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»Wie heißen Sie?«, fragte Johanson unvermittelt.
»Was?« Die Augen des Soldaten flackerten. Dann riss er das Gewehr hoch und richtete es auf Johanson.
»Nein!«, schrie Weaver.
Johanson hob die Hand zum Zeichen, dass alles in Ordnung sei. Er sah in die Mündung der Waffe und senkte seine Stimme.
»Bitte sagen Sie uns Ihren Namen.«
Der Soldat zögerte.
»Es ist wichtig, dass wir Ihren Namen kennen«, wiederholte Johanson im Tonfall des freundlichen Herrn Pfarrers.
»MacMillan. Ich bin … ich heiße MacMillan.«
Allmählich begriff Weaver, was Johanson vorhatte. Der erste Weg, jemanden in die Normalität zurückzuholen, bestand darin, ihm ins Gedächtnis zu rufen, wer er war.
»Gut, MacMillan, sehr gut. Hören Sie, wir brauchen Ihre Hilfe. Dieses Schiff sinkt. Wir müssen ein Experiment durchführen, das uns alle retten könnte …«
»Uns alle?«
»Haben Sie Familie, MacMillan?«
»Warum wollen Sie das wissen?«
»Wo lebt Ihre Familie?«
»Boston.« Die Gesichtszüge des Jungen verzogen sich. Er begann zu weinen. »Aber Boston ist …«
»Ich weiß«, sagte Johanson eindringlich. »Hören Sie, wir können noch etwas tun, um alles wieder in Ordnung zu bringen. Auch in Boston. Aber dafür brauchen wir Ihre Hilfe. Wir brauchen sie jetzt! Jede Sekunde, die wir verlieren, kostet Ihre Familie vielleicht die letzte Chance.«
»Bitte«, sagte Weaver. »Helfen Sie uns.«
Der Soldat ließ seine Blicke weiter zwischen ihr und Johanson hin— und herwandern. Er schniefte laut. Dann ließ er das Gewehr sinken.
»Sie bringen uns hier raus?«, fragte er.
»Ja.« Weaver nickte. »Versprochen.«
Mein Gott, was redest du, dachte sie. Gar nichts kannst du versprechen. Überhaupt nichts.
Das geheime Labor war erstaunlich intakt. Es lag höher als das reguläre. Der Boden war übersät mit Scherben, aber ansonsten schien alles an seinem Platz.
Einige Monitore flackerten vor sich hin.
»Wo hat er bloß die Röhren«, überlegte Li.
Sie steckte ihre Waffe zurück ins Halfter und sah sich um. Der Raum war verlassen. In dem kleinen Hochdrucktank erwartete sie blaues Schimmern zu sehen, aber dann fiel ihr ein, dass Rubin erwähnt hatte, er hätte das Gift erfolgreich getestet. Sie spähte durch eines der Bullaugen. Nichts. Kein Organismus, kein Leuchten.
Peak wanderte zwischen den Labortischen und Schränken umher.
»Hier«, rief er.
Li eilte zu ihm. Ein Gestell war umgefallen. Mehrere schlanke, torpedoförmige Röhren lagen kreuz und quer übereinander, jede knapp einen Meter lang. Sie hoben die Röhren nacheinander auf. Zwei waren deutlich schwerer als die anderen, und plötzlich sah Li auch die Kennzeichnungen. Rubin hatte sie mit einem wasserfesten Marker auf die Seiten geschrieben.
»Sal«, sagte sie fasziniert. »Wir halten die neue Weltordnung in Händen.«
»Schön.« Peak sah sich nervös um. Ein Reagenzglas rollte von einem Tisch und zerbrach mit leisem Klirren. Immer noch dröhnte der Alarm durch das Schiff. »Dann lassen Sie uns die neue Weltordnung schleunigst hier rausbringen.«
Li lachte laut auf. Sie reichte Peak eine der Röhren, nahm die andere und lief aus dem Labor auf den Gang hinaus.
»In fünf Minuten werde ich diese Anmaßung der Schöpfung in den Orkus schicken, Sal, darauf können Sie sich verlassen!«
»Mit wem wollen Sie runtergehen? Glauben Sie, dass Mick noch lebt?«
»Mir ist scheißegal, ob er lebt.«
»Ich könnte Sie begleiten.«
»Danke, Sal, zu großzügig. Was wollen Sie tun? Mir da unten die Ohren voll heulen, weil ich mir erlauben könnte, blauen Schleim zu töten?«
»Das ist was anderes, und das wissen Sie genau! Es ist ein verdammter Unterschied, ob …«
Sie erreichten den Niedergang. Von der anderen Seite näherte sich jemand. Er rannte ihnen entgegen, den Kopf gesenkt.
»Leon!«
Anawak schaute auf, erkannte sie und blieb abrupt stehen. Sie waren einander sehr nahe, nur der Niedergang lag zwischen ihnen.
»Jude. Sal.« Anawak starrte sie an. »Na so was.«
Na so was? Lächerlich! Der Mann war miserabel darin, sich zu verstellen. Beim ersten Blick in seine Augen hatte Li erkannt, dass Anawak über alles Bescheid wusste.
»Wo kommen Sie her?«, fragte sie.
»Ich … ich wollte die anderen suchen und …«
Egal, wie viel er wusste. Sie hatten keine Zeit zu verlieren. Vielleicht suchte er wirklich nur seine Freunde, vielleicht hatte er einen Plan. Es spielte keine Rolle.
Anawak stand im Weg. Li zog ihre Waffe.
Crowe war dicht hinter Shankar gewesen, als sie aufs Dach hinausliefen, aber dann hatte man sie aufgehalten.
»Warten Sie«, sagte jemand in Uniform.
»Aber ich muss …«
»Sie sind in der nächsten Gruppe.«
Inzwischen hatten bereits zwei der großen Super Stallions das Dach verlassen. Zwei weitere warteten gegenüber der Insel. Sie parkten unmittelbar hintereinander. Shankar drehte sich zu ihr um, während er zusammen mit Soldaten und Zivilisten auf einen der Helikopter zurannte. Das riesige Flugfeld neigte sich immer mehr. So groß war es, dass der Eindruck entstand, nicht das Schiff, sondern die aufgewühlte, schaumbedeckte See habe sich schräg gestellt.
»Wir sehen uns später!«, rief Shankar. »Du kommst mit dem nächsten Vogel raus.«
Crowe sah ihm hinterher, wie er die Rampe hinauflief, die unter dem Schwanz des Super Stallion ins Innere führte. Eisiger Wind peitschte ihr ins Gesicht. Wie es aussah, verlief die Evakuierung einigermaßen geordnet. Auch gut. Sie musste sich eben noch gedulden.
Ihr Blick wanderte umher. Wo waren überhaupt die anderen? Leon, Sigur, Karen … Waren sie schon von Bord? Ein beruhigender Gedanke. Hinter Shankar schloss sich die Klappe. Die Rotoren begannen sich schneller zu drehen.
Knapp 30 Meter unterhalb des Flugdecks drückte das eingedrungene Meerwasser gegen die Schotts der bugwärts gelegenen Frachträume und der unteren Mannschaftsquartiere.
Die Schotts hielten.
Ein einzelner Torpedo trieb im Wasser. Bei der Explosion des Tauchboots war er abgesprengt worden, ohne zu detonieren. Solche Fälle ereigneten sich selten, aber es kam vor. Der Torpedo war in einem der überfluteten Laderäume auf ein Laufgitter hinabgesunken, das sich — halb aus seiner Verankerung gerissen — durch die Dunkelheit wand. Sacht rollte er darauf hin und her. Dabei rutschte er zentimeterweise nach vorn, der Neigung des Schiffes folgend.
Die Schotts hielten, aber das Laufgitter quietschte und ächzte unter dem Druck. Wo es noch festhing, bogen sich die Streben unter Hochspannung. Dünne Risse bildeten sich im Stahl der Wand. Eine der dicken Befestigungsschrauben löste sich langsam aus ihrer Verankerung und zog das Gewinde mit heraus …
Mit einem Knall war sie draußen.
Die Spannung entlud sich. Das Gitter schoss hoch, weitere Schrauben flogen heraus, die Wand brach ein. Der Torpedo erhielt einen Schlag, der ihn hoch katapultierte und direkt auf eine Stelle leitete, wo alles Mögliche aneinander grenzte, bugwärts gelegene Laderäume, darüber die riesigen Gemeinschaftsräume der Marines zur einen und zur anderen Seite das stillgelegte Fahrzeugdeck gleich unter dem Labor.
Es war eine der empfindlichsten Nahtstellen des Schiffs.
Die Sprengladung tat das Ihre.
»Nein«, sagte Peak. Er ließ die Torpedohülle fallen und richtete seine Pistole auf Li. »Das werden Sie nicht tun.«
Li stand unbewegt. Ihre Waffe zielte auf Anawak.
