»Wir mussten schnell sein. Methanhydrat ist nämlich ein ziemlich instabiles und unzuverlässiges Zeug«, fuhr Bohrmann fort. »Ich schätze, ihr wisst nicht sonderlich viel darüber, also werde ich versuchen, es so zu erklären, dass keiner vor Langeweile einschläft. — Was geschieht tief unten im Meer? Unter anderem entsteht Gas. Biogenes Methan zum Beispiel bildet sich seit Jahrmillionen beim Abbau von Tier— und Pflanzenresten, wenn Algen, Plankton und Fische verwesen und jede Menge organischer Kohlenstoff freigesetzt wird. Den Abbau besorgen vorzugsweise Bakterien. Nun ist es so, dass in der Tiefsee niedrige Temperaturen und ein außerordentlicher Druck herrschen. Alle zehn Meter nimmt der Wasserdruck um ein Bar zu. Flaschentaucher kommen 50 Meter tief, maximal 70, aber das war’s dann auch. Angeblich liegt der Tieftauchrekord mit Pressluft bei 140 Metern, was ich niemandem empfehlen würde. Solche Versuche enden meist tödlich. Und wir reden hier von Tiefen ab fünfhundert Metern! Da geht die Physik ganz eigene Wege. Wenn zum Beispiel Methan in großen Konzentrationen aus dem Erdinnern zum Meeresboden aufsteigt, geschieht dort unten etwas Außergewöhnliches. Das Gas verbindet sich mit dem kalten Tiefenwasser zu Eis. Ihr werdet in Zeitungen hin und wieder den Begriff Methaneis lesen. Das ist nicht ganz korrekt. Es ist nicht das Methan, das gefriert, sondern das umgebende Wasser. Die Wassermoleküle kristallisieren zu winzigen, käfigartigen Strukturen, in deren Innern sich jeweils ein Methanmolekül befindet. Sie komprimieren das Gas und drücken es auf kleinstem Raum zusammen.«
   Einer der Schüler hob zögerlich die Hand.
   »Du hast eine Frage?«
   Der Junge druckste herum.
   »Fünfhundert Meter sind nicht gerade tief, oder?«, sagte er schließlich.
   Bohrmann betrachtete ihn einige Sekunden schweigend.
   »Du bist nicht sonderlich beeindruckt, was?«
   »Doch, schon. Ich dachte nur … na ja, Jacques Picard war mit einem Tauchboot im Marianengraben, und das war elftausend Meter tief. Ich meine, das ist wirklich tief! Warum kommt dieses Eis da unten nicht vor?«
   »Hut ab, du hast die Geschichte der bemannten Tauchfahrt studiert. Was glaubst du denn persönlich?«
   Der Junge überlegte. Er zog die Schultern hoch.
   »Ist doch klar«, antwortete ein Mädchen an seiner statt.
   »Da unten ist zu wenig Leben. Ab tausend Meter Wassertiefe wird zu wenig organische Materie zersetzt, also entsteht zu wenig Methan.«
   »Ich wusste es«, murmelte Johanson oben auf der Brücke. »Frauen sind einfach intelligenter.«
   Bohrmann lächelte das Mädchen freundlich an. »Stimmt. Es gibt natürlich immer Ausnahmen. Und tatsächlich findet man auch in tieferen Bereichen Methanhydrat, selbst noch in drei Kilometern Tiefe, wenn Sedimente mit sehr hohem Gehalt an organischem Material dort eingespült werden. Das ist in manchen Randmeeren der Fall. Übrigens kartieren wir Hydratkonzentrationen auch in sehr flachem Wasser, wo der Druck eigentlich nicht ausreicht. Aber solange die Temperatur niedrig genug ist, kommt es trotzdem zur Hydratbildung, zum Beispiel am Polarschelf.« Er wandte sich wieder an alle. »Dennoch — die Hauptvorkommen lagern in den Kontinentalabhängen zwischen 500 und 1000 Metern. Komprimiertes Methan. Vor der nordamerikanischen Küste haben wir kürzlich ein unterseeisches Gebirge untersucht, einen halben Kilometer hoch und fünfundzwanzig Kilometer lang, und es besteht zum überwiegenden Teil aus Methanhydrat. Manches davon sitzt tief im Gestein, anderes liegt offen am Meeresboden. Inzwischen wissen wir dass die Ozeane voll davon sind, aber wir wissen noch mehr: Die unterseeischen Kontinentalabhänge werden von Methanhydrat überhaupt erst zusammengehalten! Das Zeug ist wie Mörtel. Würde man sich das ganze Hydrat auf einen Schlag wegdenken, dann wären die Kontinentalabhänge löchrig wie Schweizer Käse. Mit dem Unterschied, dass Schweizer Käse auch mit Löchern seine Form behält. Die Abhänge hingegen würden in sich zusammenstürzen!« Bohrmann ließ die Worte einige Sekunden wirken. »Das ist aber noch nicht alles. Methanhydrate sind, wie gesagt, nur stabil unter sehr hohem Druck in Verbindung mit besonders niedrigen Temperaturen. Das heißt, nicht alles Methangas gefriert, sondern nur die oberen Schichten. Denn zum Erdinnern hin nehmen die Temperaturen ja wieder zu, und tief im Sediment sitzen große Methanblasen, die nicht gefrieren. Sie bleiben gasförmig. Aber weil die gefrorene Schicht wie ein Deckel obendrauf liegt, können sie nicht entweichen.«
   »Ich habe etwas darüber gelesen«, sagte das Mädchen. »Die Japaner versuchen es abzubauen, richtig?«
   Johanson war belustigt. Er fühlte sich an seine Schulzeit erinnert. In jeder Klasse gab es einen, der exzeptionell gut vorbereitet war und immer schon die Hälfte von dem wusste, was er eigentlich lernen sollte. Er schätzte, dass dieses Mädchen nicht sonderlich beliebt war.
   »Nicht nur die Japaner«, erwiderte Bohrmann. »Alle Welt würde es am liebsten abbauen. Aber das gestaltet sich schwierig. Als wir die Hydratbrocken aus knapp achthundert Metern nach oben holten, lösten sich auf halber Höhe Gasblasen aus den Brocken. Was wir schließlich an Deck brachten, war immer noch viel, aber nur noch ein Teil dessen, was wir unten rausgebrochen hatten. Ich sagte ja, Methanhydrat wird schnell instabil. Würde man die Wassertemperatur in fünfhundert Meter Tiefe nur um ein Grad erhöhen, könnte es geschehen, dass alles dortige Hydrat auf einen Schlag instabil würde. Also haben wir schnell zugegriffen und die Brocken in Tanks mit flüssigem Stickstoff gepackt, wo sie stabil bleiben. Kommt mal ein Stück hier rüber.«
   »Er macht das gut«, bemerkte Johanson, während Bohrmann mit der Schülergruppe zu einem Regal aus grob geschweißten Stahlrahmen ging. Behältnisse unterschiedlicher Größe stapelten sich darin. Zuunterst standen vier silberfarbene, tankartige Gebilde. Bohrmann wuchtete eines davon hervor, streifte Handschuhe über und öffnete den Deckel. Es zischte. Weißer Dampf trat aus dem Innern. Einige der Schüler traten unwillkürlich einen Schritt zurück.
