»Der Duftstoff ist da drin. Wir haben ihn entschlüsselt und können ihn herstellen. Die Rezeptur ist überraschend einfach. Wie genau die Wesen darüber in Kontakt treten, lässt sich noch nicht mit hundertprozentiger Gewissheit sagen, auch nicht, wer oder was die Verschmelzung initiiert. Aber vorausgesetzt, etwas gibt den Anstoß — nennen wir es der Einfachheit halber die Königin —, bleibt die Aufgabe zu lösen, wie man Abermilliarden frei schwebender Einzeller, die keine Augen und keine Ohren haben, zusammenruft. Dazu dient das Pheromon. An sich ist Duft unter Wasser nicht geeignet zur Kommunikation, die Moleküle diffundieren zu schnell, aber auf kurze Distanzen funktioniert ein pheromonischer Ruf ganz prima. Und wie es aussieht, beschränkt sich die pheromonische Kommunikation der Zellen auf diesen einen Duftstoff. Es gibt kein Vokabular, sondern nur ein einziges Wort: Verschmelzen! Uns ist noch nicht klar, wie einmal verschmolzene Zellen untereinander kommunizieren. Fest steht, dass sie irgendeine Form des Austauschs benutzen. Das ist in einem Neuronencomputer oder einem menschlichen Gehirn nicht anders. Immer brauchen die Einheiten eine Art Boten. In der Biologie heißen solche Botenstoffe Liganden. Wenn eine Zelle einer anderen etwas mitteilen will, kann sie sie schlecht besuchen kommen, also schickt sie ihr eine Nachricht, und diese Nachricht wird von den Liganden zu der anderen Zelle transportiert. Die wiederum braucht wie jedes anständige Haus eine Tür mit Klingel, wissenschaftlich gesprochen, einen Rezeptor. Der Ligand klingelt, die Klingelbotschaft pflanzt sich über Signalkaskaden ins Innere der Zelle fort und bereichert das Genom um eine neue Information.«
   Sie machte eine Pause.
   »Wie es aussieht, kommunizieren die Mikroorganismen im Tank über Liganden und Rezeptoren. Natürlich ist das Bild von den Zellen, die wie Häuser eine Tür haben und einen freundlich lächelnden Boten losschicken, der klingelt, ein bisschen schief. Jede Zelle gibt eine ganze Wolke von Duftmolekülen ab, und sie hat nicht nur einen Rezeptor, sondern etwa 200000 Rezeptoren. Damit nimmt sie die Pheromone auf und dockt am Kollektiv an. — 200000 Klingeln, um mit den Nachbarzellen Informationen auszutauschen, das ist schon was. Der Prozess der Verschmelzung vollzieht sich nach Art des Staffellaufs: Eine Zelle empfängt Pheromone aus dem Kollektiv und koppelt an die Nachbarzellen an. Im Moment des Ankoppelns produziert sie selber Pheromone, um die nächstschwimmenden Zellen zu erreichen, und so weiter, und so fort. Der Prozess erfolgt von innen nach außen. Um das alles besser zu verstehen, greifen wir der finalen Beweisführung vor und nehmen an, dass es sich bei den Zellen, die wir untersucht haben, tatsächlich um unsere geschätzten Feinde handelt. Wir nennen sie darum in vorauseilender Gewissheit die Yrr.«
   Sie legte die Fingerspitzen aufeinander.
   »Was uns sofort auffiel, war, dass die Zellen nicht einfach über Rezeptoren verfügen, sondern über Rezeptorenpaare. Wir haben uns den Kopf darüber zerbrochen, warum das so ist, aber dann kamen wir drauf. Es hat etwas mit der Gesunderhaltung des Kollektivs zu tun. Wir haben den Rezeptoren darum Funktionsbezeichnungen gegeben. Der Universalrezeptor erkennt: Ich bin Yrr. Der Spezialrezeptor sagt: Ich bin ein funktionsfähiges, gesundes Yrr mit intakter DNA und geeignet für das Kollektiv, fürs große Pow Wow.«
   »Ginge so was nicht auch über einen einzigen Rezeptor?«, fragte Shankar stirnrunzelnd.
   »Nein. Wahrscheinlich nicht.« Oliviera überlegte. »Es ist ein sehr ausgeklügeltes System. Nach unserem Modell muss man sich eine Yrr-Zelle vorstellen wie ein Soldatencamp mit einem Schutzwall drum herum. Nähert sich ein Soldat von außen, weist er sich durch eine Universalkennung aus: die Uniform. Die sagt dem Soldaten im Camp: Ich bin einer von euch. Aber wir haben alle genügend Kriegsfilme mit Michael Caine gesehen, um zu wissen, dass in der Uniform ein Verräter stecken kann, und wenn der einmal reingekommen ist, schießt er alle über den Haufen. Darum musste sich Michael Caine zusätzlich durch eine Spezialkennung ausweisen. Er musste die Parole kennen. Habe ich das militärisch einigermaßen korrekt beschrieben, Sal?«
   Peak nickte. »Einwandfrei.«
   »Dann bin ich beruhigt. Also, wenn sich zwei Yrr zusammenschließen, geschieht Folgendes: Das bereits mit dem Kollektiv verschmolzene Yrr produziert ein Duftmolekül, ein Pheromon. Über dieses Pheromon koppeln die Zellen an ihren Universalrezeptoren an und initiieren die primäre Bindung. Der Erkennungsschritt ›Ich bin Yrr‹ hat stattgefunden. Im zweiten Schritt muss über die Kopplung der Spezialrezeptoren nun die Aussage erfolgen ›Ich bin ein gesundes Yrr‹. — So weit, so gut. Allerdings gibt es Yrr, die nicht funktionsfähig und gesund sind, anders gesagt, deren DNA Defekte aufweist. Unser Feind ist ein massenhaft auftretender Organismus, der sich offenbar ständig höher entwickelt und darum gezwungen ist, Zellen, die nicht zur Höherentwicklung befähigt sind, auszusondern. Der Trick scheint zu sein, dass zwar alle Zellen einen Universalrezeptor besitzen, aber nur gesunde, zur Höherentwicklung fähige Zellen den Spezialrezeptor ausbilden können. Kranke Yrr haben ihn einfach nicht. Und jetzt geschieht das eigentliche Wunder, das uns Angst machen muss. Das defekte Yrr verfügt nicht über die Parole. Es wird nicht zur Verschmelzung zugelassen, sondern abgestoßen. Das alleine reicht aber noch nicht — Yrr sind Einzeller, und wie alle Einzeller vermehren sie sich durch Teilung. Natürlich kann eine Spezies, die sich konstant höher entwickelt, nicht zulassen, dass eine defekte, zweite Population entsteht, also muss sie verhindern, dass die defekte Zelle Zeit findet, sich zu vermehren. An dieser Stelle übernimmt das Pheromon eine Doppelfunktion. Bei der Abstoßung bleibt es am Universalrezeptor des defekten Yrr hängen und wandelt sich zu einem schnell wirkenden Gift. Es leitet den so genannten Programmierten Zelltod ein, ein Phänomen, das bei Einzellern normalerweise unbekannt ist. Die defekte Zelle stirbt augenblicklich ab.«
   »Wie wollen Sie erkennen, dass ein Einzeller tot ist?«, fragte Peak.