»Sal, es reicht mir allmählich mit Ihrer Renitenz«, zischte sie. »Benehmen Sie sich gefälligst nicht wie ein Idiot.«
»Waffe runter.«
»Verdammt, Sal! Ich bringe Sie vor ein Kriegsgericht, ich …«
»Bei drei erschieße ich Sie, Jude. Das schwöre ich. Sie werden nicht noch jemanden umbringen. Nehmen Sie Ihre Waffe runter. Eins … zwei …«
Li atmete heftig aus und senkte den Arm mit der Waffe.
»Ist ja gut, Sal. Ist ja gut.«
»Fallen lassen.«
»Warum reden wir nicht darüber und …«
»Fallen lassen!«
Ein Ausdruck unbeschreiblichen Hasses trat in Lis Augen. Die Waffe polterte zu Boden.
Anawak sah kurz zu Peak hinüber.
»Danke«, sagte er. Mit einem einzigen Satz erreichte er den Niedergang und verschwand darin. Li hörte ihn unten weiterlaufen. Die Schritte entfernten sich. Sie fluchte.
»General Commander Judith Li«, sagte Peak förmlich. »Ich enthebe Sie wegen Unzurechnungsfähigkeit Ihres Kommandos. Ab sofort stehen Sie unter meinem Befehl. Sie können …«
Es tat einen fürchterlichen Schlag. Entsetzliche Geräusche drangen aus der Tiefe. Das Schiff sackte wie ein abstürzender Fahrstuhl nach vorn, und Peak wurde von den Beinen gehebelt. Er schlug hart auf, rollte herum und kam wieder auf die Füße.
Wo war seine Waffe? Wo war Li?
»Sal!«
Er drehte sich um. Li kniete vor ihm. Sie hielt die Waffe auf ihn gerichtet.
Peak erstarrte.
»Jude.« Er schüttelte den Kopf. »Verstehen Sie doch …«
»Idiot«, sagte Li und drückte ab.
Crowe schwankte. Das Deck neigte sich noch stärker. Der Super Stallion rutschte mit laufenden Rotoren auf den davor geparkten Helikopter zu. Aufheulend hob er ab, versuchte Höhe zu gewinnen und von dem anderen Hubschrauber wegzukommen.
Crowes Atem stockte.
Nein, dachte sie. Das ist unmöglich. Das kann doch nicht sein. Nicht so kurz vor der Rettung.
Sie hörte Schreie um sich herum. Leute stürzten, andere liefen weg. Sie wurde mitgezerrt und fiel zu Boden. Im Liegen sah sie, wie der Super Stallion über den geparkten Helikopter hinwegstieg, wie eine der seitlichen Türkanonen das Leitwerk des anderen streifte und daran hängen blieb, wie sich der fliegende Koloss zu drehen begann.
Der Stallion geriet außer Kontrolle.
Sie sprang auf. In Panik begann sie zu rennen.
Buchanan glaubte seinen Augen nicht zu trauen.
Er war unvermittelt gegen seinen Stuhl geschleudert worden, gegen diesen wunderbaren Captain’s Chair mit den bequemen Armlehnen und der Fußstütze, um den ihn alle beneideten, eine Mischung aus Barhocker, Schreibtischsessel und Captain Kirks Kommandostuhl, der jetzt zu nichts anderem mehr gut war, als dass er sich den Schädel daran blutig schlug. Auf der Brücke flog alles durcheinander. Buchanan hangelte sich hoch und stürzte zu den Seitenfenstern, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie sich der Super Stallion drehte und langsam auf die Seite legte.
Das Ding hing fest!
»Raus hier!«, schrie er.
Die Maschine drehte sich weiter. Um ihn herum trat das Brückenpersonal die Flucht an, unternahm hilflose Versuche, sich in Sicherheit zu bringen, während Buchanan nicht anders konnte, als weiter hinzuschauen, wie der festhängende Hubschrauber immer mehr auf die Seite kippte.
Plötzlich löste er sich und stieg empor.
Buchanan schnappte nach Luft. Einen Moment lang sah es so aus, als habe der Pilot die Kontrolle wiedererlangt. Dann erkannte er, dass die Schieflage zu stark war. Der Schwanz des 30 Meter langen Helikopters stieg steil in die Höhe, die Triebwerke heulten noch lauter, dann kam der Super Stallion herangesaust, mit den Rotoren voran.
Buchanan hielt die Hände vors Gesicht und wich zurück.
Es war lächerlich. Ebenso gut hätte er die Arme ausbreiten und sein Ende willkommen heißen können.
Über 33 Tonnen Gefechtsgewicht, betankt mit 9000 Litern Treibstoff, krachten in die Brücke und verwandelte den vorderen Teil der Insel augenblicklich in eine lodernde Hölle. Alle Fenster zersplitterten. Eine Feuerwalze schoss fauchend durch den Aufbau, verschmorte die Inneneinrichtung und brachte die Bildschirme zum Explodieren, sprengte Schotts aus ihren Verankerungen, erwischte die Fliehenden auf den Niedergängen, verbrannte sie zu Asche und setzte sich durch die Gänge im Inselinnern fort.
Crowe lief um ihr Leben.
Neben ihr schlugen brennende Trümmerteile auf. Sie rannte auf das Heck der Independence zu. Inzwischen war das Schiff so weit abgesackt, dass sie bergauf laufen musste, was ihr heftiges Keuchen entlockte: In den letzten Jahren war ihrer Lunge mehr Nikotin als Frischluft zugeführt worden.
Eigentlich hatte sie immer angenommen, irgendwann an Lungenkrebs zu sterben.
Sie stolperte und schlitterte über den Asphalt. Im Hochkommen sah sie den kompletten vorderen Teil der Insel in ledernen Flammen stehen. Auch der zweite Hubschrauber brannte. Menschen liefen als lebendige Fackeln über das Deck, bevor sie zusammenbrachen. Der Anblick war grauenhaft, und die damit verbundene Gewissheit, dass sie nun kaum noch eine Chance hatte, den Untergang der Independence zu überleben, war noch grauenhafter.
Heftige Detonationen ließen Glutbälle über der Insel aufsteigen. Das Feuer brüllte und tobte. Mitten hinein mischte sich ein lauter Knall, und dicht vor Crowes Füßen ging ein Funkenregen nieder.
Shankar war in dem Inferno ums Leben gekommen.
So wollte sie nicht sterben.
Sie sprang auf, lief weiter dem Heck zu, ohne die geringste Vorstellung, wie es dort weitergehen sollte.
Li fluchte.
Den ersten Torpedo hatte sie unter den Arm geklemmt, aber der zweite war irgendwo hingerollt. Entweder war er in den Niedergang gefallen oder weiter den Gang Richtung Bug gerollt.
Peak, das verdammte Arschloch!
Sie stieg über seinen Leichnam hinweg, während sie überlegte, ob ein Torpedo voller Gift reichen würde. Aber dann blieb ihr nur eine Chance. Vielleicht versagte der eine, vielleicht öffnete er sich nicht, um das Gift ins Wasser zu entlassen. Zwei waren auf alle Fälle besser.
Angestrengt spähte sie in den Gang.
Plötzlich hörte sie über sich ein gewaltiges Dröhnen. Diesmal erzitterte das Schiff noch stärker. Sie stürzte und rutschte auf dem Rücken den Flur hinunter. Was passierte jetzt wieder? Das Schiff flog in die Luft! Sie musste raus hier. Es ging nicht mehr alleine um den Auftrag, das Deepflight würde auch ihr Leben retten müssen. Der Torpedo entglitt ihr. »Scheiße!«
Sie griff danach, aber er rumpelte an ihr vorbei. Wären die Dinger mit Sprengstoff gefüllt gewesen, hätte es spätestens jetzt geknallt. Aber es war nur Flüssigkeit darin. Kein Sprengstoff, sondern Flüssigkeit, genug, um eine intelligente Rasse auszulöschen.
Sie spreizte Arme und Beine ab und versuchte, sich irgendwo zu verkeilen. Nach einigen Sekunden kam sie zur Ruhe. Ihr ganzer Körper schmerzte, als habe jemand mit Eisenstangen darauf eingeprügelt. Vielleicht sah man ihr nicht an, dass sie auf die fünfzig zuging, aber gerade fühlte sie sich wie hundert. Sie schob sich die Wand hoch und schaute sich um.
Auch der zweite Torpedo war verschwunden.
Sie hätte schreien können.
Die Geräusche aus dem Untergrund, die das eindringende Wasser verursachte, erklangen beunruhigend nahe. Lange würde es nicht mehr dauern. Von oben drang brodelnder Lärm.
Und Hitze.
Sie stutzte. Tatsächlich. Es war wärmer geworden.
Sie musste die Torpedos wieder finden.
Wild entschlossen stieß sie sich von der Wand ab und begab sich auf die Suche.
MacMillan, der Soldat, war dicht hinter ihnen gegangen, das Gewehr im Anschlag, als der Schlag das Labor erbeben ließ. Sie stürzten allesamt ins Wasser. Als Weaver wieder hochkam, krachte es über ihnen fürchterlich, als sei etwas Großes in die Luft geflogen.
Dann fiel das Licht aus.
Von einer Sekunde auf die andere starrte Weaver in tintige Schwärze.
»Sigur?«, rief sie.
Keine Antwort.
