsch.
   Meinst du? Die Yrr erinnern sich an alles. Sie sind die Erinnerung.
   Weaver fühlt sich schwummrig.
   Sie überprüft die Sauerstoffzufuhr. Allmählich schlagen ihre Gedanken Purzelbäume. Diese Tauchfahrt scheint zu einem halluzinogenen Trip zu werden. Ihre Gedanken verteilen sich im Dunkel der Grönländischen See in alle Richtungen.
   Wo bleiben die Yrr?
   Sie sind hier.
   Wo?
   Du wirst sie sehen.
   Du bist ein Partikel in der Zeit.
   Durch stille Dunkelheit sinkst du hinab mit unzähligen deinesgleichen, ein kalter, salziger Wasserpartikel, müde und schwer geworden nach der wärmezehrenden Reise von den Tropen hinauf in diese unwirtliche Region, bis ihr euch im Grönländischen und Norwegischen Tiefseebecken gesammelt habt, in einem großen Pool eiskalten, schweren Wassers. Von dort schwappst du über den untermeerischen Gebirgszug zwischen Grönland, Island und Schottland ins Atlantische Becken. Endlos geht es über Lavahaufen und Sedimentablagerungen in den Abgrund. Ihr seid ein mächtiger Strom, du und die anderen, und bei Neufundland werdet ihr zudem verstärkt durch Wassermassen aus der Labradorsee, die weniger dicht und kalt sind. In Höhe der Bermudas nähern sich kreisrunde Ufos quer über den Ozean aus dem Mittelmeer, warme, extrem salzige Wasserwirbel, die aus der Straße von Gibraltar rübergeflogen kommen und zu euch stoßen. Mittelmeer, Labrador, Grönland, all diese Wasser vermischen sich, und ihr strebt weiter nach Süden, tief unten im Meer.
   Du wirst Zeuge, wie sich die Erde selbst erschafft.
   Dein Weg führt dich entlang des Atlantischen Rückens, einer jener gewaltigen Höhenrücken, die sämtliche Ozeane längs durchziehen. Zusammen so groß wie alle Kontinente, aneinander gereiht 60000 Kilometer lang, gekrönt von Reihen um Reihen aktiver und erloschener Vulkane. Mehr als 3000 Meter ragen die Rücken über dem Meeresboden auf, immer noch fast ebenso viel Wasser haben sie über sich, und spalten die Erde. Wo ihre Achse sich spreizt, dringt Magma aus unterirdischen Kammern an die Oberfläche, aber anstatt explosionsartig zu verdampfen, quillt das flüssige Gestein unter dem Druck der kalten Tiefsee in trägen Kissen hervor. Es drängt sich zwischen die Flanken der ozeanischen Rücken und schiebt sie auseinander mit der Beharrlichkeit impertinenter, dicker Kinder — neu geborener Meeresboden, der erst noch seine Form finden muss. Unendlich langsam driften die Hänge auseinander. Heiß ist der Boden, wo die Lava das Schwarz der Tiefsee leuchtend rot mäandert. Erdbeben schütteln die Schlucht, aus der sie quillt, und die Kammregion zu beiden Seiten. Weiter außen kühlen die Hänge ab. Älteres Gestein formt dort die Topographie, mit wachsendem Abstand zum Rücken immer älter, kälter und dichter werdend, bis der alte, kalte, schwere Boden zu den endlosen Abyssalen abfällt, den Tiefseeebenen, die sich, gespickt mit Bergen und überzogen mit Schichten aus lockerem Sediment, dahinwälzen, Förderbänder vergangener Zeitalter, nach Westen Amerika zustrebend und ostwärts gen Europa und Afrika, bis sie sich eines Tages unter die Landmassen schieben werden, um tief in den Erdmantel hinabzutauchen und aufzuschmelzen im Brennofen der Asthenosphäre, die sie Jahrmillionen später zurückschicken wird in die Schluchten der ozeanischen Rücken, als rot glühende Magma.
   Welch ein Kreislauf! Rund um den Erdball wandert der Meeresboden unermüdlich dahin, gespalten vom Druck des Erdinnern und gezogen vom Gewicht seiner abtauchenden Bodenplatten. Ein beständiges Pressen, Ziehen und Zerren, geolithische Geburtswehen und Bestattungszeremonielle, die das Gesicht der Erde formen. Afrika wird sich mit Europa vereinen. Wieder vereinen! Die Kontinente verschieben sich. Aber sie bewegen sich nicht wie Eisbrecher durch spröde Erdkruste, sondern werden passiv auf ihr mitgeschleppt, seit Rodinia, der erste aller Urkontinente, im Präkambrium auseinander gerissen wurde. Nichts anderes geschieht, als dass seine Bruchstücke immer wieder zueinander streben, sich zu Gondwana und zuletzt Pangäa fanden und erneut getrennt wurden, eine versprengte Familie mit einer 165 Millionen Jahre alten Erinnerung an die letzte zusammenhängende Landmasse mit einem einzigen Ozean drum herum, gebunden an die Fließgeschwindigkeit zähflüssigen Mantelgesteins, dazu verdammt, einander auf einer Kugel zu suchen.
   Du bist ein Partikel.
   Du erlebst nur einen Atemzug von alledem. Während sich der atlantische Meeresboden fünf Zentimeter weitergeschoben hat, bist du bereits ein Jahr gewandert. Auf dieser Reise siehst du Leben ohne Sonne. Die Lava erkaltet schnell und bildet Verwerfungen und Risse. Meerwasser dringt in den neuen, porösen Boden.