   »Das ist nur der Stickstoff.« Bohrmann griff in den Behälter und förderte ein faustgroßes Stück zutage, das aussah wie ein verschmutzter Eisklumpen. Nach wenigen Sekunden begann der Klumpen leise zu zischen und zu knacken. Er winkte das Mädchen zu sich heran, brach ein Stück von dem Klumpen ab und reichte es ihr.
   »Nicht erschrecken«, sagte er. »Es ist kalt, aber du kannst es unbesorgt in die Hand nehmen.«
   »Es stinkt«, sagte das Mädchen laut.
   Einige der Schüler lachten.
   »Richtig. Es stinkt nach faulen Eiern. Das ist das Gas. Es entweicht.« Er zerbrach den Brocken in weitere Stücke und verteilte sie. »Ihr seht, was passiert. Die Schmutzstreifen im Eis sind Sedimentpartikel. In wenigen Sekunden wird nichts mehr übrig sein als diese paar Krümel und eine Wasserpfütze. Das Eis schmilzt, und die Methanmoleküle brechen aus ihren Käfigen hervor und verflüchtigen sich. Man kann es auch so beschreiben: Was eben noch ein stabiles Stück Meeresboden war, verwandelt sich binnen kürzester Zeit in nichts. Das ist es, was ich euch zeigen wollte.«
   Er machte eine Pause. Die Schüler hatten ihre ganze Konzentration auf die zischenden, kleiner werdenden Brocken gelenkt. Anzügliche Kommentare über den Gestank gingen hin und her. Bohrmann wartete, bis sich die Brocken aufgelöst hatten, dann fuhr er fort:
   »Soeben ist aber noch etwas passiert, das ihr nicht sehen konntet. Und es ist entscheidend für den berechtigten Respekt, den wir vor Hydraten haben. Ich sagte vorhin, dass die Eiskäfige in der Lage sind, Methan zu komprimieren. Aus jedem Kubikzentimeter Hydrat, den ihr in Händen hattet, sind soeben 165 Kubikzentimeter Methan freigesetzt worden. Wenn das Hydrat schmilzt, verhundertfünfundsechzigfacht sich also das Volumen. Und zwar schlagartig. Was bleibt, ist die Pfütze in eurer Hand. Du kannst die Zungenspitze hineinhalten«, sagte Bohrmann zu dem Mädchen. »Sag uns, wie es schmeckt.«
   Die Schülerin sah ihn skeptisch an.
   »In das stinkende Zeug?«
   »Es stinkt nicht mehr. Das Gas hat sich verflüchtigt.
   Aber wenn du dich nicht traust, werde ich es eben tun.« Gekicher. Das Mädchen senkte langsam den Kopf und leckte an der Wasserlache.
   »Süßwasser«, rief sie überrascht.
   »Richtig. Wenn Wasser gefriert, wird das Salz sozusagen ausgesondert. Darum ist die komplette Antarktis das größte Süßwasserreservoir der Welt. Eisberge bestehen aus Süßwasser.« Bohrmann verschloss den Druckbehälter mit dem flüssigen Stickstoff und schob ihn wieder zurück ins Regal. »Was ihr gerade erlebt habt, ist der Grund, warum die Förderung von Methanhydrat sehr zwiespältig gesehen wird. Wenn unser Eingreifen dazu führt, dass die Hydrate instabil werden, sind vielleicht Kettenreaktionen die Folge. Was würde geschehen, wenn der Mörtel verpufft, der die Kontinentalabhänge zusammenhält? Welche Auswirkungen hätte es auf das Weltklima, wenn das Tiefseemethan in die Atmosphäre entweicht? Methan ist ein Treibhausgas, es könnte die Atmosphäre weiter aufheizen, dann werden wiederum die Meere wärmer und so weiter, und so fort. Über alle diese Fragen machen wir uns hier Gedanken.«
   »Warum versucht man es denn überhaupt zu fördern?«, fragte ein anderer Schüler. »Warum lässt man es nicht einfach unten?«
   »Weil es die Energieprobleme lösen könnte«, rief das Mädchen und schob sich ein weiteres Stück nach vorn. »Das haben sie über die Japaner geschrieben. Die Japaner haben keine eigenen Rohstoffe, sie müssen alles importieren. Methan würde ihre Probleme lösen.«
   »Das ist Blödsinn«, erwiderte der Junge. »Wenn es mehr Probleme macht, als welche aus der Welt zu schaffen, löst es gar nichts.«
   Johanson begann zu grinsen.
   »Ihr habt beide Recht.« Bohrmann hob die Hände. »Es könnte die Energieprobleme lösen. Das Ganze ist darum auch kein rein wissenschaftliches Thema mehr. Die Energiekonzerne haben die Forschung mit in die Hand genommen. Wir schätzen, dass in marinen Gashydraten doppelt so viel Methan-Kohlenstoff gebunden ist wie in allen bekannten Erdgas-, Erdöl— und Kohlevorkommen der Erde zusammen. Alleine auf dem Hydratrücken vor Amerika, einem Areal von immerhin 26000 Quadratkilometern, lagern 35 Gigatonnen davon. Das ist das Hundertfache dessen, was die kompletten Vereinigten Staaten im Jahr an Erdgas verbrauchen!«
   »Klingt eindrucksvoll«, sagte Johanson leise zu Sahling. »Ich wusste gar nicht, dass es so viel ist.«
   »Es ist noch viel mehr«, antwortete der Biologe. »Ich kann mir die Zahlen nie merken, aber er kennt sie genau.«
   Als hätte Bohrmann zugehört, sagte er: »Möglicherweise — wir können nur schätzen — lagern über zehntausend Gigatonnen eingefrorenes Methan im Meer. Hinzu kommen Reservoirs an Land, tief in den Permafrostböden Alaskas und Sibiriens. Nur um euch ein Gefühl für Mengen zu geben: Sämtliche heute verfügbaren Lagerstätten von Kohle, Erdöl und Erdgas machen zusammen gerade mal fünftausend Gigatonnen aus, rund die Hälfte. Kein Wunder, dass sich die Energiewirtschaft den Kopf darüber zerbricht, wie sie das Hydrat abbauen kann. Ein einziges Prozent davon würde auf einen Schlag die Brennstoffreserven der USA verdoppeln, und die verbrauchen weltweit mit Abstand das meiste. Aber es ist wie immer und überall: Die Industrie sieht eine riesige Energiereserve, die Wissenschaft eine Zeitbombe, also versuchen wir uns partnerschaftlich zu einigen, natürlich immer im Interesse der Menschheit. — Tja. Damit sind wir am Ende unserer Expedition angelangt. Danke, dass ihr da wart.« Er schmunzelte. »Will sagen, dass ihr zugehört habt.«
   »Und dass ihr was begriffen habt«, murmelte Johanson.