»MacMillan?«
»Ich bin hier.«
Sie spürte Grund unter den Füßen. Das Wasser stand ihr bis zur Brust. Verflucht, auch das noch! Sie waren fast schon bei einem der toten Soldaten gewesen.
Etwas stieß sacht gegen ihre Schulter. Sie griff danach. Ein Stiefel. Sie hielt einen Stiefel in der Hand, und in dem Schaft steckte ein Bein.
»Karen?«
Johansons Stimme, ganz nah. Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit. Im nächsten Moment flammte rote Notbeleuchtung auf und verlieh dem Labor die Atmosphäre einer dämmrigen Vorhölle. Gleich neben sich sah sie schattenhaft Johansons Kopf und Schultern aus dem Wasser ragen.
»Komm rüber«, rief sie. »Hilf mir.«
Das dumpfe Dröhnen und Tosen drang jetzt nicht mehr nur von unten, sondern auch aus der Höhe herab. Was war da los? Plötzlich hatte sie das Gefühl, dass es wärmer wurde im Labor. Johanson erschien an ihrer Seite.
»Wer ist es?«
»Egal. Pack mit an.«
»Wir müssen hier raus«, keuchte MacMillan. »Schnell.«
»Ja, sofort, wir …«
»Schnell!«
Weavers Blick fiel auf eine Stelle weiter hinten im Wasser.
Schwaches, blaues Leuchten.
Ein Lichtblitz.
Sie packte den Fuß des Toten fester und kämpfte sich durch das Wasser in Richtung Tür. Johanson hatte den Arm des Mannes umfasst. Oder war es eine Frau? Hatten sie am Ende Oliviera erwischt? Weaver hoffte inständig, dass es nicht die arme Sue war, die sie da mit sich schleppten. Sie drängte vorwärts, trat auf etwas, das zur Seite wegrutschte, und geriet mit dem Kopf unter Wasser.
Mit offenen Augen starrte sie in die Schwärze.
Etwas schlängelte sich auf sie zu.
Es kam sehr schnell näher und sah aus wie ein langer, leuchtender Aal. Nein, kein Aal. Eher ein riesiger, kopfloser Wurm. Und da waren noch mehr von den Dingern.
Sie tauchte auf.
»Weg hier.«
Johanson zerrte an der anderen Seite. Unter der Wasseroberfläche waren die leuchtenden, ausschwärmenden Tentakel zu sehen, jetzt mindestens ein Dutzend. MacMillan hob das Gewehr. Weaver spürte, wie etwas ihren Knöchel entlang glitt und plötzlich daran zerrte.
Im nächsten Moment umschlangen sie mehrere der Dinger und krochen an ihr hoch. Sie versuchte das Zeug abzureißen. Johanson sprang hinzu und grub seine Finger zwischen die Tentakel und ihren Körper, aber es war, als stecke sie im Klammergriff einer Anaconda.
Das Wesen zog an ihr.
Das Wesen? Sie kämpfte gegen Milliarden von Wesen. Abermilliarden von Einzellern.
»Ich krieg’s nicht los«, keuchte Johanson.
Die Gallerte kroch über ihre Brust und ihren Hals entlang. Weaver geriet erneut unter Wasser, das jetzt immer stärker leuchtete. Hinter den Tentakeln schob sich etwas Größeres heran. Die Hauptmasse des Organismus.
Mit aller Kraft kämpfte sie sich an die Oberfläche.
»MacMillan«, gurgelte sie.
Der Soldat hob das Gewehr.
»Damit richten Sie nichts aus«, schrie Johanson.
MacMillan schien plötzlich ganz ruhig geworden zu sein. Er legte an und zielte auf die große, näher rückende Masse.
»Damit richte ich was aus«, sagte er.
Ein trockenes Stakkato ertönte, als MacMillan feuerte.
»Explosivgeschosse richten immer was aus!«
Die Salve drang in den Organismus. Wasser spritzte auf. MacMillan schickte eine zweite Garbe hinterher, und das Ding flog in Fetzen auseinander. Brocken von Gallerte klatschten ihnen um die Ohren. Weaver rang nach Luft. Mit einem Mal war sie frei. Johanson packte zu. Wie verrückt zogen sie an dem Leichnam. Der Wasserspiegel sank, und sie kamen schneller voran. Nachdem sich das Schiff weiter nach vorn geneigt hatte, sammelte sich der Hauptteil des Wassers jetzt im bugwärtigen Teil des Labors, und die Tür lag beinahe im Trockenen. Es war schwierig, auf dem abschüssigen Boden nicht auszurutschen, aber plötzlich wateten sie nur noch durch knöchelhohes Wasser.
Sie wuchteten den Toten hinaus auf die Rampe. Auch dort war das Wasser zurückgegangen. Plötzlich glaubte Weaver einen erstickten Schrei zu hören.
»MacMillan?«
Sie spähte ins Labor. »MacMillan, wo sind Sie?«
Der leuchtende Organismus strebte wieder zusammen. Die Fetzen verschmolzen miteinander. Von den Tentakeln war nichts zu sehen. Das Wesen hatte eine flache Form angenommen.
»Schließ die Tür«, rief Johanson. »Es kann immer noch raus. Da ist immer noch genügend Wasser.«
»MacMillan?«
Weaver klammerte sich am Türrahmen fest und starrte weiter in den rot erleuchteten Raum, aber der Soldat blieb verschwunden.
MacMillan hatte es nicht geschafft.
Ein dünner, leuchtender Faden näherte sich. Sie sprang zurück und ließ das Schott zufahren. Der Faden beschleunigte sein Tempo, aber diesmal reichte es nicht. Die Tür schloss sich.
Anawak war auf dem Niedergang von der Explosion überrascht und heftig durchgeschüttelt worden. Das Atmen fiel ihm schwer, und sein Knie schmerzte. Er fluchte. Ausgerechnet das Knie, das ihm seit dem Absturz der Beaver genug Schwierigkeiten bereitete, hatte sich Vanderbilt ausgesucht, um dagegen zu treten.
Er fand verschiedene Niedergänge blockiert. Das Schiff lag jetzt sehr schräg. Der einzige Weg führte über die Rampe des Hangardecks, also lief er zurück und nahm eine andere Route nach oben, bis er hoch genug war, um auf die Rampe zu gelangen. Je höher er kam, desto heißer wurde es. Was war da oben los? Der Lärm verhieß nichts Gutes. Er stolperte aufs Hangardeck hinaus und sah dichten, schwarzen Rauch durch die offenen Tore ziehen.
Plötzlich glaubte er, jemanden um Hilfe rufen zu hören.
Er ging ein paar Schritte in den Hangar hinein.
»Ist da jemand?«, schrie er.
Die Sicht war schlecht. Gegen die schwarzen Schlieren konnte sich die fahlgelbe Deckenbeleuchtung kaum behaupten. Dafür war der Hilferuf jetzt deutlich zu hören.
Crowes Stimme!
»Sam?« Anawak rannte ein Stück in die Rußschwaden hinein.
Er horchte, aber der Hilferuf wiederholte sich nicht.
»Sam? Wo bist du?«
Nichts.
Er wartete noch einen Moment, dann drehte er um und rannte auf die Rampe. Zu spät merkte er, dass sie jetzt die Steilheit einer Sprungschanze hatte. Seine Beine knickten ein. Sich überschlagend, rasselte er abwärts und betete, dass wenigstens einige der Spritzen heil blieben. Ob seine Knochen heil bleiben würden, war zu bezweifeln. Aber nirgendwo knackte oder brach etwas. Als er endlich unten ankam, platschte er in Wasser, das seinen Aufprall dämpfte. Er schüttelte sich, kroch auf allen vieren hinaus und sah ein Stück weiter Weaver und Johanson, die einen Körper in Richtung Welldeck schleppten.
Ein dünner Wasserfilm bedeckte den Boden.
Das künstliche Hafenbecken! Es lief in den Gang hinein. Wenn sich die Independence noch weiter neigte, würde es diesen Bereich vollständig überfluten.
Sie mussten sich beeilen.
»Ich habe die Spritzen«, schrie er.
Johanson sah auf. »Wurde auch Zeit.«
»Wer ist das? Wen habt ihr da?« Anawak rappelte sich hoch, lief zu den beiden hinüber und warf einen Blick auf die Leiche.
Es war Rubin.
Am Ende des Dachs hockte Crowe und sah fassungslos zu, wie die Insel abbrannte.
Neben ihr lag ein zitternder, pakistanisch aussehender Mann. Er trug die Montur eines Kochs. Außer ihnen beiden war entweder niemand auf die Idee gekommen, sich hierher zu flüchten, oder niemandem war es gelungen. Der Mann keuchte und richtete sich auf.
»Wissen Sie was?«, sagte Crowe. »Das ist das Resultat der Auseinandersetzung intelligenter Rassen.«
Der Koch starrte sie an, als seien ihr Hörner gewachsen.
Crowe seufzte.
Sie war zu der Stelle gelaufen, unterhalb derer die Plattform des Steuerbordlifts lag. Dort gähnte der Durchlass ins Hangardeck. Ein paar Mal hatte sie hineingerufen, aber niemand hatte geantwortet.