   Kilometertief fließt es hinab bis unmittelbar über die heißen Magmakammern im Erdinnern, kehrt zurück nach oben, gesättigt von Leben spendender Wärme und Mineralien, pechschwarz gefärbt von Sulfiden, und schießt aus haushohen, schornsteinähnlichen Gebilden, kochend heiß, ohne zu kochen. In solcher Tiefe kocht 350 Grad heißes Wasser nicht, es strömt nur und verteilt seinen Reichtum an Nährstoffen in die unmittelbare Umgebung, ein hundertmal größeres Angebot als in den umliegenden Gewässern. Auf deiner Reise in das unbekannte Universum hast du den ersten Außenposten fremdartiger Lebensgemeinschaften erreicht, die kein Sonnenlicht brauchen. Um die Schwarzen Raucher siedeln meterlange Würmer in dichten Bündeln, armlange Muscheln, Heerscharen blinder weißer Krabben und Fische, vor allem aber — Bakterien. Sie sind Selbstversorger, ebenso wie grüne Pflanzen, die sich gewissermaßen von Sonnenlicht ernähren und von denen man alles Leben abhängig glaubte. Doch diese Bakterien brauchen keine Sonne. Sie oxidieren Schwefelwasserstoff. Ihre Lebensquelle ist das Erdinnere. In ausgedehnten Rasen bedecken sie den Boden der Lebensgemeinschaften an den Schwarzen Rauchern und leben in Symbiose mit den Würmern und den Muscheln und manchen Krebsen, und andere Krebse wiederum und Fische leben von den Muscheln und Würmern, ohne dass ein einziger Sonnenstrahl erforderlich wäre.
   Vielleicht sind die ältesten Lebensformen des Planeten nicht an der Oberfläche entstanden, Karen, sondern hier, in der lichtlosen Tiefsee, und du erblickst den wahren Garten Eden auf deiner Reise durch die atlantische Tiefsee. Ganz sicher sind die Yrr die ältere der zwei intelligenten Rassen, deren eine den festen Grund geerbt und ihre Wiege dafür verloren hat.
   Stell dir vor, die Yrr sind die gewollte Rasse.
   Die göttliche.
   Systemcheck.
   Weaver ruft ihre partikelgewordenen Gedanken zurück, die soeben Afrika passiert haben. Sie muss sich dazu zwingen, sich auf den Moment zu konzentrieren. Ebenso gut könnte sie schon hundert Jahre unterwegs sein. Draußen zieht in einiger Entfernung geisterhaftes Leuchten vorbei, aber es sind nicht die Yrr, sondern Schwärme winziger Leuchtgarnelen. So genau lässt sich das nicht erkennen. Vielleicht sind es auch kleine Tintenfische oder etwas völlig anderes.
   Zweieinhalbtausend Meter.
   Noch etwa tausend Meter bis zum Grund. Um sie herum sollte nichts als freies Wasser sein, aber plötzlich beginnt das Sonar hektisch zu klicken. Es sagt ihr, dass sie sich etwas Massivem nähert. Es muss von gewaltiger Größe sein, und genau genommen nähert es sich ihr. Eine undurchdringliche Fläche, die von oben herabsinkt, geradewegs auf sie zu. Weaver fühlt ihre latente Angst in Panik umkippen. Sie fliegt eine 180-Grad-Kurve, während das Riesending näher kommt. Die Außenmikrophone leiten hohlen, unirdischen Krach ins Innere des Deepflight, der immer lauter wird, ein gespenstisches Heulen und Stöhnen. Weaver ist versucht, die Flucht zu ergreifen, doch dann siegt die Neugier. Sie hat genug Abstand zwischen sich und das unbekannte Etwas gelegt, und es sieht nicht so aus, als sei das Wesen hinter ihr her.
   Falls es überhaupt ein Wesen ist.
   Nach einer weiteren Kurve gleitet sie mit verminderter Geschwindigkeit wieder darauf zu. Es ist jetzt auf ihrer Höhe, dicht vor ihr. Das Deepflight zittert in Turbulenzen.
   Turbulenzen?
   Was kann so groß werden? Ein Wal? Aber das hier hat die Ausmaße von zehn Walen. Oder von hundert. Oder noch mehr.
   Sie schaltet die Scheinwerfer ein.
   Im selben Moment erkennt sie, dass sie dem Ding näher gekommen ist als beabsichtigt. Am Rand des Lichtkegels wird es sichtbar. Einen Moment lang ist Weaver vollkommen verwirrt, außerstande, Art und Herkunft der glatten Fläche zu bestimmen, die da an ihr vorbeizieht, bis plötzlich etwas Helles in den Scheinwerfern aufleuchtet. Es sind meterlange geschwungene und gerade Linien, auf schreckliche Weise vertraut, und sie ergeben:
 
USS Inde …
 
   Der Schock lässt sie aufschreien.
   Völlig ohne Nachhall verklingt der Schrei und bringt ihr ins Bewusstsein, wie abgekapselt sie in ihrer Röhre ist. Und wie einsam. Noch einsamer jetzt, nachdem sie das Schiff an sich vorbeisinken sieht, und ihre Gedanken rasen zu Anawak, Johanson, Crowe, Shankar, den anderen.
   Leon!
   Fassungslos starrt und starrt sie.
   Die Kante des Flugdecks taucht kurz auf und verschwindet wieder. Der Rest bleibt im Dunkel verborgen. Nur wild tanzende Blasen von entweichender Luft sind noch zu sehen.
   Dann folgt der Sog und reißt das Deepflight mit hinab.
   Nein!
   Fieberhaft versucht sie, das Boot zu stabilisieren. Verdammte Neugier! Warum hat sie nicht in gebührendem Abstand warten können? Die Systeme zeigen an, dass alles Mögliche nicht in Ordnung ist. Weaver steuert gegen und zieht bei maximaler Schubkraft nach oben. Das Boot kämpft und taumelt, folgt der Independence in ihr Grab, dann endlich stellt die Konstruktion ihre ganze Genialität unter Beweis, und sie entkommt dem Sog und schnellt nach oben.
   Von einer Sekunde auf die andere ist alles wieder so, als sei nichts gewesen.
   Weaver kann ihr Herz klopfen hören. Es dröhnt in ihren Ohren. Wie ein Kolben schießt das Blut in ihren Kopf. Sie schaltet die Scheinwerfer aus, senkt das Deepflight behutsam ab und setzt ihren Anflug auf die Tiefe des Grönländischen Beckens fort.