   »Hoffentlich«, ergänzte Sahling.
   »Ich hatte Sie anders in Erinnerung«, sagte Johanson wenige Minuten später, als er Bohrmann die Hand schüttelte. »Im Internet trugen Sie einen Schnurrbart.«
   »Abrasiert.« Bohrmann fasste an seine Oberlippe. »Im Grunde ist es sogar Ihre Schuld.«
   »Wie das?«
   »Ich habe über Ihre Würmer nachgedacht. Heute morgen noch. Ich stand vor dem Spiegel, und der Wurm kroch vor meinem geistigen Auge dahin und vollzog in der Körpermitte eine Drehung, der meine Hand mit dem Rasierer aus unerfindlichen Gründen folgte. Eine Ecke war ab, da habe ich auch den Rest der Wissenschaft geopfert.«
   »Ich habe also Ihren Schnurrbart auf dem Gewissen.« Johanson hob die Brauen. »Mal ganz was Neues.«
   »Kein Problem. Er wächst nach, sobald wir wieder auf Expedition gehen. Auf See wachsen alle mehr oder weniger zu. Ich weiß auch nicht, warum. Vielleicht brauchen wir die Vorstellung, wie Abenteurer auszusehen, um nicht seekrank zu werden. Kommen Sie, wir gehen ins Labor. Möchten Sie vorher eine Tasse Kaffee? Wir könnten einen Abstecher in die Kantine machen.«
   »Nein, ich bin neugierig. Kaffee kann warten. Sie gehen wieder auf Expedition?«
   »Im Herbst«, nickte Bohrmann, während sie gläserne Übergänge und Flure durchquerten. »Wir wollen zu den Subduktionszonen der Aleuten und kalte Quellen untersuchen. Sie haben Glück, mich in Kiel zu erwischen. Ich bin vor vierzehn Tagen aus der Antarktis zurückgekehrt, nach fast acht Monaten auf See. Einen Tag später kam Ihr Anruf.«
   »Was haben Sie acht Monate in der Antarktis getrieben, wenn ich fragen darf?«
   »Üwis ins Eis gebracht.«
   »Üwis?«
   Bohrmann lachte.
   »Überwinterer. Wissenschaftler und Techniker. Sie haben im Dezember ihre Arbeit in den Stationen aufgenommen. Die Truppe, die augenblicklich unten ist, holt Eisbohrkerne aus vierhundertfünfzig Metern Tiefe. Ist das nicht unglaublich? Dieses alte Eis enthält die Klimageschichte der letzten siebentausend Jahre!«
   Johanson dachte an den Taxifahrer.
   »Die meisten Menschen werden davon nicht sonderlich beeindruckt sein«, sagte er. »Sie werden nicht begreifen, wie die Klimageschichte helfen soll, Hungersnöte zu überwinden oder die nächste Fußballweltmeisterschaft zu gewinnen.«
   »Daran sind wir nicht ganz unschuldig. Die Wissenschaft hat sich die meiste Zeit in ihrem Universum eingekapselt.«
   »Finden Sie? Ihr kleiner Vortrag eben war alles andere als eingekapselt.«
   »Ich weiß aber nicht, ob das ganze Öffentlichkeitstheater viel nützt«, sagte Bohrmann, während sie eine Treppe hinunterschritten. »Am allgemeinen Desinteresse ändern auch Tage der offenen Tür nicht viel. Kürzlich hatten wir einen. Es war rappelvoll, aber wenn Sie anschließend jemanden gefragt hätten, ob man uns weitere zehn Millionen bewilligen sollte …«
   Johanson schwieg eine Weile. Dann sagte er: »Ich glaube, das Problem sind eher die Universen, die uns Wissenschaftler voneinander trennen. Was meinen Sie?«
   »Weil wir zu wenig miteinander reden?«
   »Ja. Oder meinethalben Wissenschaft und Industrie, oder Wissenschaft und Militär. Alle reden zu wenig miteinander.«
   »Oder Wissenschaft und Ölkonzerne?« Bohrmann musterte ihn mit einem langen Blick.
   Johanson lächelte. »Ich bin hier, weil jemand eine Antwort braucht«, sagte er. »Nicht, um eine zu erzwingen.«
   »Industrie und Militär sind auf die Wissenschaftler angewiesen, ob es ihnen passt oder nicht«, meinte Sahling. »Wir reden durchaus miteinander. Das Problem scheint mir eher zu sein, dass wir einander unsere Sichtweisen nicht vermitteln können.«
   »Und es im Übrigen nicht wollen!«
   »Richtig. Was die Leute im Eis tun, kann helfen, eine Hungersnot zu verhindern. Ebenso gut kann es zum Bau einer neuen Waffe führen. Wir schauen auf das Gleiche, aber jeder sieht etwas anderes.«
   »Und übersieht alles Übrige.«
   Bohrmann nickte. »Diese Tiere, die Sie uns geschickt haben, Dr. Johanson, sind ein gutes Beispiel. Ich weiß nicht, ob man ihretwegen das Vorhaben am Kontinentalhang in Frage stellen sollte. Aber ich bin in dubio geneigt, es anzunehmen und vorsorglich abzuraten. Vielleicht ist das der grundlegende Unterschied zwischen Wissenschaft und Industrie. Wir sagen: Solange nicht hinreichend bewiesen ist, welche Rolle dieser Wurm spielt, können wir eine Bohrung nicht empfehlen. Die Industrie geht von derselben Prämisse aus, gelangt aber zu einem anderen Resultat.«
   »Solange nicht bewiesen ist, welche Rolle der Wurm spielt, spielt er keine.« Johanson sah ihn an. »Und was glauben Sie? Spielt er eine Rolle?«
   »Das kann ich noch nicht sagen. Was Sie uns da geschickt haben, ist … na ja, gelinde gesagt, es ist recht ungewöhnlich. Ich möchte Sie nicht enttäuschen, was wir bis jetzt herausgefunden haben, hätte ich Ihnen ebenso gut am Telefon erzählen können, aber … nun ja, ich dachte, Sie würden gerne mehr darüber erfahren. Und wir können Ihnen hier Verschiedenes zeigen.«
   Sie erreichten eine schwere Stahltür. Bohrmann betätigte einen Wandschalter, und sie glitt geräuschlos auf. Im Zentrum der dahinter liegenden Halle ruhte ein gewaltiger Kasten, hoch wie ein zweistöckiges Haus. In regelmäßigen Abständen waren Bullaugen eingelassen. Stählerne Steigleitern führten zu Rundläufen und vorbei an Apparaturen, die über Rohrleitungen mit dem Kasten verbunden waren.