   »Das ist einfach. Sein Stoffwechsel endet. Außerdem erkennt man ein abgestorbenes Yrr daran, dass es nicht mehr leuchtet. Leuchten ist für die Yrr eine biochemische Notwendigkeit. Ein bekanntes Beispiel dafür liefert Aequoria, eine Südseequalle. Um zu leuchten, produziert sie ein Pheromon. Hier ist es ähnlich: Wir haben die Abgabe eines Duftstoffes und dadurch bedingt ein Aufleuchten, und die starken Lichtentladungen, die Blitze, kennzeichnen besonders heftige biochemische Reaktionen in den Zellverbänden. Wenn Yrr leuchten, kommunizieren und denken sie. Wenn sie sterben, hört das Leuchten auf.«
   Oliviera sah in die Runde.
   »Ich will Ihnen sagen, was uns daran Angst machen sollte. Die Yrr haben mit wenigen Mitteln ein komplexes Ausleseverfahren ermöglicht. Ist ein Yrr gesund und verfügt über ein intaktes Rezeptorenpaar, leitet das Pheromon die Verschmelzung ein. Besitzt es keinen Spezialrezeptor, entfaltet das Pheromon seine tödliche Wirkung. — Eine Spezies, die so funktioniert, sieht den Tod mit anderen ›Augen‹ als der Mensch. Der Tod ist in der Yrr-Gesellschaft eine zwingend erforderliche Angelegenheit. Niemals würden die Yrr auf die Idee kommen, defekte Yrr zu schonen. Es wäre aus ihrer Sicht unverständlich, geradezu idiotisch. Man muss töten, was die eigene Weiterentwicklung bedroht. Es ist nur logisch. Auf die Bedrohung des Kollektivs reagieren die Yrr mit der Logik des Todes. Es gibt kein um Gnade Bitten, kein Mitleid, keine Ausnahme, ebenso wenig wie die Logik des Tötens etwas mit Grausamkeit zu tun hat. Solche Überlegungen sind den Yrr völlig fremd. Sie werden ergo nicht begreifen, warum sie uns schonen sollen, da wir doch eine konkrete Bedrohung für sie darstellen.«
   »Weil ihre Biochemie keine dahingehende Ethik zulässt«, schlussfolgerte Li. »So intelligent sie auch sein mögen.«
   »Also schön«, bemerkte Vanderbilt. »Was haben wir konkret davon, dass wir jetzt ihr kleines Chanel-No.-5-Geheimnis kennen? Wir können mit ihnen verschmelzen, wenn ich das richtig sehe. Toll. Ich könnte mit ihnen verschmelzen!«
   Crowe musterte ihn mit einem langen Blick. »Glauben Sie, die wollen das?«
   »Sie können mich mal.«
   »Es wäre nett, wenn ihr euch später prügelt«, sagte Anawak. »Karen und ich hatten nämlich eine Idee, wie man die Einzeller zum Denken bringen kann. Sigur, Mick und Sue raufen sich gerade die Haare darüber. Biologisch ist es ein Unding, aber es würde eine Menge Fragen beantworten.«
   »Wir haben unsere virtuellen Zellen mit einer künstlichen DNA programmiert und es so eingerichtet, dass sie ständig mutiert«, griff Weaver den Faden auf. »Was nichts anderes heißt als Lernen. Plötzlich waren wir wieder dort angelangt, wo wir begonnen hatten, nämlich bei einem Neuronencomputer. Ihr erinnert euch, wir hatten ein solches Elektronengehirn in seine kleinsten programmierfähigen Speicherplätze zerlegt und uns gefragt, wie sie wieder zu einem denkenden Ganzen werden könnten. Es funktionierte so lange nicht, wie die einzelnen Zellen nicht selbständig lernen konnten. Aber der einzige Weg für eine biologische Zelle, zu Lebzeiten zu lernen, besteht nun mal in der Mutation der DNA, was eigentlich nicht sein kann. Dennoch haben wir die virtuellen Zellen mit der Möglichkeit versehen. Und mit einem Duft, wie Sue ihn gerade beschrieben hat.«
   »Wir erhielten nicht nur unseren vollwertigen, funktionsfähigen Neuronencomputer zurück«, fuhr Anawak fort. »Wir hatten plötzlich auch echte, lebende Yrr unter natürlichen Bedingungen vor uns. Unsere kleine Schöpfung verfügt nämlich über ein paar Extras — die Zellen trudeln im dreidimensionalen Raum. Wir haben diesen Raum mit Eigenschaften versehen, wie man sie in der Tiefsee antrifft, also Druck, Strömung, Reibung, und so weiter. — Zuerst mussten wir allerdings eine Antwort auf die Frage finden, wie die Mitglieder eines Kollektivs einander erkennen. Der Duft ist nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte besteht darin, die Größe eines Kollektivs zu begrenzen. Hier kommt ins Spiel, was Sue und Sigur herausgefunden haben — dass nämlich die Yrr-Amplicons in kleinen, hypervariablen Bereichen differierten. Ihr erinnert euch an die Konsequenz aus dieser Erkenntnis: Die Zellen müssen ihre DNA nach ihrer Geburt verändert haben. Wir glauben, genau das geschieht, und dass die hypervariablen Bereiche als Codierung dienen, um einander zu erkennen und zum Beispiel das Kollektiv zu begrenzen.«
   »Yrr mit gleicher Codierung erkennen einander, und kleinere Kollektive wiederum können zu größeren verschmelzen«, schlussfolgerte Li.