   Nach einer Weile, es können Minuten oder nur Sekunden sein, weint sie. Alles bricht sich Bahn. Sie heult wie ein Schlosshund. Was hat das zu bedeuten? Sie wusste, dass die Independence sinken wird, alle wussten es, aber so schnell?
   Doch, auch das haben wir gewusst.
   Aber sie weiß nicht, ob Leon noch lebt. Und was mit Sigur ist.
   Sie fühlt sich schrecklich allein.
   Ich will zurück.
   Ich will zurück!
   »Ich will zurück!«
   Tränenüberströmt, mit bebenden Lippen, beginnt sie am Sinn ihrer Mission zu zweifeln. Sie hat die Yrr nicht zu Gesicht bekommen, obwohl sie dem Meeresboden immer näher kommt. Sie checkt die Instrumente. Der Computer beruhigt sie. Er sagt, sie sei nun beinahe eine halbe Stunde unterwegs und 2700 Meter tief.
   Eine halbe Stunde. Wie lange soll sie hier unten noch ausharren?
   Willst du alles sehen?
   Was?
   Willst du alles sehen, kleiner Partikel?
   Weaver zieht die Nase hoch. Ein lautes und vernehmliches Schniefen, sehr irdisch im schwarzen Wunderland der Gedanken.
   »Papa?«, wimmert sie.
   Ruhig. Beruhige dich.
   Ein Partikel fragt nicht danach, wie lange etwas dauert. Er bewegt sich einfach nur oder steht still. Er vollzieht den Rhythmus der Schöpfung, ein folgsamer Diener des Ganzen. Dieses ständige Fragen nach Dauer ist nur dem Menschen eigentümlich dieses Ankämpfen gegen die eigene Natur, das Einteilen von Lebenszeit. Die Yrr interessieren sich nicht für Zeit. Sie tragen die Zeit in ihrem Genom, den Anbeginn des zellulären Lebens, als ozeanische Gesteinsblöcke vor 200 Millionen Jahren mit der Kontinentalmasse verwachsen, die das heutige Nordamerika bildet, als Grönland vor 65 Millionen Jahren von Europa wegzudriften begann, als sich vor 36 Millionen Jahren die topographischen Merkmale des Atlantiks ausformten, als Spanien noch weit von Afrika entfernt lag, als die untermeerischen Schwellen so weit absanken, dass vor 20 Millionen Jahren endlich der Wasseraustausch zwischen dem Arktischen und dem Atlantischen Ozean in Fluss kam, dem du deine Reise verdankst, Partikel, die hier im Grönländischen Becken begonnen hat und dich weiterführen wird, an Afrika vorbei dem Süden zu, zur Antarktis.
   Du bist unterwegs zum zirkumpolaren Strom, dem Rangierbahnhof der Meeresströmungen, zum ewigen Kreislauf. Von der Kälte in die Kälte.
   Zwar nur ein Partikel, bist du Teil einer Gesamtheit, die der Wassermenge von 80 Amazonas entspricht. Ihr fließt über den Meeresboden, passiert den Äquator und gelangt ins südatlantische Meeresbecken bis zur untersten Spitze Südamerikas. Bis hierhin verlief euer Fluss gleichmäßig und ruhig. Doch jenseits von Kap Horn gelangt ihr in stürmische Turbulenzen. Taumelnd und hüpfend wirst du hineingerissen in etwas, das dem Hauptverkehr rund um den Arc de Triomphe zur Mittagszeit gleicht, nur unendlich viel gewaltiger. Der Antarktische Zirkumpolarstrom bewegt sich von Westen nach Osten um den weißen Kontinent, ein Rangierbetrieb, in den alle Meere ein— und aus dem sie hervorgehen. Der kreisrunde Strom kommt nie zum Stillstand, prallt niemals gegen Land. Endlos jagt er sich selber. Er führt das Wasser von 800 Amazonas in sich, saugt alle Weltgewässer in sich hinein, zerreißt und mischt sie, löscht ihre Herkunft und Identität aus. Unmittelbar vor der Antarktis schwemmt es dich hoch in bibbernden Frost. Du treibst mit schäumenden Brechern über die Oberfläche und sinkst langsam wieder hinab, um Teil des großen, zirkumpolaren Karussells zu werden.
   Es trägt dich ein Stück mit und speit dich wieder aus.
   Erneut wanderst du nach Norden, in 800 Meter Tiefe. Alle Meere speisen sich aus dem kreisrunden, antarktischen Strom. Einiges Wasser gelangt zurück ins Zwischengeschoss des Atlantiks, anderes in den Indischen Ozean und das meiste in den Pazifik, auch du. Geschmiegt an Südamerikas Westflanke strömst du bis zum Äquator, wo die Passatwinde die Wasser teilen und tropische Hitze dich erwärmt. Du steigst zur Oberfläche und wirst nach Westen gezogen, mitten hinein ins Durcheinander Indonesiens: Inseln und Inselchen, Strömungen, Strudel, Untiefen und Wirbel, ein Durchkommen scheint unmöglich. Südlich treibt es dich an den Philippinen vorbei und durch die Makassarstraße zwischen Borneo und Sulawesi. Du könntest dich durch die Lombokstraße quetschen, aber da gibt es diese Umgehungsstraße östlich um Timor herum, eine bessere Route, über die du endlich den offenen Indischen Ozean erreichst.
   Jetzt auf Afrika zu.
   Die warmen Untiefen des Arabischen Meeres sättigen dich mit Salz. Entlang Mosambik reist du nach Süden, Agulhasstrom heißt eure Reisegesellschaft jetzt. Du fließt immer schneller in Vorfreude auf den Ozean deiner Herkunft, stürzt dich in das große Abenteuer, das so viele Seeleute das Leben gekostet hat, das Kap der Guten Hoffnung — und wirst zurückgeworfen. Zu viele Strömungen prallen hier aufeinander. Der antarktische Place de l’Etoile mit seinem Freitagnachmittagsverkehr ist allzu nahe. Sosehr du dich mühst, du kommst nicht recht voran. Schließlich löst du dich mit anderen in einem Wirbel von der Hauptströmung, und endlich treibst du in den Südatlantik. Mit der Äquatorströmung driften du und deinesgleichen nach Westen, in riesigen Wirbeln dreht ihr euch vorbei an Brasilien und Venezuela bis nach Florida und werdet auseinander gerissen.