   Johanson trat näher heran.
   Er hatte Bilder von dem Ding im Internet gesehen, aber auf die Ausmaße war er nicht vorbereitet gewesen. Ein eigentümliches Gefühl beschlich ihn beim Gedanken, welch ungeheurer Druck im Innern des wassergefüllten Tanks herrschte. Kein Mensch würde auch nur eine Minute darin überleben. Dieser Kasten war der eigentliche Grund, warum Johanson ein Dutzend Würmer an das Kieler Institut geschickt hatte. Es war ein Tiefseesimulator. Er barg eine künstlich geschaffene Welt mitsamt Meeresboden, Kontinentalhang und Schelf.
   Bohrmann ließ die Stahltür hinter ihnen zugleiten.
   »Es gibt Leute, die den Sinn und Zweck der Anlage bezweifeln«, sagte er. »Auch der Simulator kann nur ein ungefähres Bild der tatsächlichen Gegebenheiten vermitteln, aber es ist besser, als jedes Mal hinauszufahren. Das Problem meeresgeologischer Forschung ist nach wie vor, dass wir nur winzige Ausschnitte der Wirklichkeit zu sehen bekommen. Zumindest ansatzweise sind wir hier in der Lage, allgemein gültige Thesen aufzustellen. Wir können zum Beispiel die Dynamik von Methanhydraten unter wechselnden Bedingungen besser erforschen.«
   »Sie haben Methanhydrate da drin?«
   »Etwa fünf Zentner. Neuerdings ist es uns gelungen, welches herzustellen, aber wir reden nicht so gern darüber. Die Industrie hätte gerne, dass wir den Simulator vollständig in ihren Dienst stellen. Und wir hätten zugegebenermaßen gerne das Geld von der Industrie. Aber nicht, um uns die freie Forschung damit abkaufen zu lassen.«
   Johanson legte den Kopf in den Nacken und sah an dem Kasten empor. Hoch über ihm hatte sich eine Gruppe Wissenschaftler auf dem obersten Rundlauf versammelt. Die Szenerie mutete seltsam unwirklich an, wie aus einem James-Bond-Film der Achtziger.
   »Druck und Temperatur im Tank sind stufenlos regelbar«, fuhr Bohrmann fort. »Augenblicklich entsprechen sie einer Meerestiefe von rund achthundert Metern. Im Boden selber lagert eine Schicht stabiler Hydrate, zwei Meter dick, was dem Zwanzig— bis Dreißigfachen in freier Natur entspricht. Unterhalb der Schicht simulieren wir Wärme aus dem Erdinnern und haben es mit freiem Gas zu tun. Also ein kompletter Meeresboden im Modellformat.«
   »Faszinierend«, sagte Johanson. »Aber was genau tun Sie hier? Ich meine, Sie können die Entwicklung Ihrer Hydrate fortgesetzt beobachten, aber …«Er rang nach Worten.
   Sahling kam ihm zur Hilfe. »Was genau wir hier tun außer zuschauen?«
   »Ja.«
   »Aktuell versuchen wir, eine erdgeschichtliche Periode nachzustellen, die 55 Millionen Jahre zurückliegt. Irgendwann an der Grenze von Paläozän zu Eozän scheint es auf der Erde eine Klimakatastrophe größeren Ausmaßes gegeben zu haben. Der Ozean kippte regelrecht um. Siebzig Prozent aller Lebewesen am Meeresboden starben, vornehmlich Einzeller. Ganze Bereiche der Tiefsee verwandelten sich vorübergehend in lebensfeindliche Zonen. Auf den Kontinenten kam es umgekehrt zu einer biologischen Revolution. In der Arktis tauchten Krokodile auf, und aus subtropischen Breiten wanderten Primaten und moderne Säugetiere nach Nordamerika ein. Ein phänomenales Durcheinander.«
   »Woher wissen Sie das alles?«
   »Bohrkerne. Das ganze Wissen um die Klimakatastrophe verdanken wir einem Bohrkern aus zwei Kilometer Meerestiefe.«
   »Verrät der Kern auch etwas über die Ursachen?«
   »Methan«, sagte Bohrmann. »Das Meer muss sich zu dieser Zeit erwärmt haben, sodass größere Mengen Methanhydrat instabil wurden. Als Folge rutschten die Kontinentalhänge ab und legten weitere Methanvorkommen frei. Innerhalb weniger Jahrtausende, vielleicht Jahrhunderte entwichen Milliarden Tonnen Gas in Ozean und Atmosphäre. Ein Teufelskreis. Methan fördert den Treibhauseffekt dreißig Mal stärker als CO2. Es heizte die Atmosphäre auf, dadurch erhitzten sich wiederum die Ozeane, noch mehr Hydrate zerfielen, das Ganze setzte sich endlos fort. Die Erde verwandelte sich in einen Backofen.« Bohrmann sah ihn an. »Fünfzehn Grad warmes Tiefenwasser anstelle unserer heutigen zwei bis vier Grad, das ist schon was.«
   »Für die einen desaströs, für die anderen … na ja, ein Warmstart gewissermaßen. Verstehe. Im nächsten Kapitel unserer gepflegten kleinen Unterhaltung werden wir dann wohl den Untergang der Menschheit verinhaltlichen, richtig?«
   Sahling lächelte. »So schnell steht der nicht bevor. Aber es gibt tatsächlich Anzeichen, dass wir uns in einer Phase empfindlicher Gleichgewichtsschwankungen befinden. Die Hydratreserven in den Ozeanen sind äußerst labil. Das ist der Grund, warum wir Ihrem Wurm so viel Beachtung schenken.« »Was kann ein Wurm an den Stabilitätsverhältnissen von Methanhydraten ändern?« »Eigentlich nichts. Der Eiswurm bevölkert die Oberfläche mehrere hundert Meter dicker Eisschichten. Er schmilzt ein paar Zentimeter ein und begnügt sich mit Bakterien.«
   »Aber dieser Wurm hat Kiefer.«
   »Dieser Wurm ist ein Geschöpf, das keinen Sinn ergibt. Am besten, Sie schauen es sich an.«
   Sie traten zu einem halbrunden Steuerpult am Ende der Halle. Es erinnerte Johanson an die Kommandozentrale des Victor, nur um einiges größer. Die meisten der rund zwei Dutzend Monitore waren eingeschaltet und zeigten Aufnahmen aus dem Innern des Tanks. Ein diensthabender Techniker grüßte sie.