Sie würden mit dem brennenden Schiff absaufen.
Wenn es irgendwo Rettungsboote gab, nützten sie wahrscheinlich wenig. Auf einem Helikopterträger ging man zuallererst davon aus, dass Menschen mit Fluggerät in Sicherheit gebracht wurden. Sollte es Rettungsboote geben, brauchte es wiederum jemanden, um sie aus ihren Verankerungen zu lösen und zu Wasser zu lassen. Aber alle diese Jemands waren in der Gluthölle verschwunden.
Schwarzer Qualm trieb zu ihnen herüber. Widerlicher, teeriger Qualm. Sie wollte in ihrer letzten Stunde nicht ein solches Zeug einatmen.
»Haben Sie eine Zigarette?«, fragte sie den Koch.
Sie erwartete, dass er sie nun für vollkommen verrückt erklären würde, aber stattdessen kramte er ein Päckchen Marlboro und ein Feuerzeug hervor.
»Lights«, sagte er.
»Oh? Wegen der Gesundheit?« Crowe lächelte und paffte, während der Koch ihr Feuer gab. »Sehr vernünftig.«
»Wir spritzen ihm das Zeug unter die Zunge, in die Nase, in Augen und Ohren«, sagte Weaver.
»Warum gerade dahin?«, fragte Anawak.
»Weil es da am besten wieder austreten kann, dachte ich.«
»Dann spritz es ihm auch gleich unter die Fingernägel. Und nimm die Fußnägel dazu. Am besten überallhin. Je mehr, desto besser.«
Das Welldeck war verlassen, das technische Personal offenbar geflohen. Sie hatten Rubin bis auf die Unterhose ausgezogen, alles in fliegender Hast, während Johanson Anawaks Spritzen mit dem extrahierten Pheromon füllte. Bis auf eine waren alle ganz geblieben. Rubin lag oberhalb des künstlichen Gestades. Das Wasser dort stand nur wenige Zentimeter hoch, aber es stieg. Vorsichtshalber hatten sie die Gallertfetzen, unter denen ein Teil seines Kopfes verschwunden war, aufs höher gelegene Trockene geworfen. Etwas davon hing noch in seinen Ohren. Anawak pulte es heraus.
»Ihr könnt es ihm auch in den Arsch spritzen«, sagte Johanson. »Wir haben genug davon.«
»Glaubst du, es funktioniert?«, fragte Weaver zweifelnd.
»Das bisschen, was er von den Yrr noch in sich hat, dürfte kaum in der Lage sein, annähernd so viel Phermonon zu produzieren, wie wir ihm verabreichen. Wenn sie überhaupt auf den Trick reinfallen, werden sie denken, es stammt von ihm.« Johanson ging in die Hocke. Er hielt ihnen eine Hand voll gefüllter Spritzen hin. »Wer will?«
Weaver spürte Abscheu in sich aufsteigen.
»Nicht alle so laut Hier schreien«, sagte Johanson. »Leon?«
Schließlich machten sie es gemeinsam. So schnell es ging, pumpten sie Rubin voll mit Pheromonlösung, bis er fast zwei Liter davon in sich hatte. Wahrscheinlich lief die Hälfte schon wieder heraus.
»Das Wasser ist gestiegen«, bemerkte Anawak.
Weaver horchte. Unvermindert quietschte und jaulte es überall im Schiff.
»Wärmer geworden ist es auch.«
»Ja, weil das Deck abfackelt.«
»Los.« Weaver griff Rubin unter die Achseln und zog ihn hoch. »Bringen wir’s hinter uns, bevor Li hier aufkreuzt.«
»Li? Ich dachte, die hat Peak außer Gefecht gesetzt«, sagte Johanson.
Anawak warf ihm einen Blick zu, während sie Rubins Leichnam ins Welldeck schleppten. »Glaubst du dran? Du kennst sie doch. Die setzt man so leicht nicht außer Gefecht.«
Li tobte.
Immer wieder rannte sie in den Gang hinein, schaute in offene Türen. Irgendwo musste dieser verdammte Torpedo doch sein! Sie sah nur nicht richtig hin. Mit Sicherheit lag er direkt vor ihrer Nase.
»Such, du blöde Kuh«, schalt sie sich. »Zu blöde, um eine Röhre zu finden. Blöde Kuh. Verblödete Schlampe!«
Unvermittelt gab der Boden wieder unter ihr nach. Sie taumelte und hielt sich fest. Da waren weitere Schotts gebrochen. Der Gang neigte sich noch mehr ab. Die Independence lag jetzt so schräg, dass wahrscheinlich bald die ersten Wellen über die bugwärtige Kante des Flugdecks lecken würden.
Lange konnte es nicht mehr dauern.
Plötzlich sah sie den Torpedo.
Er war hinter einem offenen Durchgang hervorgekollert. Li stieß ein Triumphgeheul aus. Sie sprang hinzu, packte die Röhre und rannte den Flur hinauf zum Niedergang. Peaks Leiche hing halb darin. Sie zerrte den schweren Körper heraus und kletterte die Stiege hinab, sprang die letzten zwei Meter und hielt sich am Geländer fest, um nicht der Länge nach hinzuschlagen.
Dort lag der zweite Torpedo.
Jetzt geriet sie in Hochstimmung. Der Rest würde ein Kinderspiel sein. Sie lief weiter und stellte fest, dass es so kinderleicht nicht war, weil einige der Niedergänge durch Gegenstände blockiert waren. Sie frei zu räumen, würde zu lange dauern.
Wie kam sie hier heraus?
Sie musste zurück. Wieder nach oben und raus aufs Hangardeck, um den Weg über die Rampe zu nehmen.
Rasch, die beiden Torpedos an sich gedrückt wie ihren kostbarsten Besitz, machte sie sich an den Aufstieg.
Rubin war ein schwerer Brocken. Nachdem sie in ihre Neoprenanzüge geschlüpft waren — Johanson unter Ächzen und Stöhnen —, schleppten sie ihn mit vereinten Kräften den Steuerbordpier hoch. Das Deck bot einen absurden Anblick. Zu beiden Seiten ragten die Piers wie Sprungschanzen in die Höhe. Der Plankenboden wurde sichtbar, wo er gegen das Heckschott stieß. Inzwischen hatte ein großer Teil des Beckenwassers die vier vertäuten Zodiacs hoch gedrückt und war in den Gang zum Laboratorium geflossen. Anawak lauschte dem Ächzen des Stahls und fragte sich, wie lange die Konstruktion der Belastung noch standhalten mochte.
Schräg hingen die drei Tauchboote von der Decke. Deepflight 2 war an die Stelle des verloren gegangenen Deepflight 1 gerückt, die beiden anderen Boote hatten aufgeschlossen.
»Mit welchem will Li runter?«, fragte Anawak.
»Deepflight 3«, sagte Weaver.
Sie nahmen die Funktionen des Kontrollpults in Augenschein und probierten nacheinander verschiedene Schalter. Nichts tat sich.
»Es muss funktionieren.« Anawaks Blick wanderte über die Konsole. »Roscovitz hat gesagt, das Welldeck verfüge über einen eigenen, unabhängigen Stromkreis.« Er beugte sich tiefer über das Pult und las die Aufschriften genauer. »Da ist es. Das ist die Funktion, um sie runterzulassen. Gut, ich will Deepflight 3. Dann kann Li nichts mehr damit anrichten, wenn sie hier noch erscheint.«
Weaver setzte den Hebezug in Gang, aber statt des mittleren Tauchboots senkte sich das vordere ab.
»Kannst du nicht Deepflight 3 …? «
»Doch, es gibt wahrscheinlich einen Trick, aber ich kenne ihn nicht. Bei mir kommen sie nacheinander runter.«
»Spielt keine Rolle«, sagte Johanson nervös. »Wir haben keine Zeit zu verlieren. Nimm Deepflight 2.«
Sie warteten, bis das Boot auf Pierhöhe schwebte. Weaver sprang hinüber und öffnete die Hauben der beiden Liegeröhren. Rubins Körper schien unglaublich schwer geworden zu sein, als sie ihn auf das Boot zerrten, durchzogen von Nässe und dem Zeug, das sie hineingespritzt hatten. Sein Kopf baumelte hin und her, die Augen starrten milchig ins Nichts. Gemeinsam zerrten und schoben sie die Leiche, bis Rubin in die Röhre des Copiloten plumpste.
Jetzt also war es so weit.
Sein Traum vom Eisberg. Er hatte gewusst, dass es ihn irgendwann nach unten ziehen würde. Der Eisberg würde schmelzen, und er würde hinabsinken zum Grund des unbekannten Ozeans …
Um wen zu treffen?
»Du fährst nicht, Leon.«
Anawak hob überrascht den Kopf. »Wie meinst du das?«
»So, wie ich’s sage.« Einer von Rubins Füßen schaute noch raus. Weaver trat dagegen. Sie fand es schrecklich, so rüde mit dem Toten umzugehen, auch wenn Rubin ein Verräter gewesen war. Aber Pietät konnten sie sich im Augenblick nicht leisten. »Ich werde runtergehen.«
»Was? Wieso auf einmal?«
»Weil es richtiger ist.«
»Nein, auf keinen Fall.« Er fasste sie bei den Schultern.