   »Genau«, sagte Weaver. »Wir haben also Zellen codiert. Jede Zelle verfügte zu diesem Zeitpunkt schon über eine Art Grundwissen, was ihren Lebensraum betraf. Jetzt erhielt sie zusätzliche Informationen, die nicht alle Zellen besaßen. Wie zu erwarten, verschmolzen als Erstes sämtliche Zellen gleicher Codierung zu Kollektiven. Dann probierten wir etwas Neues und versuchten, zwei Kollektive unterschiedlicher Codierung zusammenzukoppeln. Es klappte, und dann passierte das Unglaubliche: Die Verschmelzung gelang nicht nur, die Zellen der beiden Kollektive tauschten außerdem ihre individuellen Codierungen aus und brachten einander auf den gleichen Stand. Sie programmierten sich auf einen neuen, einheitlichen Code, einen nächsthöheren Stand des Wissens, den alle teilten. Am Ende waren die beiden Kollektive in einem aufgegangen. Dieses eine koppelten wir mit einem dritten Kollektiv, und wieder entstand etwas Neues, zuvor nicht da Gewesenes.«
   »Im nächsten Schritt haben wir versucht, das Lernverhalten der Yrr zu beobachten«, sagte Anawak. »Wir formten zwei Kollektive unterschiedlicher Codierung. Eines versahen wir mit einer spezifischen Erfahrung. Wir simulierten den Angriff eines Feindes. Es ist nicht sonderlich originell, aber wir entschieden uns für einen Hai, der einen ordentlichen Haps aus dem Kollektiv herausbeißt, und brachten ihm dann bei, beim nächsten Mal auszuweichen. Wenn der Hai kommt, befahlen wir dem Kollektiv, gibst du deine kugelförmige Gestalt auf und machst dich flach wie eine Flunder. Dem anderen Kollektiv brachten wir den Trick nicht bei, und es wurde gebissen. Dann ließen wir beide Kollektive zu einem verschmelzen und schickten ihm den Hai auf den Hals — und es wich aus. Die gesamte Masse hatte dazugelernt. Anschließend teilten wir das Kollektiv in mehrere kleine Mengen auf, und alle wussten plötzlich, wie man einem Hai aus dem Weg zu gehen hat.«
   »Also lernen sie über die hypervariablen Bereiche?«, sagte Crowe.
   »Ja und nein«, sagte Weaver mit einem Blick auf ihre Notizen. »Es ist möglich, dass sie das tun, aber im Rechner dauert das alles zu lange. Die Masse, die im Welldeck angegriffen hat, ist jedenfalls sehr schnell in ihren Reaktionen, und wahrscheinlich denkt sie ebenso schnell. Ein supraleitendes Gebilde, ein riesiges, variables Gehirn. Nein, wir konnten uns nicht nur auf die kleinen Bereiche beschränken. Wir haben die vollständige DNA lernfähig programmiert und ihre Denkgeschwindigkeit damit enorm heraufgesetzt.«
   »Und das Resultat?«, fragte Li.
   »Stützt sich auf einige wenige Versuche, die wir kurz vor diesem Treffen durchgeführt haben. Aber es reicht für folgende Aussagen: Ein Yrr-Kollektiv, egal wie groß es ist, denkt in der Geschwindigkeit eines Simultanrechners der neuen Generation. Individuelles Wissen wird vereinheitlicht, Unbekanntes untersucht. Anfangs sind einige Kollektive neuen Herausforderungen nicht gewachsen, aber im Austausch lernen sie dazu. Bis zu einem gewissen Zeitpunkt verläuft die Lernentwicklung linear, darüber hinaus ist das Verhalten der Kollektive nicht mehr vorhersagbar …«
   »Moment mal«, unterbrach sie Shankar. »Sie wollen sagen, das Programm beginnt, ein Eigenleben zu führen?«
   »Wir haben völlig unbekannte Situationen für die Yrr herbeigeführt. Je komplexer das Problem, desto häufiger schlossen sie sich zusammen. Nach kurzer Zeit begannen sie, Strategien zu entwickeln, deren Grundlagen wir ihnen nicht einprogrammiert hatten. Sie wurden kreativ. Sie wurden neugierig. Und sie lernten exponentiell. Wir haben nur wenige Versuche durchführen können, und es ist immer noch nur ein Computerprogramm — aber unsere künstlichen Yrr haben gelernt, jede gewünschte Form anzunehmen, Formen anderer Lebewesen zu imitieren und zu variieren, Extremitäten auszubilden, gegen deren Sensitivität unsere zehn Finger Knüppel sind, Objekte auf Nanoebene zu untersuchen, jede dieser Erfahrungen mit jeder anderen Zelle auszutauschen und Probleme zu lösen, an denen Menschen scheitern würden.«
   Einen Moment herrschte betroffenes Schweigen. Den meisten war anzusehen, dass sie sich die Vorgänge im Welldeck vor Augen riefen. Schließlich sagte Li: »Geben Sie uns ein Beispiel für eine solche Problemlösung.«
   Anawak nickte.
   »Also, ich bin ein Yrr-Kollektiv, klar? Und ein kompletter Kontinentalhang ist von Würmern befallen, die ich gezüchtet, mit Bakterien voll gestopft und dorthin gebracht habe, damit sie das dortige Methanhydrat auf ganzer Linie destabilisieren. Mein Problem besteht darin, dass die Würmer und die Bakterien zwar eine Menge anrichten, ich für die große Rutschung aber einen letzten Kick brauche.«
   »Stimmt«, sagte Johanson. »Die Nuss haben wir nie geknackt. Würmer und Bakterien leisten Vorarbeit, aber eine Kleinigkeit fehlt, um daraus eine Katastrophe zu machen.«
   »Nämlich entweder eine leichte Absenkung des Meeresspiegels, was den erforderlichen Druck auf die Hydrate herabsetzen würde, oder eine Erwärmung des Wassers am Hang. Richtig?«
   »Genau.«
   »Um ein Grad?«
   »Dürfte reichen. Aber sagen wir zwei.«
   »Gut. Wir haben uns schlau gemacht. Vor dem norwegischen Kontinentalhang liegt in 1250 Metern Tiefe der Hakon-Mosby-Schlammvulkan. Schlammvulkane spucken keine Lava, sondern befördern Gas, Wasser und Sedimente aus dem warmen Erdinnern an die Oberfläche des Meeresbodens. Das Wasser über einem Schlammvulkan ist nicht heiß, aber wärmer als anderswo. Ich schließe mich also zu einem großen Kollektiv zusammen. Zu einem sehr großen Kollektiv. Ich forme mich zu einem Schlauch mit zwei offenen Enden, und weil ich ein sehr großer Schlauch werden will, beschränke ich die Stärke meiner Außenwand auf wenige Zelllagen. Ich brauche dafür immer noch enorm viel meiner selbst, viele Milliarden Zellen, aber dünnwandig, wie ich bin, gelingt es mir, mich auf die Länge vieler Kilometer zu dehnen. Mein Umfang entspricht dem des Zenralkraters — rund 500 Meter. Ich nehme das warme Wasser des Schlammvulkans in mein Inneres auf und leite es wie eine kolossale Wasserleitung dorthin, wo Würmer und Bakterien zerstörerische Vorarbeit geleistet haben. Schon habe ich meine Rutschung. — Und es wäre durchaus möglich, dass ich auf diese Weise auch das Wasser vor Grönland erwärme oder an den Polkappen heize, was zum Abschmelzen der Gletscher und damit zum Erliegen des Golfstroms führt.«
   »Wenn das die Yrr in Ihrem Computer können«, sagte Peak mit ungläubigem Gesicht, »was können dann die wirklichen Yrr?«
   Weaver schürzte die Lippen und sah ihn an.