   »Wir beobachten das Geschehen simultan mit zweiundzwanzig Kameras, außerdem wird jeder Kubikzentimeter pausenlosen Messungen unterworfen«, erklärte Bohrmann. »Die weißen Flächen auf den Monitoren der oberen Reihe sind Hydrate. Sehen Sie? Hier links ist das Feld, auf dem wir zwei der Polychäten abgesetzt haben. Das war gestern Vormittag.«
   Johanson kniff die Augen zusammen.
   »Ich sehe nur das Eis«, sagte er.
   »Schauen Sie genauer hin.«
   Johanson studierte jede Einzelheit des Bildes. Plötzlich fielen ihm zwei dunkle Flecken auf. Er zeigte darauf. »Was ist das? Vertiefungen?«
   Sahling wechselte ein paar Worte mit dem Techniker. Das Bild veränderte sich. Plötzlich waren die beiden Würmer zu sehen.
   »Die Flecken sind Löcher«, sagte Sahling. »Wir spielen den Film im Zeitraffer ab.«
   Johanson sah zu, wie sich die Würmer zuckend über das Eis wanden. Eine Weile krochen sie hin und her, als versuchten sie, die Quelle eines Dufts zu erwittern. In der beschleunigten Darstellung wirkten ihre Bewegungen fremdartig und bizarr. Die borstigen Büschel beiderseits der rosa Körper zitterten wie elektrisiert.
   »Jetzt passen Sie auf!«
   Einer der Würmer war zum Stillstand gekommen.
   Pulsierende Wellen durchliefen seinen Körper.
   Dann verschwand er im Eis.
   Johanson pfiff leise durch die Zähne.»Alle Wetter. Er bohrt sich hinein.«
   Das zweite Tier lag immer noch ein Stück entfernt. Der Kopf bewegte sich wie im Takt zu einer unhörbaren Musik. Plötzlich schoss der Rüssel mit den Chitinkiefern hervor.
   »Sie fressen sich ins Eis«, rief Johanson.
   Er starrte wie paralysiert auf das Videobild. Was wunderst du dich, dachte er im selben Moment. Sie leben in Symbiose mit Bakterien, die Methanhydrat abbauen, und dennoch haben sie Kiefer zum Bohren.
   Das Ganze ließ nur einen Schluss zu. Die Würmer wollten an Bakterien, die tiefer im Eis saßen. Gespannt sah er zu, wie sich die borstigen Körper ins Hydrat wühlten. Im Zeitraffer zitterten ihre Hinterleiber.
   Plötzlich waren sie verschwunden. Nur die Löcher blieben als dunkle Flecken im Eis.
   Kein Grund zur Beunruhigung, dachte er. Auch andere Würmer bohren. Sie bohren gerne. Manche bohren Schiffe in Grund und Boden.
   Aber warum bohren sie Hydrate an?
   »Wo sind die Tiere jetzt?«, fragte er.
   Sahling sah auf den Monitor.
   »Sie sind tot.«
   »Tot?«
   »Verreckt. Sie sind erstickt. Würmer brauchen Sauerstoff.«
   »Ich weiß. Es ist der Sinn der ganzen Symbiose. Die Bakterien ernähren den Wurm, und der Wurm versorgt sie durch sein Strudeln mit Sauerstoff. Aber was ist hier geschehen?«
   »Hier ist geschehen, dass die Würmer sich in ihren eigenen Tod gebohrt haben. Sie haben Löcher ins Eis gefressen, als sei es der süße Brei, bis sie in der Gasblase landeten, wo sie erstickten.«
   »Kamikaze«, murmelte Johanson.
   »Es kommt einem in der Tat wie Selbstmord vor.«
   Johanson überlegte. »Oder aber sie werden von irgendetwas fehlgeleitet.« »Möglich. Aber von was? Im Innern der Hydrate ist nichts, was ein solches Verhalten auslösen könnte.«
   »Vielleicht das freie Gas darunter?«
   Bohrmann rieb sich das Kinn.
   »Daran dachten wir auch schon. Aber das erklärt immer noch nicht, warum sie Selbstmord begehen.«
   Johanson sah vor seinem geistigen Auge das Gewimmel auf dem Meeresgrund. Sein Unbehagen wuchs. Wenn sich Millionen Würmer ins Eis bohrten, was wären die Folgen?
   Bohrmann schien seine Gedanken zu erraten.
   »Die Tiere können das Eis nicht destabilisieren«, sagte er. »Im Meer sind die Hydratfelder ungleich dicker als hier. Diese verrückten Viecher kratzen allenfalls die Oberfläche an, maximal ein Zehntel der Eisschicht. Dann gehen sie unweigerlich ein.«
   »Was nun? Werden Sie weitere Würmer testen?«
   »Ja. Wir haben noch ein paar. Vielleicht nutzen wir auch die Gelegenheit, uns vor Ort umzusehen. Ich denke, Statoil wird das begrüßen. Die Sonne soll in den nächsten Wochen hoch nach Grönland fahren. Wir könnten den Start der Expedition vorziehen und der Stelle einen Besuch abstatten, wo Sie die Polychäten gefunden haben.« Bohrmann hob die Hände. »Aber diese Entscheidung treffe nicht ich. Das müssen andere bestimmen. Heiko und ich hatten einfach spontan die Idee.«
   Johanson sah über die Schulter zu dem riesigen Tank. Er dachte an die toten Würmer im Innern.
   »Die Idee ist gut«, sagte er.
   Später fuhr Johanson in sein Hotel, um sich umzuziehen. Er versuchte Lund zu erreichen, aber sie ging nicht ran. Vor seinem geistigen Auge sah er sie in Kare Sverdrups Armen liegen, zuckte die Achseln und legte auf.