»Karen, das kann tödlich ausgehen, das ist …«
»Ich weiß, wie es ausgehen kann«, sagte sie leise. »Wir haben alle keine sonderlich große Chance, aber eure ist größer. Ihr nehmt die Boote und wünscht mir Glück, okay?«
»Karen! Warum?«
»Du willst unbedingt Gründe hören, was?«
Anawak starrte sie an.
»Darf ich kurz anmerken, dass wir Zeit verlieren«, drängte Johanson. »Warum bleibt ihr nicht beide oben, und ich gehe?«
»Nein.« Weaver sah Anawak unverwandt an. »Leon weiß, dass ich Recht habe. Ein Deepflight steuere ich mit links, darin bin ich euch beiden überlegen. Ich war mit der Alvin am Atlantischen Rücken, Tausende von Kilometern tief. Ich kenne mich besser mit Tauchbooten aus als jeder andere hier, und …«
»Unsinn«, rief Anawak. »Ich kann das Ding ebenso gut fliegen.«
»… außerdem ist das da unten meine Welt. Die tiefe blaue See, Leon. Seit ich klein war. — Seit meinem zehnten Lebensjahr.«
Er öffnete den Mund, um etwas zu erwidern. Weaver legte ihm den Zeigefinger auf die Lippen und schüttelte den Kopf.
»Ich fliege.«
»Du fliegst«, flüsterte er.
»Okay.« Sie schaute sich um. »Ihr öffnet die Schleuse und lasst mich runter. Keine Ahnung, was passiert, wenn der Durchlass einmal offen ist. Vielleicht werden uns die Yrr direkt angreifen, vielleicht passiert gar nichts. Denken wir positiv. Nachdem ich mich ausgeklinkt habe, wartet ihr eine Minute, sofern die Lage es erlaubt, und flieht mit dem zweiten Boot. Kommt mir nicht nach. Bleibt einfach dicht unter den Wellen und seht zu, dass ihr Abstand zum Schiff gewinnt. Ich werde vielleicht sehr tief tauchen müssen. Später dann …« Sie machte eine Pause. »Na ja, irgendjemand wird uns schon auffischen, oder? Die Dinger haben Satellitensender an Bord.«
»Mit zwölf Knoten brauchst du zwei Tage und zwei Nächte bis Grönland oder Svalbard«, sagte Johanson. »Dafür reicht nicht mal der Sprit.«
»Wird schon schief gehen.«
Sie fühlte ihr Herz schwer werden. Schnell drückte sie Johanson an sich. Sie dachte daran, wie sie gemeinsam dem Tsunami auf den Shetlands entgangen waren.
Sie würden sich wieder sehen!
»Tapferes Mädchen«, sagte Johanson.
Dann nahm sie Anawaks Gesicht in beide Hände und gab ihm einen langen, festen Kuss auf den Mund. Am liebsten hätte sie ihn nie wieder losgelassen. Sie hatten so wenig miteinander gesprochen, so wenig von dem getan, was das Beste für sie beide war …
Jetzt bloß nicht sentimental werden.
»Mach’s gut«, sagte Anawak leise. »Spätestens in ein paar Tagen sind wir wieder zusammen.«
Mit einem Sprung war sie in der Pilotenröhre. Das Deepflight schwankte leicht. Sie legte sich auf den Bauch, kroch in die richtige Position und betätigte die Verriegelung. Langsam sanken die beiden Kuppeln herab und schlossen sich. Sie überflog die Instrumente. Alles sah intakt aus.
Weaver reckte den Daumen.
Johanson trat ans Kontrollpult, öffnete die Schleuse und setzte das Boot in Bewegung. Sie sahen zu, wie das Deepflight absank und die Stahlschotts auseinander fuhren. Dunkle See erschien. Nichts bahnte sich seinen Weg ins Innere. Weaver entriegelte von innen die Arretierung, um das Boot freizugeben. Es klatschte auf und versank. Eingeschlossene Luft schimmerte in den Glaskuppeln. Nacheinander verblassten die Farben, begannen die Umrisse zu verschwimmen, bis das Boot nur noch ein Schatten war.
Dann verschwand es.
Anawak fühlte einen Stich.
Die Heldenrollen in dieser Geschichte sind bereits verteilt, und es sind Rollen für Tote. Du gehörst in die Welt der Lebenden.
Greywolf!
Vielleicht brauchst du einen Mittler, der dir verrät, was der Vogelgeist sieht.
Greywolf war der Mittler gewesen, von dem Akesuk gesprochen hatte. Greywolf hatte ihm seinen Traum erklärt, und er hatte ihn richtig gedeutet. Der Eisberg war geschmolzen, aber Anawaks Weg führte nicht in die Tiefe, sondern ans Licht.
Er führte in die Welt der Lebenden.
Zu Crowe.
Anawak schrak zusammen. Natürlich! Wie hatte er so beschäftigt sein können mit seiner heldenhaften Aufopferung, dass ihm entgangen war, welche Aufgabe an Bord der Independence auf ihn wartete?
»Und jetzt?«, fragte Johanson.
»Plan B.«
»Soll heißen?«
»Ich muss nochmal nach oben.«
»Bist du verrückt? Wozu?«
»Ich will Sam finden. Und Murray.«
»Da ist niemand mehr«, sagte Johanson. »Das Schiff dürfte vollständig evakuiert sein. Sie waren beide im CIC, als ich sie das letzte Mal gesehen habe. Wahrscheinlich sind sie gleich als Erste rausgeflogen worden.«
»Nein.« Anawak schüttelte den Kopf. »Zumindest nicht Sam. Ich habe sie um Hilfe rufen hören.« »Was? Wann?«
»Bevor ich zu euch runterkam. — Sigur, ich will dir nicht mit meinen Problemen auf die Nerven gehen, aber ich habe ein paar Mal zu oft weggesehen im Leben. Es hat sich einiges geändert. So bin ich nicht mehr. Verstehst du? Ich kann das nicht ignorieren.«
Johanson lächelte.
»Nein. Das kannst du nicht.«
»Pass auf! Ich unternehme einen einzigen Versuch. In der Zeit lässt du Deepflight 3 herunter und machst es startklar. Sofern ich Sam nicht innerhalb der nächsten paar Minuten finde, komme ich zurück, und wir hauen hier ab.«
»Und falls du sie findest?«
»Haben wir immer noch Deepflight 4, um uns alle rauszubringen.«
»In Ordnung.«
»Wirklich in Ordnung?«
»Natürlich.« Johanson breitet die Hände aus. »Worauf wartest du noch?«
Anawak zögerte. Er biss sich auf die Lippen. »Und wenn ich in fünf Minuten nicht hier bin, verschwindest du ohne mich. Klar?«
»Ich werde warten.«
»Nein. Du wartest fünf Minuten. Maximal.«
Sie umarmten sich. Anawak lief den Pier hinab. Wo der Tunnel zum Labortrakt begann, war alles überflutet, aber noch schien sich die Independence in einigermaßen stabiler Lage zu halten. Das Schiff hatte sich während der letzten Minuten nicht weiter nach vorn geneigt.
Wie lange noch, dachte Anawak. Wasser schwappte gegen seine Knöchel. Er ging tiefer hinein, kraulte ein Stück, bekam Boden unter die Füße und watete ein paar Meter, bevor es wieder abschüssig wurde. Näher zur Hangarrampe neigte sich die Decke dem Wasserspiegel zu, aber es blieben immer noch einige Meter Luft. Anawak schwamm an der verschlossenen Labortür vorbei bis zum Knick und spähte hinauf. Wahrend Teile der Rampe inzwischen ebenen Boden bildeten, waren andere sehr steil geworden. Der Abschnitt zum Hangardeck ragte düster empor. Hoch oben hing eine dunkle Rauchglocke. Er würde auf allen vieren hinaufkriechen müssen. Ihm war kalt, trotz des Neoprenanzugs. Selbst wenn sie es schafften, mit dem Tauchboot wegzukommen, war das noch keine Garantie dafür, die Sache zu überleben.
Doch. Er musste überleben! Er musste Karen Weaver wiedersehen.
Entschlossen machte er sich an den Aufstieg.
Es ging einfacher, als er befürchtet hatte. Der Stahl der Rampe war geriffelt, um den Fahrzeugen und den marschierenden Marines, für die sie gedacht war, Halt zu bieten. Anawaks Finger klammerten sich ins Relief. Stück für Stück zog er sich hoch, verkeilte die Stiefel in den Streben, packte zu. Nach oben hin erhöhte sich die Temperatur, und er fror weniger. Dafür legte sich klebriger Rauch auf seine Lungen und saugte das letzte bisschen Atemluft heraus. Je höher er kam, desto undurchdringlicher wurden die Rauchschwaden. Vom Flugdeck drang wieder das brüllende Geräusch an seine Ohren.
Crowe hatte um Hilfe gerufen, als es bereits brannte. Wenn sie den Ausbruch des Feuers überlebt hatte, lebte sie vielleicht immer noch.