   Du hast die Karibik erreicht, das Geburtsbecken des Golfstroms. Aufgeladen mit tropischer Sonne beginnst du deinen Zug hinauf nach Neufundland und weiter in Richtung Island, treibst stolz an der Oberfläche und verteilst generös deine Wärme an Europa, als hättest du endlos davon. Unmerklich wird dir kälter, und das verdunstende Wasser des Nordatlantiks hinterlässt dir eine Bürde aus Salz, die immer schwerer wiegt, und plötzlich findest du dich über dem Grönländischen Becken wieder, dem Ausgangspunkt deiner Reise.
   Du warst eintausend Jahre unterwegs.
   Seit der Isthmus von Panama den Pazifik vom Atlantik trennte, nehmen Wasserpartikel diesen Weg, seit mehr als drei Millionen Jahren. Seitdem gilt, dass nur eine Verschiebung der Kontinente den Verlauf der thermohalinen Zirkulation verändern könnte. Galt! Der Mensch hat das Klima aus dem Gleichgewicht gebracht. Und während sich die Klimakontrahenten noch darüber verbreiten, ob diese Erwärmung zu einem Abschmelzen der Polkappen und damit zu einem Stopp des Golfstroms führen könnte oder nicht, stoppt er bereits, weil die Yrr ihn stoppen. Sie stoppen die Reise der Partikel, sie stoppen die Wärme für Europa, sie stoppen die Zukunft der selbst ernannten Rasse Gottes. Denn sie wissen sehr genau, was geschehen wird, wenn die Zirkulation zum Erliegen kommt, ganz im Gegensatz zu ihren Feinden, die niemals wissen, welche Folgen ihr Handeln nach sich zieht, die sich nicht an die Zukunft erinnern, weil ihnen das genetische Gedächtnis fehlt, die Erkenntnis, wie aus Anfang Ende und aus Ende Anfang wird im Sinnschluss der Schöpfung.
   Tausend Jahre, kleiner Partikel. Mehr als zehn Menschengenerationen, und du hast die Welt einmal umrundet.
   Tausend solcher Reisen, und der Meeresboden hat sich einmal vollständig erneuert.
   Hunderte solcher Erneuerungen, und Meere sind verschwunden, Kontinente auseinander gerissen worden, während andere zusammenwuchsen, neue Ozeane sind entstanden, das Gesicht der Welt hat sich gewandelt.
   Eine Sekunde deiner Reise, kleiner Partikel, und einfachstes Leben entsteht und vergeht. Nanosekunden, und Elementarteilchen wechseln ihre Plätze. In noch kürzerer Zeit vollziehen sich chemische Reaktionen.
   Irgendwo dazwischen der Mensch.
   Über allem die Yrr.
   Der sich seiner selbst bewusst gewordene Ozean.
   Du hast die Welt durchreist, wie sie war und wie sie ist, als Teil des großen Kreislaufs, der keinen Anfang und kein Ende kennt, nur Variation und Wiederkehr. Seit dieser Planet geboren wurde, verändert er sich. Alle Lebewesen bilden ein einziges Gewebe, das die Erde überzieht, untrennbar in ihren Ernährungsbeziehungen miteinander verbunden. Einfaches wechselt mit Komplexem, viel Leben ist auf ewig verschwunden, anderes entwickelt sich neu, manches war immer da und wird die Erde besiedeln, bis sie in die Sonne stürzt.
   Irgendwo dazwischen der Mensch.
   Irgendwo in allem die Yrr.
 
Was siehst du?
 
   Was siehst du?
   Weaver fühlt sich unglaublich müde, als sei sie Jahre unterwegs gewesen. Ein müder kleiner Partikel, traurig und einsam.
   »Mama? Papa?«
   Sie muss sich zwingen, ihren Blick auf die Kontrollen zu lenken.
   Innendruck, okay. Sauerstoff, okay.
   Neigung: null.
   Null?
   Das Deepflight liegt waagerecht. Sie stutzt. Plötzlich ist sie wieder hellwach. Auch die Kontrolle für die Sinkgeschwindigkeit zeigt null an.
   Tiefe: 3466 Meter.
   Schwärze ringsum.
   Das Boot sinkt nicht mehr. Es liegt auf Grund. Sie hat den Boden des Grönländischen Beckens erreicht.
   Kaum traut sie sich, auf die Uhr zu sehen, weil sie Angst hat, etwas Schreckliches darauf zu erblicken — dass sie schon Stunden unten ist, dass sie nicht mehr genug Sauerstoff haben wird, um zur Oberfläche zurückzukehren, irgendetwas in dieser Art. Aber die Digitalanzeige verkündet in ruhigem Leuchten, ihr Sinkflug habe vor 35 Minuten begonnen. Sie war nicht wirklich weggetreten. Nur an die Landung kann sie sich nicht erinnern, aber offenbar hat sie alles richtig gemacht. Die Propeller sind gestoppt, die Systeme aktiv. Sie könnte sofort wieder aufsteigen.
   Und plötzlich beginnt es.
 
Kollektiv
 
   Zuerst glaubt Weaver an eine Sinnestäuschung. Ein blauer Schimmer, schwach und in einiger Entfernung. Als habe jemand tief dunkelblauen Staub von einer überdimensionalen Handfläche geblasen, wirbelt die Erscheinung auf und verlöscht wieder.