   »Ich schätze, noch einiges mehr.«
 
Schwimmen
 
   Weaver fühlte sich innerlich und äußerlich verspannt. Als sie den Besprechungsraum verließen, fragte sie Anawak, ob er Lust auf eine Runde im Pool habe. Ihre Schultern waren ein einziger Schmerz. Und das, wo sie so ziemlich jede Sportart trieb, die man einem menschlichen Körper zumuten konnte.
   Vielleicht ist das dein Problem, dachte sie. Vielleicht solltest du mal eine Sportart treiben, die keine Zumutung darstellt.
   Anawak begleitete sie. Sie versorgten sich mit Badesachen, jeder in seiner Kabine, und trafen in Bademäntel gehüllt wieder zusammen. Weaver hätte gerne seine Hand genommen auf dem Weg zum Pool — überhaupt hätte sie gerne etwas anderes mit ihm getan in diesem Moment —, aber sie wusste nicht, wie man von so was anfing, ohne wie ein Idiot dazustehen. Früher, vor der Radikalkur ihres Lebens, hatte sie wahllos genommen, was kam, aber das hatte nie mit Liebe zu tun gehabt. Jetzt fühlte sie sich schüchtern und blockiert. Wie flirtete man? Wie ging man miteinander ins Bett, wenn in der Nacht zuvor Menschen gestorben waren und die ganze Welt in einen Abgrund stürzte?
   Wie dämlich konnte man überhaupt sein?
   Die Schwimmhalle der Independence war riesig und erstaunlich komfortabel für ein Kriegsschiff, und der Pool hatte die Ausmaße eines kleinen Sees. Als sie den Bademantel fallen ließ, spürte sie Anawaks Blicke in ihrem Rücken. Unvermittelt wurde ihr klar, dass er sie das erste Mal so sah. Der Badeanzug war knapp geschnitten und im Rücken tief dekolletiert, und natürlich sah er das Tattoo.
   Verlegen trat sie an den Beckenrand, federte ab und tauchte mit einem eleganten Sprung ein. Die Arme von sich gestreckt, trieb sie dicht unter der Wasseroberfläche dahin und hörte, wie Anawak ihr nachkam. Vielleicht wird es hier passieren, dachte sie. Ein Fahrstuhl raste durch ihre Bauchhöhle. Zwischen Hoffen und Bangen, er könne sie einholen, begann sie, mit den Füßen zu schlagen und schneller zu schwimmen.
   Angsthase! Warum denn nicht?
   Einfach abtauchen und Liebe machen. Unter Wasser.
   Verschmelzen …
   Plötzlich kam ihr eine Idee.
   Sie war geradezu lächerlich simpel und leider auch ziemlich pietätlos. Aber wenn sie funktionierte, war sie brillant. Dann konnte es gelingen, die Yrr auf friedliche Weise zum Rückzug zu bewegen. Oder wenigstens dazu, ihr Vorgehen zu überdenken.
   War die Idee wirklich brillant?
   Ihre Fingerspitzen berührten die Kachelwand des Pools. Sie tauchte auf und rieb das Wasser aus ihren Augen. Im nächsten Moment erschien ihr der Gedanke einfach nur vulgär. Dann wieder entfaltete er seinen verstörenden Reiz. Meter um Meter, den Anawak herankraulte, wurde sie unschlüssiger, was sie davon zu halten hatte, und als er fast heran war, kam ihr die Idee geradezu abscheulich vor.
   Sie musste darüber schlafen.
   Plötzlich war er ihr sehr nahe.
   Sie drückte sich gegen den Beckenrand. Ihr Brustkorb hob und senkte sich. Wie damals schlug ihr Herz, als sie im eisigen Kanalwasser gehangen hatte — dieses Fahrstuhlgefühl und das Hämmern ihres Herzens, das zu sagen schien: Jetzt … Jetzt … Jetzt …
   Sie spürte eine Berührung an ihrer Taille und öffnete die Lippen.
   Angst!
   Sag was, dachte sie. Irgendwas muss es geben. Irgendein Thema, über das man reden kann.
   »Sigur scheint’s wieder besser zu gehen.«
   Die Worte kamen herausgesprungen wie Kröten. In Anawaks Augen trat ein Anflug von Enttäuschung. Er trieb ein Stück von ihr weg, strich das nasse Haar zurück und lächelte.
   »Ja, sein komischer Unfall.«
   Du voll verblödete, verdammte Idiotin!
   »Aber er hat ein Problem.« Sie legte die Ellbogen auf den Beckenrand und zog sich hoch. »Behalt’s für dich. Er sollte nicht unbedingt wissen, dass ich damit hausieren gehe. Ich will nur deine Meinung hören.«
   Sigur hat ein Problem? Du hast ein Problem! Idiotin! Idiotin!!!
   »Was für ein Problem?«, fragte Anawak.
   »Er hat was gesehen. Besser gesagt, er meint, es gesehen zu haben. So, wie er die Sache schildert, glaube ich ihm, aber dann wäre die Frage, was es zu bedeuten hat und … pass auf, ich erzähl’s dir.«
 
Kontrollraum
 
   Li hörte zu, wie Weaver Anawak über Johansons Zweifel ins Bild setzte. Reglos saß sie vor den Monitoren und lauschte dem Gespräch, das beide miteinander führten.
   Was für ein schönes Paar, dachte sie amüsiert.
   Der Inhalt des Gesprächs amüsierte sie weniger. Dieser dämliche Hund von Rubin hatte die ganze Mission gefährdet. Sie konnten nur hoffen, dass Johanson nicht noch mehr von dem einfiel, was die Droge aus seinen Hirnwindungen hätte tilgen sollen. Jetzt beschäftigte das Thema schon Weaver und Anawak!