   Bohrmann hatte ihn zum Abendessen in ein Bistro eingeladen, das zu den angesagten Adressen Kiels gehörte. Johanson ging ins Bad und betrachtete sich im Spiegel. Er fand, sein Bart müsse gestutzt werden. Mindestens zwei Millimeter zu lang. Alles andere stimmte. Das immer noch volle Haar, ehemals dunkel und nun zunehmend durchsetzt von grauen Strähnen, fiel üppig nach hinten. Unter den breiten, schwarzen Brauen funkelte der Blick wie eh und je. Mitunter gab es Situationen, da verliebte er sich in sein eigenes Charisma. Dann wieder erkannte er den Charismatiker nicht wieder, besonders in den frühen Morgenstunden. Bis jetzt hatten ein paar Tassen Tee und ein bisschen kosmetische Pflege immer noch ausgereicht, das schnell wieder in Ordnung zu bringen. Eine Studentin hatte ihn unlängst mit dem deutschen Schauspieler Maximilian Schell verglichen, und Johanson hatte sich geschmeichelt gefühlt, bis ihm bewusst wurde, dass Schell über siebzig war. Danach war er auf eine andere Hautcreme umgestiegen.
   Er durchstöberte seinen Koffer, wählte einen Pulli mit Reißverschluss, zwängte das Jackett seines Anzugs darüber und wickelte einen Schal um seinen Hals. Gut angezogen war er so nicht, und genau so liebte er es: nicht gut angezogen zu sein. Zu keiner Zeit passte wirklich zusammen, was er trug. Er kultivierte seine Schlampigkeit und genoss es, sich nicht mit Mode abplagen zu müssen. Nur in Momenten großer Einsicht war er bereit zuzugeben, dass sein angegammeltes Outfit eine Mode für sich darstellte, der er ebenso anhing wie andere Menschen dem Diktat der Haute Couture, und dass er mehr Zeit auf den Zustand des Ungekämmtseins verwendete als das Gros der Menschheit auf eine geordnete Frisur.
   Er bleckte sein Spiegelbild an, verließ das Hotel und ließ sich mit dem Taxi zu seiner Verabredung fahren.
   Bohrmann erwartete ihn. Eine Zeit lang plauderten sie über alles Mögliche, tranken Wein und aßen Seezunge, die hervorragend war. Nach einer Weile driftete die Unterhaltung wieder in Richtung Tiefsee.
   Beim Dessert fragte Bohrmann wie beiläufig: »Sind Sie eigentlich mit den Plänen von Statoil näher vertraut?«
   »Nur im Groben«, erwiderte Johanson. »Ich verstehe nicht übermäßig viel vom Ölgeschäft.«
   »Was planen die? Eine Plattform werden sie ja kaum bauen so weit draußen.«
   »Nein. Keine Plattform.«
   Bohrmann nippte an seinem Espresso.
   »Entschuldigen Sie, ich will nicht in Sie dringen. Ich weiß nicht, wie vertraulich diese Dinge sind, aber …«
   »Das geht schon in Ordnung. Ich bin als Plaudertasche bekannt. Wenn mir einer was anvertraut, kann es gar nicht geheim sein.«
   Bohrmann lachte. »Also, was glauben Sie, bauen die da draußen?«
   »Sie machen sich Gedanken über eine Unterwasserlösung. Eine vollautomatische Fabrik.«
   »So was wie Subsis?«
   »Was ist Subsis?«
   »Subsea Separation and Injection System. Eine Unterwasserfabrik. Sie arbeitet seit wenigen Jahren auf dem Trollfeld in der norwegischen Rinne.« »Nie davon gehört.«
   »Fragen Sie Ihre Auftraggeber. Subsis ist eine Förderstation. Sie steht in 350 Meter Tiefe auf dem Meeresboden und trennt dort Öl und Gas vom Wasser. Augenblicklich findet dieser Prozess noch auf den Plattformen statt, und das Produktionswasser wird ins Meer geleitet.«
   »Ach stimmt!« Lund hatte darauf angespielt. »Produktionswasser. Es gibt dieses Problem, dass die Fische unfruchtbar werden.«
   »Eben dieses Problem könnte Subsis lösen. Das schmutzige Wasser wird sofort wieder ins Bohrloch gepresst, drückt weiteres Öl nach oben, wird wieder davon getrennt, wieder nach unten gepresst et cetera. Öl und Gas gelangen durch Pipelines direkt zur Küste — an sich eine feine Sache.«
   »Aber?« »Ich weiß nicht, ob’s ein Aber gibt. Angeblich arbeitet Subsis problemlos in fünfzehnhundert Meter Tiefe. Der Hersteller meint, zweitausend wären auch kein Problem, und die Ölkonzerne wünschen sich fünftausend.« »Ist das realistisch?« »Mittelfristig schon. Ich glaube, alles, was im kleinen Maßstab funktioniert, klappt auch im großen, und die Vorteile liegen auf der Hand. Sehr bald schon werden die automatischen Fabriken die Plattformen abgelöst haben.«
   »Sie scheinen die allgemeine Euphorie nicht recht zu teilen«, bemerkte Johanson.
   Eine Pause entstand. Bohrmann kratzte sich am Hinterkopf. Er sah aus, als wisse er nicht recht, wie er darauf antworten solle.
   »Was mir Sorgen macht, ist weniger die Fabrik. Es ist die Naivität der ganzen Herangehensweise.«
   »Die Station ist ferngesteuert?«
   »Komplett. Vom Land aus.«
   »Das heißt, etwaige Reparaturen und Wartungsarbeiten übernehmen Roboter.«
   Bohrmann nickte.
   »Verstehe«, sagte Johanson nach einer Weile.
   »Die Sache hat ein Für und Wider«, sagte Bohrmann. »Wenn Sie in unbekanntes Gebiet vordringen, ist das immer riskant. Und die Tiefsee ist unbekanntes Gebiet, machen wir uns nichts vor. Insofern ist es richtig, dass wir versuchen, unsere Einsatzmittel zu automatisieren, anstatt Menschenleben zu gefährden. Es ist in Ordnung, wenn wir einen Tauchroboter runterschicken, um Vorgänge zu beobachten oder ein paar Proben zu entnehmen. Aber das hier ist etwas anderes. Wie wollen Sie einen Unfall, bei dem Öl unter Hochdruck aus dem Bohrloch schießt, in fünftausend Meter Tiefe wieder unter Kontrolle bringen? Sie kennen ja nicht mal wirklich das Terrain. Alles, was Sie kennen, sind Messungen. In der Tiefsee sind wir blind. Wir können mit Hilfe von Satelliten, mit Fächersonar oder seismischen Wellen eine Karte der Meeresbodenmorphologie anlegen, die bis auf den halben Meter genau ist. Wir delektieren Gas-und Ölvorkommen mit bodensimulierenden Reflektoren, sodass die Karte hinterher sagt, hier kannst du bohren, hier ist Öl, da sind Hydrate, und da drüben musst du aufpassen … Aber was da unten ist — wirklich ist! —, wissen wir trotzdem nicht.«
   »Meine Rede«, murmelte Johanson.