   Ein neues Aufleuchten, diesmal näher und großflächiger. Es bleibt und zieht sich in einem Bogen über das Boot hinweg, sodass Weaver nach oben schauen muss. Was sie erblickt, erinnert sie an eine kosmische Wolke. Es ist unmöglich zu sagen, wie weit entfernt und wie groß die Wolke ist, aber sie vermittelt ihr das Gefühl, nicht den Grund des Meeres, sondern den Rand einer fernen Galaxis erreicht zu haben.
   Dann verschwimmt das Blau. Einen Moment lang glaubt sie, es werde schwächer, um gleich darauf zu erkennen, dass sie einer Sinnestäuschung aufsitzt, denn tatsächlich geht diese Wolke in einer größeren auf, die sich langsam auf das Boot herniedersenkt.
   Plötzlich wird ihr klar, dass es keine gute Idee ist, auf dem Meeresboden zu liegen, wenn sie Rubin loswerden will.
   Und dafür ist jetzt der Moment. Jetzt oder nie.
   Sie kippt die Seitenflügel und startet die Propeller. Das Deepflight schürft ein kurzes Stück über den Boden, wirbelt Sediment auf und hebt ab. Blitze zucken über unermessliche, nachtschwarze Horizonte, und Weaver erkennt, dass die Verschmelzung eingesetzt hat.
   Das Kollektiv ist riesig.
   Von allen Seiten rast das blauweiße Leuchten heran. Das Deepflight hängt inmitten der verschmelzenden Wolke. Weaver weiß, dass die Gallerte zu einem äußerst zähen Gewebe kontraktieren kann — sie will lieber nicht darüber nachdenken, was mit ihrem Tauchboot passiert, wenn sich der Muskel aus Einzellern um sie schließt. Kurz hat sie das Bild einer Faust vor Augen, die ein rohes Ei zerdrückt.
   Sie ist etwas mehr als zehn Meter über dem Boden.
   Das muss reichen.
   Jetzt.
   Ein Fingerdruck, der alles entscheidet. Einmal nicht richtig hingeschaut, vor Nervosität oder Angst zittrig geworden, und sie öffnet die falsche Abdeckung und wird augenblicklich sterben. In dreieinhalbtausend Meter Tiefe herrscht ein Druck von 385 Atmosphären. Man verliert nicht unbedingt seine äußere Gestalt, aber definitiv sein Leben.
   Doch Weaver öffnet die richtige Haube.
   Neben ihr stellt sich die Abdeckung der Copilotenröhre senkrecht.
   Explosionsartig schießt Luft nach draußen und reißt Rubins Körper hoch und ein Stück nach draußen. Weaver beschleunigt ihr Unterwasserflugzeug, das mit geöffneter Röhre kaum noch steuerbar ist, und lässt es unvermittelt abstürzen, wodurch Rubin endgültig hinauskatapultiert wird. Vor dem blauweißen, näher rückenden Gewitter schwebt er als schwarze Silhouette. Der fremde Lebensraum zerquetscht sein Gewebe und seine Organe, zerdrückt seinen Schädel, bricht ihm unter dem Druck seiner eigenen Muskulatur die Knochen und presst seine Körperflüssigkeiten nach draußen.
   Alles ist erleuchtet.
   Rubins sich drehender Körper wird erfasst von Gallerte und gegen das fliehende Tauchboot gedrückt. Auch von der anderen Seite kommt der Organismus, von allen Seiten zugleich, von oben und unten. Er schmiegt sich um das Boot und Rubin, verfestigt sich, und Weaver schreit in Todesangst auf …
   Das Boot ist frei.
   Fast ebenso schnell, wie die Yrr herangerast sind, haben sie sich wieder vom Boot zurückgezogen. Weit zurückgezogen. Wenn es überhaupt irgendeine Begrifflichkeit gibt, die das Verhalten des Kollektivs in diesem Moment beschreiben könnte, würde man wohl sagen: zutiefst entsetzt.
   Weaver hört sich wimmern.
   Das Meer um sie herum ist immer noch blau.
   Verschwommene Lichter jagen einander in der gewaltigen Gallertmasse, die das Boot umgibt wie ein geschlossener, endlos hinaufreichender Wall. Sie wendet den Kopf und erblickt Rubins zerstörtes Gesicht, schwach beleuchtet von den Instrumenten der Konsole. Es ist von dem kontraktierenden Gewebe seitlich gegen die Sichtkuppel ihrer Röhre gedrückt worden und starrt aus dunklen Höhlen ins Innere. Seine Augäpfel haben sich unter dem hydrostatischen Druck aufgelöst. Schwarze Flüssigkeit sickert an ihrer statt hervor, dann löst sich der Körper des Toten langsam und fällt zurück in die Nacht. Wieder ist er nur ein Schatten vor dem erleuchteten Hintergrund, mit seltsam trudelnden Bewegungen, als vollführe er zu Ehren heidnischer Gottheiten einen unbeholfenen, unendlich langsamen Tanz.
   Weaver hyperventiliert, zwingt sich zur Ruhe. Unter anderen Umständen wäre ihr längst schlecht geworden, aber für Befindlichkeiten hat sie jetzt keine Zeit.
   Der Ring zieht sich weiter zurück und wölbt sich an den Rändern hoch. Von unten wächst Schwärze nach. Wellen durchlaufen den Saum des Organismus. Nach allen Seiten kräuselt er sich höher und höher, und die Leiche des Biologen verschmilzt mit der Dunkelheit. Gleichzeitig senken sich schlanke, spitz zulaufende Tentakel aus der Höhe herab, lang wie Urwaldlianen. Sie bewegen sich koordiniert und zielstrebig, finden Rubin und beginnen ihn abzutasten. Weaver kann seinen Körper nicht sehen, aber das Sonar zeigt ihn an, und die tastenden, vorsichtigen Bewegungen der Fühler lassen auf menschliche Umrisse schließen.