   Warum gebt ihr euch bloß mit solchen Geschichten ab, Kinderchen, dachte sie. Böse Ammenmärchen von Onkel Johanson! Warum geht ihr nicht endlich miteinander ins Bett? Jeder Blinde sieht, dass ihr es wollt, nur ihr selber kriegt nichts auf die Reihe. Li seufzte. Wie oft war sie schon diesen unbeholfenen Annäherungen begegnet, seit Frauen und Männer zusammen in der Navy dienten. Es war jedes Mal so offensichtlich! Öde und profan. Alle wollten irgendwann miteinander ins Bett. Fiel den beiden da im Pool nichts Besseres ein, als sich Johansons Kopf zu zerbrechen?
   »Wir sollten uns mit dem Gedanken vertraut machen, dass Rubin auffliegt«, sagte sie zu Vanderbilt.
   Der CIA-Mann stand, einen Becher Kaffee in der Hand, schräg hinter ihr. Sie waren die Einzigen im Raum. Peak war im Welldeck, um die Aufräumungsarbeiten voranzutreiben und den Zustand des Tauchequipments zu überprüfen.
   »Und was dann?«
   »Für den Fall gib es klare Optionen.«
   »So weit sind wir aber noch nicht, Judybaby, dass wir die wahrnehmen könnten. Rubin ist noch nicht so weit. Außerdem wäre es natürlich schöner, wenn wir es gar nicht müssten.«
   »Was ist los, Jack? Skrupel?«
   »Nur die Ruhe. Es mag Ihr verdammter Plan sein, aber mir obliegt die Garantie seines Gelingens. Sie können einen drauf lassen, dass sich meine Skrupel im kompatiblen Bereich bewegen.« Er kicherte. »Man hat schließlich einen Ruf zu verlieren.«
   Li wandte sich zu ihm um. »Haben Sie denn einen?«
   Vanderbilt schlürfte vernehmlich an seinem Becher. »Wissen Sie, was ich so sehr an Ihnen schätze, Jude? Ihre Ekelhaftigkeit. Sie geben mir das Gefühl, ein netter Kerl zu sein. Und das will was heißen!«
 
Combat Information Center
 
   Crowe und Shankar zerbrachen sich die Köpfe.
   Der Rechner zeigte verschlungene Bilder. Parallele Linien, die plötzlich auseinander strebten, sich zu Kurven bogen, eins wurden. Dazwischen gähnten größere, unregelmäßig geformte Leerräume. Scratch bestand aus einer ganzen Serie solcher Graphiken, die aussahen, als ergäben sie zusammengelegt ein einziges Bild, nur dass es nicht hinkam.
   Sie passten nicht aneinander. Außerdem hatte Crowe immer noch nicht die leiseste Ahnung, was die Linien zu bedeuten hatten.
   »Wasser ist die Basis«, grübelte Shankar. »An jedes Wassermolekül ist eine Zusatzinformation gekoppelt. Wofür steht sie? Für eine Eigenschaft des Wassers?«
   »Möglich. Welche Eigenschaften könnten gemeint sein?«
   »Temperatur.«
   »Ja, zum Beispiel. Oder Salzgehalt.«
   »Vielleicht geht es aber nicht um physikalische oder chemische Eigenschaften, sondern um die Yrr selber. Die Linien könnten ihre Populationsdichte darstellen.«
   »Nach dem Motto, hier wohnen wir? So was?«
   Shankar rieb sich das Kinn. »Irgendwie nicht, oder?«
   »Ich weiß nicht, Murray. Würden wir denen denn mitteilen, wo unsere Städte sind?«
   »Nein. Aber sie denken nicht wie wir.«
   »Danke, dass du mich dran erinnerst.« Crowe produzierte einen Rauchring. »Gut, nochmal. H2O. Wasser. Dieser Teil der Botschaft ist nicht schwer zu begreifen.
   Wasser ist unsere Welt.«
   »Was eins zu eins die Antwort auf unsere Botschaft ist.«
   »Stimmt. Wir haben ihnen verraten, dass wir an der frischen Luft leben. Dann haben wir unsere DNA beschrieben und unsere Form.«
   »Nehmen wir an, sie beantworten unsere Botschaft wirklich eins zu eins«, sagte Shankar. »Könnten die Linien eine Darstellung ihrer Form sein?«
   Crowe schürzte die Lippen. »Sie haben keine. Ich meine, Einzeller haben natürlich eine Form, aber sie werden sich kaum darüber definieren. Als Form empfinden sie sich wohl eher im Kollektiv, und darüber können sie sich erst recht nicht definieren. Die Gallerte hat tausend Formen und keine.«
   »Gut. Form fällt flach. Welche Information könnte sonst von Interesse sein? Anzahl der Individuen?«
   »Murray! Das ist irgendeine Zahl mit so vielen Nullen hinten dran, dass wir den Rumpf der Independence damit voll schreiben könnten. Außerdem teilen sie sich am laufenden Band, sie sterben am laufenden Band … Wahrscheinlich dürften sie selber nicht in der Lage sein, uns ihre genaue Zahl mitzuteilen.« Crowe ließ die Zigarette zwischen ihren Zähnen wippen. »Nicht das Einzelwesen zählt. Es ist komplett unwichtig. Die Gesamtheit zählt. Die Yrr-Idee, wenn du so willst, das idealisierte Yrr. Das Yrr-Genom.«
   Shankar sah sie über die Ränder seiner Brille an.
   »Vergiss nicht, wir haben ihnen lediglich die Information geliefert, dass unsere Biochemie auf DNA basiert. Insofern müsste die Antwort lauten: unsere auch. Glaubst du im Ernst, sie sind darangegangen, ihr Genom für uns aufzuschlüsseln?«
   »Könnte doch sein.«
   »Warum sollten sie das tun?«
   »Weil es genau genommen die einzige Aussage ist, die sie über sich treffen können. Genom und Verschmelzung sind die zentralen Punkte ihrer ganzen Existenz, alles lässt sich darauf zurückführen.«
   »Ja, aber wie willst du eine DNA beschreiben, die fortwährend mutiert?«
   Crowe blickte ratlos auf die Linienmuster.
   »Vielleicht sind’s doch Landkarten?«
   »Landkarten wovon?«
   »Na schön.« Sie seufzte. »Fangen wir nochmal an. — H2O ist die Basis. Wir leben im Wasser …«
 
Vier Augen
 
   Li hatte ihr Laufband auf höchste Geschwindigkeit gestellt. Unter anderen Umständen wäre sie im Fitnessraum gelaufen, des Zusammenhalts der Truppe wegen. Aber diesmal wollte sie ungestört sein. Sie führte ihr tägliches Gespräch mit der Offut Air Force Base.