   »Wir sehen die Auswirkungen unseres Tuns nicht. Wir können nicht einfach mal runterflitzen, wenn die Fabrik Mist baut. Missverstehen Sie mich nicht, ich bin keineswegs gegen die Rohstoffförderung. Aber ich bin dagegen, Fehler zu wiederholen. Als der Ölboom losging, hat man sich keine Gedanken darüber gemacht, wie man den ganzen Schrott wieder entsorgt bekommt, den man da so lustig ins Meer gestellt hatte, Man hat Abwässer und Chemikalien in die See und in die Flüsse geleitet nach dem Motto, sie werden’s schon schlucken, radioaktives Zeug im Ozean versenkt, Ressourcen und Lebensformen ausgebeutet und vernichtet, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, wie komplex die Zusammenhänge sind.«
   »Aber die automatischen Fabriken werden kommen?«
   »Zweifellos. Sie sind wirtschaftlich, sie erschließen Vorkommen, an die menschliche Arbeitskräfte nie rankämen. Und als Nächstes stürzt sich dann alles aufs Methan. Weil es sauberer verbrennt als alle anderen fossilen Brennstoffe.
   — Stimmt! — Weil ein Wechsel von Öl und Kohle zu Methan den Treibhauseffekt verlangsamen wird. — Auch richtig. — Es ist alles richtig, solange es sich unter Idealbedingungen abspielt. Aber die Industrie verwechselt den Idealfall gerne mit der Wirklichkeit. Sie will ihn damit verwechseln. Sie wird sich von allen Prognosen immer die sonnigste heraussuchen, damit es schneller losgehen kann, auch wenn man nichts weiß über den Kosmos, in den man da eingreift.«
   »Aber wie soll das überhaupt gehen?«, fragte Johanson. »Wie will man Hydrat fördern, wenn es sich auf dem Weg zur Oberfläche zersetzt?«
   »Auch da kommen wieder automatische Fabriken ins Spiel. Man schmilzt das Hydrat in großer Tiefe, indem man es zum Beispiel erwärmt, fängt das frei werdende Gas in Trichtern auf und leitet es nach oben. Es klingt prima, aber wer garantiert, dass solche Schmelzaktionen nicht eine Kettenreaktion auslösen und sich die Katastrophe aus dem Paläozän wiederholt?«
   »Glauben Sie wirklich, das sei möglich?«
   Bohrmann breitete die Hände aus.
   »Jeder unüberlegte Eingriff ist ein Selbstmordkommando. Aber es geht schon los. Indien, Japan und China sind sehr rege.« Er lächelte freudlos. »Und die wissen auch nicht, was da unten ist. Sie wissen gar nichts.«
   »Würmer«, murmelte Johanson. Er dachte an die Videoaufnahme, die der Victor von dem Gewimmel am Meeresgrund gemacht hatte. Und von dem ominösen Geschöpf, das so schnell im Dunkeln verschwunden war.
   Würmer. Monster. Methan. Klimakatastrophe.
   Man sollte schnell noch etwas trinken.
 

11. April

Vancouver Island und Clayoquot Sound, Kanada
 
   Der Anblick versetzte Anawak in Wut.
   Über zehn Meter maß das Tier vom Kopf bis zur Fluke. Es war einer der größten Transient Orcas, die er je gesehen hatte, ein gewaltiges Männchen. In dem halb geöffneten Rachen schimmerten die typischen dicht gepackten Reihen kleiner kegelförmiger Zähne. Wahrscheinlich war das Tier schon ziemlich alt, dennoch schien es vor Kraft zu strotzen. Nur wenn man genauer hinsah, bemerkte man die Stellen, an denen die schwarzweiße Haut nicht mehr glänzte, sondern stumpf und schorfig wirkte. Das eine Auge war geschlossen, das andere verdeckt.
   So riesig der Orca war, konnte er keinem Lachs mehr gefährlich werden. Er lag auf der Seite im feuchten Sand, und er war tot.
   Anawak hatte das Tier sofort erkannt. In den Registern wurde es unter der Bezeichnung J-19 geführt, aber seine säbelartig gebogene Rückenfinne hatte ihm den Spitznamen Dschinghis eingetragen. Er ging um den Orca herum und fand ein Stück abseits John Ford, den Direktor des Forschungsprogramms für Meeressäuger im Vancouver Aquarium, im Gespräch mit Sue Oliviera, der Laborleiterin in Nanaimo, und einem dritten Mann. Sie standen unter den strandnahen Bäumen. Ford winkte Anawak heran.
   »Dr. Ray Fenwick vom Kanadischen Institut für Ozeanische Wissenschaften und Fischerei«, stellte er den Unbekannten vor.
   Fenwick war angereist, um die Autopsie vorzunehmen. Nachdem Dschinghis’ Tod bekannt geworden war, hatte Ford vorgeschlagen, die Vivisektion zur Abwechslung nicht hinter verschlossenen Türen, sondern direkt am Strand stattfinden zu lassen. Er wollte einer möglichst großen Gruppe von Presseleuten und Studenten Einblick in die Anatomie eines Orcas gewähren.
   »Außerdem wirkt es anders am Strand«, hatte er gesagt. »Nicht so antiseptisch und distanziert. Wir haben einen toten Orca und das Meer direkt vor der Nase. Es ist sein Lebensraum, nicht unserer. Er liegt quasi vor seiner Haustür. Wenn wir die Autopsie hier durchführen, erwecken wir mehr Verständnis, mehr Mitleid, mehr Betroffenheit. Es ist ein Trick, aber er funktioniert.«
   Sie hatten die Angelegenheit zu viert besprochen, Ford, Fenwick, Anawak und Rod Palm von der marinen Forschungsstation auf Strawberry Isle, einer winzigen Insel in der Bucht von Tofino. Die Strawberry -Leute erforschten von dort aus die Ökosysteme des Clayoquot Sound. Palm selber hatte sich in der Populationskunde von Orcas einen Namen gemacht. Sie waren schnell übereingekommen, die Obduktion öffentlich durchzuführen, weil es für Aufmerksamkeit sorgen würde. Und Aufmerksamkeit hatten die Orcas weiß Gott nötig.
   »Dem äußeren Anschein nach ist er an einer bakteriologischen Infektion gestorben«, sagte Fenwick auf Anawaks Fragen. »Aber ich will mich nicht zu vorwitzigen Prognosen versteigen.«
   »Sie versteigen sich nicht«, sagte Anawak düster. »Erinnert ihr euch, 1999? Sieben tote Orcas, und alle infiziert.«
   »The torture never stops«, summte Oliviera die Textzeile eines alten Frank-Zappa-Songs. Sie sah ihn an und machte eine konspirative Kopfbewegung. »Komm mal mit.«
   Anawak folgte ihr zu dem Kadaver. Zwei große metallene Koffer und ein Container standen bereit, voller Werkzeug für die Autopsie. Einen Orca zu zerlegen war etwas anderes, als einen Menschen aufzuschneiden. Es bedeutete Schwerstarbeit, Unmengen von Blut und gewaltigen Gestank.