Keuchend zog er sich die letzten paar Meter hoch und stellte zu seiner Überraschung fest, dass die Sicht im Hangar besser war als auf der Rampe. Im Tunnel sammelte sich der Rauch, hier sorgten die Durchgänge der Außenlifts für Zirkulation. Sie brachten den Qualm ins Innere und ließen ihn zugleich wieder entweichen. Es war heiß und stickig wie in einem Backofen. Anawak presste den Jackenärmel vor Mund und Nase und rannte ins Hangardeck hinein.
»Sam!«, schrie er.
Keine Antwort. Was hatte er erwartet? Dass sie mit ausgestreckten Armen auf ihn zugelaufen kam?
»Sam Crowe! Samantha Crowe!«
Er musste wahnsinnig sein.
Aber besser wahnsinnig als zu Lebzeiten tot. Greywolf hatte Recht gehabt. Er war wie ein lebender Toter durch die Welt gegangen. Diese Art Wahnsinn hier hatte tausendmal mehr zu bieten.
»Sam!«
Johanson war allein.
Er zweifelte nicht daran, dass Floyd Anderson ihm ein paar Rippen gebrochen hatte. Zumindest fühlte es sich ganz so an. Jede Bewegung schmerzte höllisch. Als sie Rubins Leiche geborgen und ins Tauchboot verfrachtet hatten, hätte er mehrfach laut schreien können, aber er hatte die Zähne zusammengebissen, um nicht zum Problem zu werden.
Allmählich fühlte er seine Kräfte nachlassen.
Er dachte an den Bordeaux in seiner Kabine. Was für eine Schande! Gerade jetzt hätte ihm ein Glas davon geschmeckt. Es hätte zwar nicht die Rippenbrüche geheilt, aber der ganzen leidigen Angelegenheit eine erträglichere Note verliehen. Eben recht, um mit sich selber anzustoßen, denn außer ihm schien kein Genießer mehr am Leben zu sein. Überhaupt hatte von den vielen wunderbaren und widerwärtigen Menschen, die er in den letzten Wochen kennen gelernt hatte, kaum einer seinen ausgeprägten Sinn für das Schöne geteilt.
Wahrscheinlich war er doch ein Dinosaurier.
Ein Saurus Exquisitus, dachte er, während er das Deepflight 3 auf Pierhöhe absenkte.
Das gefiel ihm. Saurus Exquisitus. Genau das war er. Ein Fossil, das es genoss, Fossil zu sein. Fasziniert von Zukunft und Vergangenheit, die sich allzu oft mischten, sodass man oft gar nicht mehr wusste, in welchem Zeitalter man gerade lebte, weil Vergangenes und Zukünftiges gleichermaßen die Phantasie beflügelte.
Bohrmann …
Der Deutsche hätte einen guten Bordeaux zu schätzen gewusst. Sonst niemand. Sue Oliviera hatte Spaß daran gefunden, aber ebenso gut hätte er ihr etwas halbwegs Trinkbares aus dem Supermarkt vorsetzen können. Wer aus dem Chateau-Disaster-Team war schon kultiviert genug, einen trinkreifen Pomerol zu schätzen, außer vielleicht …
Judith Li.
Er versuchte, ein letztes Mal den Schmerz in seinen Rippen zu ignorieren, sprang auf das Deepflight, stöhnte und blieb mit zitternden Knien in der Aufrechten. Dann hockte er sich hin, öffnete die Klappe mit der Verschlussmechanik und entriegelte die Hauben.
Langsam fuhren sie hoch und stellten sich senkrecht. Die beiden Röhren lagen offen vor ihm.
»Alles einsteigen«, trompetete er.
Bizarr! Einsam balancierte er im schräg stehenden Welldeck auf einem Tauchboot. An was für Gestade einen das Leben doch verschlug. Judith Li?
Eher hätte er die Flaschen in die Grönländische See entleert. Man konnte dem Schönen auch gerecht werden, indem man es bestimmten Menschen vorenthielt.
Außer Atem erreichte sie das Hangardeck.
Alles war verdunkelt von schwarzem Rauch. Sie versuchte etwas in den Schwaden zu erkennen und meinte, weit hinten eine Gestalt zu erblicken, die dort auf— und ablief.
Dann hörte sie es: »Sam! Sam Crowe!«
War das Anawak, der schrie?
Einen Moment lang zögerte sie. Aber was brachte es jetzt noch, Anawak auszuschalten? Jeden Augenblick konnten die letzten Schotts im Bug nachgeben. Das Schiff konnte auseinander brechen. Wenn es einmal so weit war, würden die Independence sinken wie ein Stein.
Sie lief zur Rampe und sah in ein rauchverhangenes Loch. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Li war weder ängstlich noch fühlte sie sich von dem Abstieg überfordert, aber sie fragte sich, wie sie mit den beiden Torpedos da runterkommen sollte. Wenn sie die Dinger noch einmal verlor, würden sie irgendwo im dunklen Wasser landen.
Sie stellte die Füße quer und begann, Schritt für Schritt die Rampe hinunterzusteigen. Es war dunkel und bedrückend. Das Schlimmste war der Rauch, in dem sie zu ersticken glaubte. Mit hohlem Klonk trafen ihre Stiefelsohlen auf den geriffelten Stahl.
»Was?« Die Augen des Soldaten flackerten. Dann riss er das Gewehr hoch und richtete es auf Johanson.
»Nein!«, schrie Weaver.
Johanson hob die Hand zum Zeichen, dass alles in Ordnung sei. Er sah in die Mündung der Waffe und senkte seine Stimme.
»Bitte sagen Sie uns Ihren Namen.«
Der Soldat zögerte.
»Es ist wichtig, dass wir Ihren Namen kennen«, wiederholte Johanson im Tonfall des freundlichen Herrn Pfarrers.
»MacMillan. Ich bin … ich heiße MacMillan.«
Allmählich begriff Weaver, was Johanson vorhatte. Der erste Weg, jemanden in die Normalität zurückzuholen, bestand darin, ihm ins Gedächtnis zu rufen, wer er war.
»Gut, MacMillan, sehr gut. Hören Sie, wir brauchen Ihre Hilfe. Dieses Schiff sinkt. Wir müssen ein Experiment durchführen, das uns alle retten könnte …«
»Uns alle?«
»Haben Sie Familie, MacMillan?«
»Warum wollen Sie das wissen?«
»Wo lebt Ihre Familie?«
»Boston.« Die Gesichtszüge des Jungen verzogen sich. Er begann zu weinen. »Aber Boston ist …«
»Ich weiß«, sagte Johanson eindringlich. »Hören Sie, wir können noch etwas tun, um alles wieder in Ordnung zu bringen. Auch in Boston. Aber dafür brauchen wir Ihre Hilfe. Wir brauchen sie jetzt! Jede Sekunde, die wir verlieren, kostet Ihre Familie vielleicht die letzte Chance.«
»Bitte«, sagte Weaver. »Helfen Sie uns.«
Der Soldat ließ seine Blicke weiter zwischen ihr und Johanson hin— und herwandern. Er schniefte laut. Dann ließ er das Gewehr sinken.
»Sie bringen uns hier raus?«, fragte er.
»Ja.« Weaver nickte. »Versprochen.«
Mein Gott, was redest du, dachte sie. Gar nichts kannst du versprechen. Überhaupt nichts.
Li
Das geheime Labor war erstaunlich intakt. Es lag höher als das reguläre. Der Boden war übersät mit Scherben, aber ansonsten schien alles an seinem Platz.
Einige Monitore flackerten vor sich hin.
»Wo hat er bloß die Röhren«, überlegte Li.
Sie steckte ihre Waffe zurück ins Halfter und sah sich um. Der Raum war verlassen. In dem kleinen Hochdrucktank erwartete sie blaues Schimmern zu sehen, aber dann fiel ihr ein, dass Rubin erwähnt hatte, er hätte das Gift erfolgreich getestet. Sie spähte durch eines der Bullaugen. Nichts. Kein Organismus, kein Leuchten.
Peak wanderte zwischen den Labortischen und Schränken umher.
»Hier«, rief er.
Li eilte zu ihm. Ein Gestell war umgefallen. Mehrere schlanke, torpedoförmige Röhren lagen kreuz und quer übereinander, jede knapp einen Meter lang. Sie hoben die Röhren nacheinander auf. Zwei waren deutlich schwerer als die anderen, und plötzlich sah Li auch die Kennzeichnungen. Rubin hatte sie mit einem wasserfesten Marker auf die Seiten geschrieben.
»Sal«, sagte sie fasziniert. »Wir halten die neue Weltordnung in Händen.«
»Schön.« Peak sah sich nervös um. Ein Reagenzglas rollte von einem Tisch und zerbrach mit leisem Klirren. Immer noch dröhnte der Alarm durch das Schiff. »Dann lassen Sie uns die neue Weltordnung schleunigst hier rausbringen.«
Li lachte laut auf. Sie reichte Peak eine der Röhren, nahm die andere und lief aus dem Labor auf den Gang hinaus.