   »Wie ist die Moral, Jude?«
   »Ausgezeichnet, Sir. Der Angriff hat uns schwer mitgenommen, aber wir haben alles im Griff.«
   »Sind die Leute motiviert?«
   »Motivierter denn je.«
   »Ich mache mir Sorgen.« Der Präsident wirkte müde. Er saß mutterseelenallein im War Room des Stützpunkts. »Boston ist vollständig evakuiert. New York und Washington haben wir abgeschrieben. Und wir bekommen neue Horrormeldungen aus Philadelphia und Norfolk.«
   »Ich weiß.«
   »Das Land geht vor die Hunde, während alle Welt nur noch von einer nichtmenschlichen Intelligenz im Meer redet. Mich würde wirklich interessieren, wer da sein loses Maul nicht halten konnte.«
   »Was spielt das für eine Rolle, Sir?«
   »Was das für eine Rolle spielt?« Der Präsident schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Wenn Amerika die Führung übernimmt, akzeptiere ich keine Alleingänge von irgendeinem Arschloch bei der UNO! Bloß weil da jeder meint, sein beschissenes kleines Land ins Spiel bringen zu müssen. Wissen Sie, was da draußen los ist, was das für eine Eigendynamik bekommt?«
   »Ich weiß genau, was los ist.«
   »Oder hat jemand aus Ihrem inneren Kreis gequatscht?«
   »Bei allem Respekt, Sir, die Yrr-Hypothese ist nichts, worauf andere nicht auch kommen konnten. So viel ich höre, dreht sich der Großteil aller Vermutungen weltweit immer noch um natürliche Phänomene und internationalen Terrorismus. Heute Morgen hat irgendein Wissenschaftler aus Pjöngjang …«
   »Er hat gesagt, wir wären die Schurken.« Der Präsident winkte ab. »Weiß ich alles. Wir würden mit ultraleisen U-Booten herumfahren und unsere eigenen Städte angreifen, um es unschuldigen Kommunisten in die Schuhe zu schieben. Was für ein Schwachsinn.« Er beugte sich vor. »Das ist mir im Grunde aber auch egal. Ich pfeife auf Beliebtheit. Ich will das Problem gelöst sehen, ich will neue Optionen auf den Tisch! Jude, verdammt nochmal, kein Land ist noch in der Lage, einem anderen zu helfen! Die Vereinigten Staaten von Amerika müssen selber um Hilfe bitten! Wir werden überrannt, vergiftet, unsere Bürger fliehen ins Landesinnere. Ich muss mich in einen Sicherheitstrakt zurückziehen wie ein Maulwurf. In den Städten herrschen Plünderung und Anarchie. Militär und Ordnungskräfte sind hoffnungslos überlastet. Die Menschen können wählen zwischen kontaminierten Lebensmitteln und wirkungslosen Medikamenten.«
   »Sir …«
   »Noch hält Gott seine schützende Hand über den Westen, sieht man davon ab, dass Ihnen garantiert irgendwas die Zehen abbeißen wird, sobald Sie Ihren Fuß ins Wasser halten. Die Wurmpopulationen vor Amerika und Asien werden dichter, und in La Palma stehen sie vor dem Aus. Ich bin nicht unglücklich darüber, dass verschiedene Regierungen hier und da wackeln, aber in wessen Hände dann die dortigen Waffensysteme fallen, dieser Frage können wir uns im Moment keinesfalls widmen.«
   »Ihre letzte Ansprache …«
   »Hören Sie bloß auf. Ich ergehe mich von morgens bis abends in leidenschaftlich bewegten Äußerungen. Keiner dieser Redenschreiber nimmt sie auf. Keiner von denen begreift, was ich diesem Land und der Welt vor Gott sagen will. Ich sage, verbreitet Zuversicht. Das amerikanische Volk soll die Entschlossenheit eines Oberbefehlshabers sehen, der alles tun wird, was nötig ist, um diese Schlacht zu gewinnen, und mag der Feind auch tausendmal sein Gesicht verdecken. Die Welt soll Kraft schöpfen. Nein, wir wollen niemanden einlullen, wir müssen uns auf das Schlimmste vorbereiten, aber wir werden da durchfinden! Das sage ich ihnen, aber wenn sie Zuversicht verbreiten, werden sie unglaubwürdig und pathetisch, und dazwischen mischt sich ihre eigene klamme Angst. Ich frage mich, ob mir von denen überhaupt einer zuhört!«
   »Aber die Menschen hören Ihnen zu«, versicherte Li. »Sie sind im Augenblick einer der wenigen, auf den überhaupt jemand hört. Auf Sie und auf die Deutschen.«
   »Ja, die Deutschen.« Die Augen des Präsidenten verengten sich. »Stimmt das übrigens? Die Deutschen planen eine eigene Mission?«
   Li fiel fast vom Lauf band. Was war das wieder für ein Quatsch? »Nein, das tun sie nicht. Wir führen die Welt an. Wir sind legitimiert von den Vereinten Nationen. Deutschland koordiniert Europa, aber sie arbeiten eng mit uns zusammen. Schauen Sie nach La Palma.«
   »Warum erzählt mir dann die CIA, es sei so?«
   »Weil Jack Vanderbilt so was kolportiert.«
   »Ach, Jude.«
   »Doch, er ist und bleibt ein Intrigant.«
   »Kind, wenn Sie so weit sind, Ihren wohl verdienten Platz einzunehmen, wird Vanderbilt nicht mal in der Nähe sein.«
   Li ließ langsam ihren Atem entweichen. Sie war emotional geworden. Sie hatte sich aus der Deckung begeben und in diesem Moment vielleicht zu viel von sich preisgegeben. Das war nicht gut. Sie musste sich zur Souveränität mahnen.
   »Natürlich«, sagte sie lächelnd, »sehe ich in Jack kein Problem, sondern einen Partner.« Der Präsident nickte.