   Dünnere, feinere Fühler entwachsen den Spitzen und beschäftigen sich ausgiebig mit einzelnen Körperpartien, bevor sie weiterwandern. Mitunter halten sie still oder verzweigen sich. Manchmal gleiten sie übereinander, als fänden sie sich zu einer lautlosen Beratung. Im Gegensatz zu allem, was sie bisher von den Yrr gesehen hat, leuchten diese Fühler in changierendem Weiß. Das Ganze mutet choreographisch an, ein stummes Ballett, und plötzlich hört Weaver von fern die Musik ihrer Kindheit: Debussys La plus que lente, den mehr als langsamen Walzer, das Lieblingsstück ihres Vaters. Sie ist verblüfft und entzückt, und alle Angst fällt von ihr ab. Natürlich spielt niemand hier unten La plus que lente, aber es würde passen, denn dieses erkundende Spiel ist von lähmender Schönheit, und nichts anderes kann sie in diesem Moment erkennen als …
   Schönheit.
   Sie hat ihre Eltern wieder gefunden inmitten von Schönheit.
   Weaver legt den Kopf in den Nacken.
   Über ihr wölbt sich eine blau schimmernde Glocke von gigantischen Dimensionen, hoch wie eine Himmelskuppel.
   Weaver verehrt keinen Gott, aber sie muss es sich ins Gedächtnis rufen, um nicht in murmelndes Beten zu verfallen. Sie erinnert sich an Crowes Worte, die von den allzu irdischen Außerirdischen gesprochen hat, von menschlicher Nabelschau in der Darstellung des Andersartigen, anstatt kühneren Visionen Raum zu geben. Vielleicht würde Crowe eben diese Reinheit des Lichts bemängeln und sich eine weniger symbolträchtige Beleuchtung wünschen als ausgerechnet heiliges Weiß. Aber das hier ist mit nichts vergleichbar. Weiß ist es einzig darum, weil Biolumineszenz oft weißes Licht erzeugt, ebenso wie blaues, grünes oder rotes. Kein Gott offenbart sich hier, sondern lediglich der angeregte Zustand leuchtfähiger Einzeller. Und ganz davon abgesehen — welcher dem Menschen nahe stehende Gott würde sich in Tentakeln manifestieren?
   Was Weaver beinahe die Sinne raubt, ist die Erkenntnis, dass es kein Zurück mehr gibt. Der Streit, ob Einzeller Intelligenz entwickeln können. Die Frage, ob aus der Selbstorganisation all dieser Zellen auf bewusstes Leben zu schließen sei oder vielleicht doch nur auf eine unvermutet hoch entwickelte Form von Mimikri. Die Yrr hatten sogar noch einen draufgelegt, um sich einen Platz im Schauerkabinett der Geschichte zu sichern, als sie tentakelschwingend in den Rumpf der Independence eindrangen, gallertige Monster, gegen die sich Wells’ Marsianer wie Trottel ausnahmen. Das alles verliert jede Bedeutung angesichts des phantastischen, fremdartigen Schauspiels. Was Weaver erblickt, bedarf keines weiteren Beweises für die Existenz ausgeprägter, definitiv nichtmenschlicher Intelligenz.
   Ihr Blick verliert sich in dem blauen Gewölbe, bis sie den Scheitelpunkt erreicht, aus dem sich langsam etwas herabsenkt — ein Gebilde, dessen Unterseite die Tentakel entspringen. Es ist von annähernd runder Form und groß wie ein Mond. Unter der weißen Oberfläche huschen graue Schatten dahin. Komplizierte Muster entstehen für Sekundenbruchteile, Nuancen von Weiß in Weiß, symmetrisches Aufflammen, blinkende Reihen von Punkten und Linien, kryptische Codes, ein Fest für jeden Semiotiker. Auf Weaver macht das Wesen den Eindruck eines lebenden Computers, in und auf dem sich Vorgänge von ungeheurer Komplexität vollziehen. Sie sieht dem Ding beim Denken zu, und dann begreift sie, dass es für das ganze Drumherum mitdenkt, für die ganze gewaltige Masse, das blaue Firmament, und endlich wird ihr bewusst, was sie da sieht.
   Sie hat die Königin gefunden.
 
Die Königin nimmt Kontakt auf.
 
   Weaver wagt kaum zu atmen. Der tonnenschwere Druck hat die Flüssigkeiten in Rubin komprimiert, aber zugleich bewirkt er, dass sie den zerstörten Körper verlassen und sich im Wasser verteilen. Überall dort, wo sie ihm die Lösung gespritzt haben, wird konzentriertes Pheromon hinausgeschwemmt, auf das die Yrr instinktiv reagiert haben. Kurz hat die Verschmelzung stattgefunden, umso jäher endete sie. Immer noch ist Weaver unsicher, ob ihr Plan aufgehen wird. Aber wenn sie Recht behält, muss die Erfahrung das Kollektiv in babylonische Verwirrung gestürzt haben — mit dem Unterschied, dass man in Babylon einander zwar erkannte, jedoch nicht mehr verstand, während das Kollektiv versteht, ohne zu erkennen. Die pheromonische Botschaft wurde nie zuvor von etwas anderem verbreitet und verstanden als von Yrr. Das Kollektiv kann Rubin nicht erkennen. Eindeutig ist er der Feind, dessen Ausrottung man beschlossen hat, doch der Feind sagt: verschmelzen.
   Rubin sagt: Ich bin Yrr.
   Was mag in der Königin vorgehen? Durchschaut sie den Trick? Erkennt sie, dass Rubin natürlich kein Yrr-Kollektiv ist, dass seine Zellen fest zusammengewachsen sind, dass ihm die Rezeptoren fehlen? Er wird bei weitem nicht der erste Mensch sein, den die Yrr eingehend untersuchen. Alles, was sie finden, klassifiziert Rubin als Feind. Nach Yrr’scher Logik ist jemand, der nicht Yrr ist, entweder zu ignorieren oder zu bekämpfen, aber haben Yrr jemals Yrr bekämpft?
   Können sie sicher sein?