   »Die Presse wird gleich hier sein mit einem Haufen Doktoranden und Studenten im Schlepptau«, sagte Oliviera mit einem Blick auf die Uhr. »Da es uns schon mal zusammen an diesen traurigen Ort verschlagen hat, sollten wir schnell über die Auswertung deiner Proben sprechen.«
   »Seid ihr weitergekommen?«
   »Hier und da.«
   »Und Ihr habt Inglewood ins Bild gesetzt.«
   »Nein. Ich dachte, das besprechen wir erst mal unter uns.«
   »Klingt, als hättet ihr nichts Rechtes in der Hand.«
   »Sagen wir mal so — zum einen sind wir verwundert und zum anderen ratlos«, erwiderte Oliviera. »Was die Muscheln angeht, existiert jedenfalls keinerlei Literatur, die sie beschreibt.«
   »Ich hätte schwören können, dass es Zebramuscheln sind.«
   »Einerseits ja. Und auch wieder nicht.«
   »Klär mich auf.«
   »Es gibt zwei Betrachtungsweisen. Entweder haben wir es mit einem Verwandten der Zebramuschel zu tun oder mit einer Mutation. Die Dinger sehen aus wie Zebramuscheln, sie bilden die gleichen Schichtungen, aber etwas an ihrem Byssus ist komisch. Die Fäden, die den Fuß bilden, sind ziemlich dick und lang. — Wir haben uns spaßeshalber angewöhnt, sie Düsenmuscheln zu nennen.«
   »Düsenmuscheln?«
   Oliviera verzog das Gesicht. »Uns fiel nichts Besseres ein. Wir konnten eine Menge von ihnen lebend beobachten, und sie verfügen … nun ja sie lassen sich nicht einfach treiben wie gewöhnliche Zebramuscheln, sondern sind bis zu einem gewissen Grad navigationsfähig. Sie saugen Wasser an und stoßen es aus. Der Rückstoß treibt sie voran. Zugleich benutzen sie die Fäden, um die Richtung zu bestimmen. Wie kleine, drehbare Propeller. Erinnert dich das an irgendwas?«
   Anawak überlegte.
   »Tintenfische schwimmen mit Raketenantrieb.«
   »Einige. Es gibt aber noch eine Parallele. Man kommt nur drauf, wenn man ein echter Eierkopf ist, aber davon haben wir ja genug im Labor. Ich rede von Dinoflagellaten. Manche dieser Einzeller besitzen zwei Geißeln am Körperende. Mit der einen bestimmen sie die Richtung, die andere dreht sich und treibt sie an.«
   »Ist das nicht ein bisschen weit hergeholt?«
   »Sagen wir, es ist Konvergenz in großzügiger Auslegung. Man klammert sich an alles. Ich kenne jedenfalls keine Muschel, die sich auf ähnliche Weise fortbewegt. Diese hier sind mobil wie ein Schwarm Fische, und irgendwie erhalten sie trotz der Schalen sogar Auftrieb.«
   »Es würde jedenfalls erklären, wie sie auf hoher See an den Rumpf der Barrier Queen gelangen konnten«, sinnierte Anawak. »Und darüber seid ihr verwundert?«
   »Ja.«
   »Worüber seid ihr denn ratlos?«
   Oliviera trat zur Flanke des toten Wals und strich mit der Hand über die schwarze Haut.
   »Über diese Gewebefetzen, die du von unten mitgebracht hast. Wir wissen nicht, was wir damit anfangen sollen, und offen gesagt konnten wir auch nicht mehr viel damit anfangen. Die Substanz war weitgehend zerfallen. Das bisschen, was wir analysiert haben, lässt zumindest den Schluss zu, dass es sich bei dem Zeug an der Schiffsschraube und dem, was an deiner Messerspitze hängen geblieben ist, um ein und dasselbe handelt.
   Darüber hinaus erinnert es an nichts, was wir kennen.«
   »Du meinst, ich habe E.T. vom Rumpf gesäbelt?«
   »Die Kontraktionsfähigkeit des Gewebes erscheint über proportional ausgebildet. Von hoher Festigkeit und zugleich enorm flexibel. Wir wissen nicht, was es ist.«
   Anawak runzelte die Stirn, »Anzeichen von Biolumineszenz?«
   »Möglich. Wieso?«
   »Weil ich den Eindruck hatte, dass dieses Ding kurz aufblitzte.«
   »Das, was dich über den Haufen geschwommen hat?«
   »Es schoss heraus, als ich im Belag rumstocherte.«
   »Möglicherweise hast du ein Stück davon abgeschnitten, und das fand es nicht witzig. Obwohl ich bezweifle, dass dieses Gewebe überhaupt so etwas wie Nervenbahnen aufweist. Ich meine, um Schmerz zu empfinden. Eigentlich ist es nur … Zellmasse.«
   Stimmen näherten sich. Über den Strand kam eine Gruppe Menschen auf sie zu. Einige trugen Kameras, andere Schreibunterlagen.
   »Es geht los«, sagte Anawak.
   »Ja.« Oliviera sah ratlos drein. »Was sollen wir jetzt machen? Soll ich die Daten an Inglewood schicken? Ich fürchte nur, sie werden nichts damit anfangen können. Offen gestanden wäre es mir lieber, wenn ich noch weitere Proben bekäme. Vor allem von dieser Substanz.«
   »Ich setze mich mit Roberts in Verbindung.«
   »Gut. Stürzen wir uns ins Gemetzel.«
   Anawak betrachtete den reglosen Orcas und empfand Wut und Hilflosigkeit. Es war deprimierend. Erst waren die Tiere wochenlang ausgeblieben, und jetzt lag wieder eines tot am Strand.
   »So ein verdammter Mist!«
   Oliviera zuckte die Achseln. Mittlerweile hatten sich auch Fenwick und Ford in Bewegung gesetzt.
   »Spar dir deinen Blues für die Presse«, sagte sie.
   Die Autopsie dauerte über eine Stunde, während derer Fenwick, assistiert von Ford, den Orca aufschnitt, seine Eingeweide, das Herz, die Leber und die Lungen zutage förderte und den anatomischen Aufbau erläuterte. Der Mageninhalt wurde ausgebreitet und enthielt eine halb verdaute Robbe. Im Gegensatz zu Residents fraßen Transients und Offshore Orcas Seelöwen, Tümmler und Delphine und rückten im Rudel auch schon mal einem großen Bartenwal zu Leibe.