   »Die Russen haben uns ein Team geschickt, das die CIA umfassend über die Verhältnisse an der Schwarzmeerküste informiert hat. Mit China stehen wir in engem Austausch. Das mit den Deutschen ist wahrscheinlich Quatsch. Ich habe eigentlich nicht den Eindruck, dass sie auf eigene Rechnung spielen, aber Sie wissen ja, was in solchen Zeiten an Gerüchten durch die Medien geistert. Nein, wir können zufrieden sein. Es ist schon großartig, wie viele Menschen unterschiedlicher Nationen sich in Gott finden, wenn der Teufel aus dem Meer steigt.« Er fuhr sich über die Augen. »Also wie weit sind wir? Ich wollte Sie das nicht vor den anderen fragen, Jude, ich will Sie nicht in die peinliche Situation bringen, etwas beschönigen zu müssen, aber seien Sie jetzt offen. — Wie — weit — sind — wir?«
   »Wir stehen kurz vor dem Durchbruch.«
   »Wie kurz ist kurz?«
   »Rubin meint, wenn alles gut geht, kann er in ein bis zwei Tagen liefern. Wir hatten im Laboratorium einen Treffer. Es gibt einen Duftstoff, über den die Yrr kommunizieren. Sie haben das Zeug künstlich hergestellt und …«
   »Ersparen Sie mir die Einzelheiten. Rubin sagt, er kriegt das hin?«
   »Er ist ganz sicher, Sir«, sagte Li. »Und ich bin es auch.«
   Der Präsident schürzte die Lippen. »Ich verlasse mich auf Sie, Jude. Gibt es sonst irgendwelche Komplikationen mit Ihren Wissenschaftlern?«
   »Nein«, log sie. »Alles läuft bestens.«
   Wieso stellte er diese Frage? Hatte Vanderbilt …
   Ruhig, Jude. Eine zufällige Formulierung. Das war nicht in Vanderbilts Interesse. Der Fettsack hatte zwar ein Schandmaul, aber Vanderbilt schoss sich nicht selber ins Knie.
   »Sir«, sagte sie. »Wir liegen weit vorne. Ich habe Ihnen versprochen, die Sache in unser aller Sinne zu Ende zu bringen, und das werde ich auch. Wir werden die Welt retten. Die Vereinigten Staaten von Amerika werden sie retten. Sie werden die Welt retten.«
   »So wie im Kino, was?«
   »Besser.«
   Der Präsident nickte düster. Dann lächelte er unvermittelt. Es war nicht ganz das strahlende Lächeln wie sonst. Aber etwas von dem unabdingbaren Siegeswillen lag darin, um dessentwillen sie ihn bewunderte und verehrte.
   »Gott mit Ihnen, Jude«, sagte er.
   Er schaltete ab. Li blieb auf ihrem Laufband zurück, und plötzlich fragte sie sich, ob sie es tatsächlich schaffen würden.
 
Combat Information Center
 
   Was immer die Botschaft über den Feind im Meer verriet — von den Sachzwängen menschlicher Biochemie kündete Shankars knurrender Magen so beredt, dass Crowe es irgendwann nicht mehr mit anhören konnte und ihn zum Essen schickte.
   »Ich muss nichts essen«, beharrte Shankar.
   »Tu mir den Gefallen«, sagte Crowe.
   »Wir haben keine Zeit, essen zu gehen.«
   »Das weiß ich selber. Wir haben aber auch nichts davon, wenn man irgendwann unsere gebleichten Knochen findet. Ich ernähre mich wenigstens von Lucky Strike. Geh schon, Murray. Iss was, komm gestärkt zurück und lös unsere Probleme mit einem konstruktiven Aufstoßen.«
   Shankar ging, und sie war allein. Ein bisschen Alleinsein hatte sie gebraucht. Es ging nicht gegen Shankar. Er war brillant und eine große Hilfe.
   Aber Shankar wurzelte im Akustischen. Mit außermenschlichen Denkweisen tat er sich schwer, und Crowe war immer dann auf die besten Ideen gekommen, wenn sie nichts und niemanden um sich hatte außer Qualm.
   Sie rauchte eine Zigarette und rollte die Sache neu auf.
   H2O. Wir leben im Wasser.
   Die Botschaft nahm sich aus wie ein Tapetenmuster. Ein Rapport aus H2O. Immer gleich, aber jedes H2O gekoppelt mit irgendwelchen Zusatzdaten. Millionen solcher Datenpaare aneinander gereiht. In der graphischen Übersetzung wurden Bilder daraus, die Linien zeigten. Der Gedanke lag natürlich nahe, dass die Zusatzdaten Eigenschaften des Wassers beschrieben oder etwas, das darin lebte.
   Vielleicht aber war dieser Gedanke falsch.
   Was hatten die Yrr zu erzählen?
   Wasser. Was noch?
   Crowe überlegte. Plötzlich kam ihr ein Beispiel in den Sinn. Zwei Aussagen. Erstens, dies ist ein Eimer. Zweitens, dies ist Wasser. Zusammengenommen ein Eimer Wasser. Die Wassermoleküle waren alle gleich, die Daten, die den Eimer beschrieben, keineswegs. Sie differierten, was die Form des Eimers anging, seine Oberflächenstruktur, eventuelle Muster. Ein Datensatz, der einen Eimer beschrieb, in tausend unterschiedliche Einzelaussagen aufgeschlüsselt, war also eine differenzierte Angelegenheit. Nun die Aussage, dass der Eimer randvoll mit Wasser sei. Ganz einfach zu treffen, indem man jeder der Eimer-Aussagen die Zusatzaussage ›Wasser‹ anhängte.
   Andersrum: H2O wurde gekoppelt mit Daten, die etwas beschrieben, das mit Wasser nicht das Geringste zu tun hatte. Nämlich einen Eimer.
   Wir leben im Wasser.
   Und wo ist dieses Wasser? Wie kann man Aussagen über den Ort von etwas treffen, das selber keine Gestalt hat?
   Indem man beschreibt, was es begrenzt.
   Küsten und Meeresboden.
   Die freien Flächen waren Festland, ihre Ränder Küsten.
   Crowe ließ beinahe ihre Zigarette fallen. Sie begann dem Computer Befehle einzugeben. Mit einem Mal wusste sie, warum die Flächen zusammen kein Bild ergaben. Weil sie keinen zweidimensionalen Raum beschrieben, sondern einen dreidimensionalen. Man musste sie biegen, damit sie zusammenpassten. So lange biegen, bis sie etwas Dreidimensionales ergaben.
   Eine Kugel.
   Die Erde.
 
Labor
 
   Zur gleichen Zeit saß Johanson über den Proben, die er dem Yrr-Gewebe entnommen hatte. Oliviera war nach zwölf Stunden hoch konzentrierter Laborarbeit nicht mehr in der Lage gewesen, offenen Auges durch ein Mikroskop zu blicken. Sie hatte wenig geschlafen in den Nächten zuvor. Allmählich begann die Expedition, ihren Tribut zu fordern. Obwohl sie in Riesenschritten vorankamen, saß allen die Verunsicherung tief in den Knochen. Jeder reagierte auf seine Weise. Greywolf hatte sich ins Welldeck zurückgezogen. Er pflegte die verbliebenen drei Delphine, wertete ihre Daten aus und ging Kontakten aus dem Weg. Andere legten eine spürbare Gereiztheit an den Tag. Manche blieben stoisch, und Rubin kompensierte den Schrecken mit Migräne — neben Olivieras wohl verdientem Schönheitsschlaf der zweite Grund, warum Johanson allein in dem großen, dämmrigen Labor saß.