   Wenigstens in diesem Punkt hegt Weaver keinen Zweifel, und sie weiß, dass Johanson, Anawak und alle anderen es ebenso gesehen hätten. Die Yrr töten einander nicht. Sie stoßen kranke und defekte Zellen ab, und das Pheromon besorgt den Zelltod, aber das ist nicht viel anders, als wenn ein Körper abgestorbene Hautschuppen abstößt. Man würde nicht von einem Kampf der Körperzellen gegeneinander sprechen, weil sie zusammen ein einziges Wesen ergeben, und so ist es gewissermaßen auch mit den Yrr. Sie sind unzählige Milliarden und doch eines. Selbst verschiedene Kollektive mit verschiedenen Königinnen sind zuletzt ein einziges Wesen mit einem einzigen Gedächtnis, ein weltumspannendes Gehirn, das falsche Entscheidungen treffen mag, jedoch keinerlei moralische Schuld kennt, das Raum für individuelle Ideen schafft, ohne dass eine einzelne Zelle je Anspruch auf Bevorzugung geltend machen könnte, innerhalb dessen keine Strafen verkündet und keine Kriege geführt werden. Es gibt nur intakte und defekte Yrr, und was defekt ist, stirbt.
   Doch niemals wird von einem toten Yrr ein pheromonischer Kontakt ausgehen wie von diesem Stück Fleisch in Menschengestalt, das ein Feind ist, das offenbar tot ist und doch beides nicht ist.
   Karen, lass die Spinne in Ruhe.
   Karen ist klein und hat ein Buch zur Hand genommen, um eine Spinne totzuschlagen, die ebenfalls klein ist, aber den unverzeihlichen Fehler begangen hat, als Spinne auf die Welt zu kommen.
   Warum?
   Die Spinne ist hässlich.
   Das liegt im Auge des Betrachters. Wieso findest du die Spinne hässlich? Blöde Frage. Warum ist eine Spinne hässlich? Weil sie es nun mal ist.
   Nichts schaut einen da mit kullerrunden Babyaugen an, nichts daran ist süß und zum Liebhaben, man kann sie nicht streicheln, sie sieht fremdartig aus und böse und so, dass sie weggehört.
   Das Buch saust hinunter, und die Spinne ist Matsch.
   Später, sehr bald schon, wird Karen diese Tat bitterlich bereuen, als sie vor dem Fernseher sitzt und eine weitere Folge von Biene Maja guckt. Dass Bienen okay sind, hat sie gelernt. In dieser Folge kommt auch eine Spinne vor, die mit ihren acht Beinen und dem starren Blick den sofortigen Gebrauch des Buches rechtfertigen würde. Aber plötzlich öffnet die Spinne einen schmalen, lippenlosen Mund und spricht mit einer quiekigen, entzückenden Kinderstimme. Sie stößt keine wilden Drohungen aus, wie es kleine Mädchen von Spinnen erwarten würden, sondern entpuppt sich als das personifizierte Gute, liebreizend und süß.
   Plötzlich kann sie sich nicht mehr vorstellen, eine Spinne zu erschlagen. Schlimmer noch, die eine wird ihr im Traum erscheinen und sie mit dieser Kinderstimme anklagen, und es wird ganz und gar schrecklich werden, und Karen fängt an zu heulen.
   Damals hat sie Respekt gelernt.
   Sie hat gelernt, was Jahre später an Bord der Independence zu einer Idee reift. Wie man es anstellen könnte, dass eine hochintelligente Spezies eine andere unter völliger Umgehung des Intellekts überlistet, um einen Aufschub zu erwirken, vielleicht sogar etwas wie gegenseitiges Verstehen. Und dass der Mensch — gewohnt, Noten für Höherentwicklung nach dem Grad der Menschenähnlichkeit zu verteilen — sich so weit aufgibt, dass er versucht, Yrr-ähnlich zu werden.
   Welch eine Zumutung für die Krone der Schöpfung!
   Je nachdem, wen man darunter versteht.
   Über ihr schwebt der weiße, denkende Mond.
   Und sinkt tiefer.
   Die Tentakel rollen Rubin ein, bis er wieder sichtbar wird als von Gallerte mumifizierter Torso, ziehen ihn ins Innere. Machtvoll schwebt die Königin auf das Deepflight hernieder, um ein Vielfaches größer als das Tauchboot. Plötzlich ist die ozeanische Schwärze verschwunden. Der Leib der Königin beginnt das Gefährt zu umschließen. Alles ist erleuchtet. Um Weaver herum pulsiert weißes Licht. Die Königin nimmt das Tauchboot in sich auf und einverleibt es ihren Gedanken.
   Weaver fühlt die Angst zurückkehren. Die Luft bleibt ihr weg. Sie widersteht dem Impuls, die Propeller zu starten, obwohl sie nichts sehnlicher will, als hier rauszukommen. Der Zauber ist verflogen und weicht realer Bedrohung, aber sie weiß, dass die Propeller in dieser festen, flexiblen Gallerte kaum mehr bewirken werden, als das Wesen zu verärgern. Vielleicht werden sie es auch amüsieren oder gleichgültig lassen, aber auf alle Fälle ist es besser, gar nicht erst an Flucht zu denken.
   Sie spürt, wie das Boot angehoben wird.
   Kann das Wesen sie sehen?
   Weaver hat keine Vorstellung davon, wie das gehen soll.
   Das Kollektiv hat keine Augen, aber ist es auszuschließen?
   Sie hätten so viel mehr Zeit gebraucht an Bord der Independence.
   Inständig hofft sie, dass das Wesen sie irgendwie sehen oder auf andere Weise durch die Glaskuppel wahrnehmen kann. Und dass die Königin nicht der Verlockung erliegt, die Röhre zu öffnen, um Weaver zu betasten. Es wäre ein vielleicht gut gemeinter, aber ziemlich finaler Versuch der Kontaktaufnahme.
   Das wird sie nicht tun. Sie ist intelligent.
   Sie?
   Wie schnell man doch in menschliche Denkweisen verfällt.