»In fünf Minuten werde ich diese Anmaßung der Schöpfung in den Orkus schicken, Sal, darauf können Sie sich verlassen!«
»Mit wem wollen Sie runtergehen? Glauben Sie, dass Mick noch lebt?«
»Mir ist scheißegal, ob er lebt.«
»Ich könnte Sie begleiten.«
»Danke, Sal, zu großzügig. Was wollen Sie tun? Mir da unten die Ohren voll heulen, weil ich mir erlauben könnte, blauen Schleim zu töten?«
»Das ist was anderes, und das wissen Sie genau! Es ist ein verdammter Unterschied, ob …«
Sie erreichten den Niedergang. Von der anderen Seite näherte sich jemand. Er rannte ihnen entgegen, den Kopf gesenkt.
»Leon!«
Anawak schaute auf, erkannte sie und blieb abrupt stehen. Sie waren einander sehr nahe, nur der Niedergang lag zwischen ihnen.
»Jude. Sal.« Anawak starrte sie an. »Na so was.«
Na so was? Lächerlich! Der Mann war miserabel darin, sich zu verstellen. Beim ersten Blick in seine Augen hatte Li erkannt, dass Anawak über alles Bescheid wusste.
»Wo kommen Sie her?«, fragte sie.
»Ich … ich wollte die anderen suchen und …«
Egal, wie viel er wusste. Sie hatten keine Zeit zu verlieren. Vielleicht suchte er wirklich nur seine Freunde, vielleicht hatte er einen Plan. Es spielte keine Rolle.
Anawak stand im Weg. Li zog ihre Waffe.
Flugdeck
Crowe war dicht hinter Shankar gewesen, als sie aufs Dach hinausliefen, aber dann hatte man sie aufgehalten.
»Warten Sie«, sagte jemand in Uniform.
»Aber ich muss …«
»Sie sind in der nächsten Gruppe.«
Inzwischen hatten bereits zwei der großen Super Stallions das Dach verlassen. Zwei weitere warteten gegenüber der Insel. Sie parkten unmittelbar hintereinander. Shankar drehte sich zu ihr um, während er zusammen mit Soldaten und Zivilisten auf einen der Helikopter zurannte. Das riesige Flugfeld neigte sich immer mehr. So groß war es, dass der Eindruck entstand, nicht das Schiff, sondern die aufgewühlte, schaumbedeckte See habe sich schräg gestellt.
»Wir sehen uns später!«, rief Shankar. »Du kommst mit dem nächsten Vogel raus.«
Crowe sah ihm hinterher, wie er die Rampe hinauflief, die unter dem Schwanz des Super Stallion ins Innere führte. Eisiger Wind peitschte ihr ins Gesicht. Wie es aussah, verlief die Evakuierung einigermaßen geordnet. Auch gut. Sie musste sich eben noch gedulden.
Ihr Blick wanderte umher. Wo waren überhaupt die anderen? Leon, Sigur, Karen … Waren sie schon von Bord? Ein beruhigender Gedanke. Hinter Shankar schloss sich die Klappe. Die Rotoren begannen sich schneller zu drehen.
Rumpf
Knapp 30 Meter unterhalb des Flugdecks drückte das eingedrungene Meerwasser gegen die Schotts der bugwärts gelegenen Frachträume und der unteren Mannschaftsquartiere.
Die Schotts hielten.
Ein einzelner Torpedo trieb im Wasser. Bei der Explosion des Tauchboots war er abgesprengt worden, ohne zu detonieren. Solche Fälle ereigneten sich selten, aber es kam vor. Der Torpedo war in einem der überfluteten Laderäume auf ein Laufgitter hinabgesunken, das sich — halb aus seiner Verankerung gerissen — durch die Dunkelheit wand. Sacht rollte er darauf hin und her. Dabei rutschte er zentimeterweise nach vorn, der Neigung des Schiffes folgend.
Die Schotts hielten, aber das Laufgitter quietschte und ächzte unter dem Druck. Wo es noch festhing, bogen sich die Streben unter Hochspannung. Dünne Risse bildeten sich im Stahl der Wand. Eine der dicken Befestigungsschrauben löste sich langsam aus ihrer Verankerung und zog das Gewinde mit heraus …
Mit einem Knall war sie draußen.
Die Spannung entlud sich. Das Gitter schoss hoch, weitere Schrauben flogen heraus, die Wand brach ein. Der Torpedo erhielt einen Schlag, der ihn hoch katapultierte und direkt auf eine Stelle leitete, wo alles Mögliche aneinander grenzte, bugwärts gelegene Laderäume, darüber die riesigen Gemeinschaftsräume der Marines zur einen und zur anderen Seite das stillgelegte Fahrzeugdeck gleich unter dem Labor.
Es war eine der empfindlichsten Nahtstellen des Schiffs.
Die Sprengladung tat das Ihre.
LEVEL 03
»Nein«, sagte Peak. Er ließ die Torpedohülle fallen und richtete seine Pistole auf Li. »Das werden Sie nicht tun.«
Li stand unbewegt. Ihre Waffe zielte auf Anawak.
»Sal, es reicht mir allmählich mit Ihrer Renitenz«, zischte sie. »Benehmen Sie sich gefälligst nicht wie ein Idiot.«
»Waffe runter.«
»Verdammt, Sal! Ich bringe Sie vor ein Kriegsgericht, ich …«
»Bei drei erschieße ich Sie, Jude. Das schwöre ich. Sie werden nicht noch jemanden umbringen. Nehmen Sie Ihre Waffe runter. Eins … zwei …«
Li atmete heftig aus und senkte den Arm mit der Waffe.
»Ist ja gut, Sal. Ist ja gut.«
»Fallen lassen.«
»Warum reden wir nicht darüber und …«
»Fallen lassen!«
Ein Ausdruck unbeschreiblichen Hasses trat in Lis Augen. Die Waffe polterte zu Boden.
Anawak sah kurz zu Peak hinüber.
»Danke«, sagte er. Mit einem einzigen Satz erreichte er den Niedergang und verschwand darin. Li hörte ihn unten weiterlaufen. Die Schritte entfernten sich. Sie fluchte.
»General Commander Judith Li«, sagte Peak förmlich. »Ich enthebe Sie wegen Unzurechnungsfähigkeit Ihres Kommandos. Ab sofort stehen Sie unter meinem Befehl. Sie können …«
Es tat einen fürchterlichen Schlag. Entsetzliche Geräusche drangen aus der Tiefe. Das Schiff sackte wie ein abstürzender Fahrstuhl nach vorn, und Peak wurde von den Beinen gehebelt. Er schlug hart auf, rollte herum und kam wieder auf die Füße.
Wo war seine Waffe? Wo war Li?
»Sal!«
Er drehte sich um. Li kniete vor ihm. Sie hielt die Waffe auf ihn gerichtet.
Peak erstarrte.
»Jude.« Er schüttelte den Kopf. »Verstehen Sie doch …«
»Idiot«, sagte Li und drückte ab.
Flugdeck
Crowe schwankte. Das Deck neigte sich noch stärker. Der Super Stallion rutschte mit laufenden Rotoren auf den davor geparkten Helikopter zu. Aufheulend hob er ab, versuchte Höhe zu gewinnen und von dem anderen Hubschrauber wegzukommen.
Crowes Atem stockte.
Nein, dachte sie. Das ist unmöglich. Das kann doch nicht sein. Nicht so kurz vor der Rettung.
Sie hörte Schreie um sich herum. Leute stürzten, andere liefen weg. Sie wurde mitgezerrt und fiel zu Boden. Im Liegen sah sie, wie der Super Stallion über den geparkten Helikopter hinwegstieg, wie eine der seitlichen Türkanonen das Leitwerk des anderen streifte und daran hängen blieb, wie sich der fliegende Koloss zu drehen begann.
Der Stallion geriet außer Kontrolle.
Sie sprang auf. In Panik begann sie zu rennen.
Brücke
Buchanan glaubte seinen Augen nicht zu trauen.
Er war unvermittelt gegen seinen Stuhl geschleudert worden, gegen diesen wunderbaren Captain’s Chair mit den bequemen Armlehnen und der Fußstütze, um den ihn alle beneideten, eine Mischung aus Barhocker, Schreibtischsessel und Captain Kirks Kommandostuhl, der jetzt zu nichts anderem mehr gut war, als dass er sich den Schädel daran blutig schlug. Auf der Brücke flog alles durcheinander. Buchanan hangelte sich hoch und stürzte zu den Seitenfenstern, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie sich der Super Stallion drehte und langsam auf die Seite legte.
Das Ding hing fest!
»Raus hier!«, schrie er.
Die Maschine drehte sich weiter. Um ihn herum trat das Brückenpersonal die Flucht an, unternahm hilflose Versuche, sich in Sicherheit zu bringen, während Buchanan nicht anders konnte, als weiter hinzuschauen, wie der festhängende Hubschrauber immer mehr auf die Seite kippte.
Plötzlich löste er sich und stieg empor.