   Er hatte die Hauptbeleuchtung ausgeschaltet. Tischleuchten und Computerbildschirme bildeten die einzigen Lichtquellen. Aus dem stetig vor sich hin summenden Simulator drang ein kaum wahrnehmbarer blauer Schein. Die Masse bedeckte unverändert den Boden. Man hätte sie für tot halten können, aber inzwischen wusste er es besser.
   Solange sie leuchtete, war sie äußerst lebendig!
   Auf der Rampe erklangen Schritte. Anawak steckte den Kopf herein.
   »Leon.« Johanson sah von seinen Unterlagen auf. »Wie nett.«
   Anawak lächelte. Er kam herein, zog einen Stuhl heran und setzte sich rittlings darauf, die Arme über die Lehne verschränkt. »Es ist drei Uhr morgens«, sagte er. »Was zum Teufel tust du hier?«
   »Arbeiten. Was tust du hier?«
   »Ich kann nicht schlafen.«
   »Vielleicht sollten wir uns einen Schluck Bordeaux genehmigen. Was meinst du?«
   »Oh, das …« Anawak sah plötzlich verlegen aus. »Wirklich sehr freundlich von dir, aber ich trinke keinen Alkohol.«
   »Nie?«
   »Nie.«
   »Komisch.« Johanson runzelte die Stirn. »Normalerweise fällt mir so was auf. Wir laufen alle ein bisschen neben der Spur, was?«
   »Ja, kann man sagen.« Anawak machte eine Pause. Er schien über irgendetwas reden zu wollen, aber dann fragte er: »Und wie kommst du voran?« »Gut«, erwiderte Johanson und fügte wie beiläufig hinzu: »Ich habe euer Problem gelöst.«
   »Unser Problem?«
   »Deines und Karens. Das Problem mit dem DNA-Gedächtnis. Ihr hattet Recht. Es funktioniert, und ich weiß auch, wie.«
   Anawak machte große Augen. »Das sagst du so nebenbei?«
   »Du musst entschuldigen. Ich bin zu müde für den erforderlichen Flicflac. Aber du hast natürlich Recht, man müsste es begießen.«
   »Wie bist du dahinter gekommen?«
   »Diese rätselhaften hypervariablen Bereiche, du erinnerst dich — es sind Cluster. Überall auf dem Genom finden sich solche Cluster, die bestimmte Proteinfamilien codieren. — Äh … weißt du überhaupt, wovon ich rede?«
   »Hilf mir auf die Sprünge.«
   »Cluster sind Subklassen von Genen. Gene, die für irgendwas zuständig sind, zum Beispiel für die Ausbildung von Rezeptoren oder die Produktion irgendwelcher Stoffe. Wenn sich eine Zusammenballung dieser Gene auf einem Streckenabschnitt der DNA findet, nennt man das Cluster. Und davon hat das Yrr-Genom jede Menge. Der Witz an der Sache ist, dass die Yrr-Zellen durchaus repariert werden. Aber bei den Yrr startet die Reparatur nicht global für das ganze Genom, und die Enzyme suchen auch nicht die komplette DNA nach Fehlern ab, sondern reagieren nur auf spezifische Signale. Wie auf einer Eisenbahnstrecke. Erkennen sie ein Startsignal, beginnen sie zu reparieren, gelangen sie an ein Stoppsignal, hören sie auf. Denn dort beginnt …«
   »Das Cluster.«
   »Genau. Und die Cluster sind geschützt.«
   »Sie können Teile ihres Genoms vor der Reparatur schützen?«
   »Durch Reparatur-Repressoren. Biologische Türsteher, wenn du so willst. Sie schirmen die Cluster gegen Reparatur-Enzyme ab. Darum sind diese Bereiche frei, ohne Unterlass zu mutieren, während der Rest der DNA brav repariert wird, um die Kerninformationen der Rasse zu erhalten. Schlau, was? Auf diese Weise wird jedes Yrr zu einem unbegrenzt entwicklungsfähigen Gehirn.«
   »Und wie tauschen sie sich aus?«
   »Wie Sue schon sagte, von Zelle zu Zelle. Durch Liganden und Rezeptoren. Die Rezeptoren empfangen die Liganden, die Sendeimpulse, von anderen Zellen und setzen eine Signalkaskade in Richtung Zellkern in Bewegung. Das Genom mutiert und gibt die Impulse an die nächstliegenden Zellen weiter. Alles geht blitzschnell. Der Haufen Gallerte da im Tank denkt in der Geschwindigkeit von Supraleitern.«
   »Tatsächlich eine ganz neue Biochemie«, flüsterte Anawak.
   »Oder eine ganz alte. Neu ist sie nur für uns. In Wirklichkeit existiert sie wahrscheinlich schon seit Jahrmillionen. Vielleicht seit Anbeginn des Lebens. Eine parallele Spielart der Evolution.« Johanson stieß ein kleines Lachen aus. »Eine sehr erfolgreiche Spielart.«
   Anawak stützte das Kinn in die Hände. »Aber was fangen wir jetzt damit an?«
   »Gute Frage. Ich hatte selten so ein vermurkstes Gefühl wie heute. Dass mich so viel Wissen so wenig weiterbringt. Es bestätigt nur, was wir ohnehin befürchtet hatten.
   Dass sie in jeder Hinsicht anders sind als wir.« Er reckte die Arme und gähnte ausgiebig. »Ich weiß nur nicht, ob Crowes Kontaktversuche uns weiterbringen. Im Augenblick kommt’s mir eher so vor, als ob die sich prächtig mit uns unterhalten, während sie uns zugleich den Garaus machen. Vielleicht stellt das in ihren Augen keinen Widerspruch dar. Meine Art von Konversation ist das jedenfalls nicht.«
   »Uns bleibt keine Wahl. Wir müssen einen Weg der Verständigung finden.« Anawak saugte an seiner Backe. »Bei der Gelegenheit — glaubst du eigentlich, dass alle auf dem Schiff am selben Strang ziehen?«
   Johanson horchte auf. »Wie kommst du jetzt darauf?«
   »Weil …« Anawak verzog das Gesicht. »Okay, sei ihr nicht böse, aber Karen hat mir erzählt, was du in der Nacht vor deinem komischen Unfall gesehen hast. Oder meinst gesehen zu haben.«
   Johanson maß ihn mit kritischen Blicken. »Und wie denkt sie darüber?«