   Plötzlich muss Weaver lachen. Als hätte sie damit ein Signal gegeben, wird das weiße Licht um sie herum durchlässiger. Es scheint sich auf eigentümliche Weise nach allen Seiten zu entfernen, bis sie plötzlich begreift, dass sich das Wesen, das sie Königin nennt, auflöst. Es zerfließt, dehnt sich aus und umgibt sie für die Dauer eines wunderbaren Augenblicks wie der Sternenstaub des jungen Universums. Direkt vor der Kuppel tanzen winzige weiße Punkte. Wenn es Einzeller sind, besitzen sie eine beachtliche Größe, fast wie kleine Erbsen.
   Dann ist das Deepflight draußen, und der Mond verschmilzt erneut und schwebt nun unter ihr, getragen von einer endlos ausgreifenden Scheibe aus dunklem Blau. Die Königin muss das Boot ein beträchtliches Stück angehoben haben. Auf der Oberfläche der Scheibe vollzieht sich etwas, für das Weaver nur einen Begriff finden kann: Verkehrsgewimmel. Myriaden leuchtender Wesen schweben über die blaue Sphäre hinweg. Chimärenartige Fische, deren Körper in komplexen Mustern erstrahlen, schießen aus dem Innern der Gallerte, treffen zusammen und sinken wieder in die Masse hinein. Von fern funkelt es wie Feuerwerk, dann erglühen Kaskaden roter Punkte unmittelbar vor dem Tauchboot, die sich zu immer neuen Anordnungen formen, schneller, als das Auge zu folgen vermag. Während sie herabsinken und sich dem weißen Zentrum nähern, nehmen sie langsam Gestalt an, doch erst unmittelbar über der Königin offenbaren sie ihre wahre Natur, und Weaver wird schwindelig. Es ist kein Schwarm kleiner Fische, wie sie gedacht hat, sondern ein einziges, riesiges Wesen mit zehn Armen und einem langen, schlanken Körper.
   Ein Kalmar. Groß wie ein Autobus.
   Die Königin schickt einen hellen Faden aus und berührt die Mitte des Kalmars, und das Wechselspiel der roten Flecken kommt zur Ruhe.
   Was geschieht da?
   Weaver kann den Blick nicht abwenden. Vor ihren Augen glühen Planktonschwärme auf wie Schnee, von unten nach oben fallend. Ein Geschwader neongrüner Tiefseetintenfische zieht vorbei, mit Augen auf Stielen. Blitze zucken über das unendliche Blau, die sich verlieren, wo ihr Licht nicht mehr zu Weaver vordringen kann.
   Sie schaut und schaut.
   Bis mit einem Mal alles zu viel wird.
   Plötzlich erträgt sie es nicht mehr. Sie merkt, dass ihr Boot wieder zu sinken beginnt, dem leuchtenden Mond entgegen, dass sie dieser schrecklich schönen, schrecklich fremden Welt ein weiteres Mal zu nahe kommen könnte, diesmal ohne eine Chance, sie wieder zu verlassen.
   Nein. Nein!
   Rasch schließt sie die immer noch offen stehende Röhre und pumpt Druckluft hinein. Das Sonar zeigt hundert Meter über Grund, abnehmend. Weaver überprüft Innendruck, Sauerstoff, Treibstoff. Keine Fehlermeldungen. Alle Systeme arbeiten. Sie kippt die Seitenflügel und startet die Propeller. Ihr Unterwasserflugzeug beginnt zu steigen, langsam erst, dann immer schneller, entkommt der fremden Welt am Boden des Grönländischen Beckens und strebt dem heimatlichen Himmel zu.
 
Rücksturz zur Erde.
 
   Nie zuvor in ihrem Leben hat Weaver in so kurzer Zeit so viele Gefühlszustände durchgemacht. Plötzlich schießen ihr tausend Fragen durch den Kopf. Wo sind die Städte der Yrr? Wo entsteht ihre Biotechnologie? Wie erzeugen sie Scratch? Was hat sie überhaupt gesehen von der fremden Zivilisation? Was hat man sie sehen lassen? Alles? Oder nichts von allem? War das eine schwimmende Stadt?
   Oder nur ein Wachtposten?
   Was siehst du? Was hast du gesehen?
   Ich weiß es nicht.
 
Geister
 
   Rauf, runter. Auf, ab.
   Langweilig.
   Die Wellen heben das Deepflight hoch und lassen es wegsacken. Rauf und runter. Auf und ab. Es treibt an der Oberfläche, eine ganze Weile, nachdem Weaver vom Grund des Beckens gestartet ist. Ein bisschen fühlt sie sich wie in einem schizophrenen Fahrstuhl. Auf, ab. Auf, ab. Es sind hohe, aber gleichmäßige Wellen. Selten ein Kamm, der sich bricht, eher eintöniges, in stete Bewegung geratenes, graues Schiefergebirge.
   Die Kuppel zu öffnen, wäre zu gefährlich. Das Deepflight würde augenblicklich voll laufen. Also bleibt sie einfach liegen und starrt hinaus in der Hoffnung, dass sich die See irgendwann beruhigt. Sie hat noch einiges an Treibstoff. Nicht genug, um es bis nach Grönland oder Svalbard zu schaffen, aber wenigstens in die Nähe davon. Solange es stürmt, wird sie die Reserven schonen — es wäre sinnlos, gegen die Wogen anzufahren, und abtauchen möchte sie nicht mehr. Sobald es ruhiger wird, kann sie sich auf Kreuzfahrt begeben. Wohin auch immer.
   Sie weiß nicht wirklich, was sie erlebt hat. Aber wenn das Wesen dort unten zu dem Schluss gekommen ist, dass Menschen etwas mit Yrr gemeinsam haben, und sei es nur den Duft, mag das Gefühl die Logik besiegt haben. Dann wurde der Menschheit Zeit geschenkt. Ein Kredit, zurückzahlbar in gutem Willen, Einsicht und Taten. Eines Tages werden die Yrr zu einem neuen Konsens gelangen, weil ihre Herkunft und Entwicklung, ihr ganzer Fortbestand auf Konsens gründet, und dann wird die Menschheit entschieden haben, wie dieser Konsens ausfällt.