Buchanan schnappte nach Luft. Einen Moment lang sah es so aus, als habe der Pilot die Kontrolle wiedererlangt. Dann erkannte er, dass die Schieflage zu stark war. Der Schwanz des 30 Meter langen Helikopters stieg steil in die Höhe, die Triebwerke heulten noch lauter, dann kam der Super Stallion herangesaust, mit den Rotoren voran.
Buchanan hielt die Hände vors Gesicht und wich zurück.
Es war lächerlich. Ebenso gut hätte er die Arme ausbreiten und sein Ende willkommen heißen können.
Über 33 Tonnen Gefechtsgewicht, betankt mit 9000 Litern Treibstoff, krachten in die Brücke und verwandelte den vorderen Teil der Insel augenblicklich in eine lodernde Hölle. Alle Fenster zersplitterten. Eine Feuerwalze schoss fauchend durch den Aufbau, verschmorte die Inneneinrichtung und brachte die Bildschirme zum Explodieren, sprengte Schotts aus ihren Verankerungen, erwischte die Fliehenden auf den Niedergängen, verbrannte sie zu Asche und setzte sich durch die Gänge im Inselinnern fort.
Flugdeck
Crowe lief um ihr Leben.
Neben ihr schlugen brennende Trümmerteile auf. Sie rannte auf das Heck der Independence zu. Inzwischen war das Schiff so weit abgesackt, dass sie bergauf laufen musste, was ihr heftiges Keuchen entlockte: In den letzten Jahren war ihrer Lunge mehr Nikotin als Frischluft zugeführt worden.
Eigentlich hatte sie immer angenommen, irgendwann an Lungenkrebs zu sterben.
Sie stolperte und schlitterte über den Asphalt. Im Hochkommen sah sie den kompletten vorderen Teil der Insel in ledernen Flammen stehen. Auch der zweite Hubschrauber brannte. Menschen liefen als lebendige Fackeln über das Deck, bevor sie zusammenbrachen. Der Anblick war grauenhaft, und die damit verbundene Gewissheit, dass sie nun kaum noch eine Chance hatte, den Untergang der Independence zu überleben, war noch grauenhafter.
Heftige Detonationen ließen Glutbälle über der Insel aufsteigen. Das Feuer brüllte und tobte. Mitten hinein mischte sich ein lauter Knall, und dicht vor Crowes Füßen ging ein Funkenregen nieder.
Shankar war in dem Inferno ums Leben gekommen.
So wollte sie nicht sterben.
Sie sprang auf, lief weiter dem Heck zu, ohne die geringste Vorstellung, wie es dort weitergehen sollte.
LEVEL 03
Li fluchte.
Den ersten Torpedo hatte sie unter den Arm geklemmt, aber der zweite war irgendwo hingerollt. Entweder war er in den Niedergang gefallen oder weiter den Gang Richtung Bug gerollt.
Peak, das verdammte Arschloch!
Sie stieg über seinen Leichnam hinweg, während sie überlegte, ob ein Torpedo voller Gift reichen würde. Aber dann blieb ihr nur eine Chance. Vielleicht versagte der eine, vielleicht öffnete er sich nicht, um das Gift ins Wasser zu entlassen. Zwei waren auf alle Fälle besser.
Angestrengt spähte sie in den Gang.
Plötzlich hörte sie über sich ein gewaltiges Dröhnen. Diesmal erzitterte das Schiff noch stärker. Sie stürzte und rutschte auf dem Rücken den Flur hinunter. Was passierte jetzt wieder? Das Schiff flog in die Luft! Sie musste raus hier. Es ging nicht mehr alleine um den Auftrag, das Deepflight würde auch ihr Leben retten müssen. Der Torpedo entglitt ihr. »Scheiße!«
Sie griff danach, aber er rumpelte an ihr vorbei. Wären die Dinger mit Sprengstoff gefüllt gewesen, hätte es spätestens jetzt geknallt. Aber es war nur Flüssigkeit darin. Kein Sprengstoff, sondern Flüssigkeit, genug, um eine intelligente Rasse auszulöschen.
Sie spreizte Arme und Beine ab und versuchte, sich irgendwo zu verkeilen. Nach einigen Sekunden kam sie zur Ruhe. Ihr ganzer Körper schmerzte, als habe jemand mit Eisenstangen darauf eingeprügelt. Vielleicht sah man ihr nicht an, dass sie auf die fünfzig zuging, aber gerade fühlte sie sich wie hundert. Sie schob sich die Wand hoch und schaute sich um.
Auch der zweite Torpedo war verschwunden.
Sie hätte schreien können.
Die Geräusche aus dem Untergrund, die das eindringende Wasser verursachte, erklangen beunruhigend nahe. Lange würde es nicht mehr dauern. Von oben drang brodelnder Lärm.
Und Hitze.
Sie stutzte. Tatsächlich. Es war wärmer geworden.
Sie musste die Torpedos wieder finden.
Wild entschlossen stieß sie sich von der Wand ab und begab sich auf die Suche.
Labor
MacMillan, der Soldat, war dicht hinter ihnen gegangen, das Gewehr im Anschlag, als der Schlag das Labor erbeben ließ. Sie stürzten allesamt ins Wasser. Als Weaver wieder hochkam, krachte es über ihnen fürchterlich, als sei etwas Großes in die Luft geflogen.
Dann fiel das Licht aus.
Von einer Sekunde auf die andere starrte Weaver in tintige Schwärze.
»Sigur?«, rief sie.
Keine Antwort.
»MacMillan?«
»Ich bin hier.«
Sie spürte Grund unter den Füßen. Das Wasser stand ihr bis zur Brust. Verflucht, auch das noch! Sie waren fast schon bei einem der toten Soldaten gewesen.
Etwas stieß sacht gegen ihre Schulter. Sie griff danach. Ein Stiefel. Sie hielt einen Stiefel in der Hand, und in dem Schaft steckte ein Bein.
»Karen?«
Johansons Stimme, ganz nah. Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit. Im nächsten Moment flammte rote Notbeleuchtung auf und verlieh dem Labor die Atmosphäre einer dämmrigen Vorhölle. Gleich neben sich sah sie schattenhaft Johansons Kopf und Schultern aus dem Wasser ragen.
»Komm rüber«, rief sie. »Hilf mir.«
Das dumpfe Dröhnen und Tosen drang jetzt nicht mehr nur von unten, sondern auch aus der Höhe herab. Was war da los? Plötzlich hatte sie das Gefühl, dass es wärmer wurde im Labor. Johanson erschien an ihrer Seite.
»Wer ist es?«
»Egal. Pack mit an.«
»Wir müssen hier raus«, keuchte MacMillan. »Schnell.«
»Ja, sofort, wir …«
»Schnell!«
Weavers Blick fiel auf eine Stelle weiter hinten im Wasser.
Schwaches, blaues Leuchten.
Ein Lichtblitz.
Sie packte den Fuß des Toten fester und kämpfte sich durch das Wasser in Richtung Tür. Johanson hatte den Arm des Mannes umfasst. Oder war es eine Frau? Hatten sie am Ende Oliviera erwischt? Weaver hoffte inständig, dass es nicht die arme Sue war, die sie da mit sich schleppten. Sie drängte vorwärts, trat auf etwas, das zur Seite wegrutschte, und geriet mit dem Kopf unter Wasser.
Mit offenen Augen starrte sie in die Schwärze.
Etwas schlängelte sich auf sie zu.
Es kam sehr schnell näher und sah aus wie ein langer, leuchtender Aal. Nein, kein Aal. Eher ein riesiger, kopfloser Wurm. Und da waren noch mehr von den Dingern.
Sie tauchte auf.
»Weg hier.«
Johanson zerrte an der anderen Seite. Unter der Wasseroberfläche waren die leuchtenden, ausschwärmenden Tentakel zu sehen, jetzt mindestens ein Dutzend. MacMillan hob das Gewehr. Weaver spürte, wie etwas ihren Knöchel entlang glitt und plötzlich daran zerrte.
Im nächsten Moment umschlangen sie mehrere der Dinger und krochen an ihr hoch. Sie versuchte das Zeug abzureißen. Johanson sprang hinzu und grub seine Finger zwischen die Tentakel und ihren Körper, aber es war, als stecke sie im Klammergriff einer Anaconda.
Das Wesen zog an ihr.
Das Wesen? Sie kämpfte gegen Milliarden von Wesen. Abermilliarden von Einzellern.
»Ich krieg’s nicht los«, keuchte Johanson.
Die Gallerte kroch über ihre Brust und ihren Hals entlang. Weaver geriet erneut unter Wasser, das jetzt immer stärker leuchtete. Hinter den Tentakeln schob sich etwas Größeres heran. Die Hauptmasse des Organismus.
Mit aller Kraft kämpfte sie sich an die Oberfläche.
»MacMillan«, gurgelte sie.
Der Soldat hob das Gewehr.
»Damit richten Sie nichts aus«, schrie Johanson.
MacMillan schien plötzlich ganz ruhig geworden zu sein. Er legte an und zielte auf die große, näher rückende Masse.
»Damit richte ich was aus«, sagte er.
Ein trockenes Stakkato ertönte, als MacMillan feuerte.
»Explosivgeschosse richten immer was aus!«
Die Salve drang in den Organismus. Wasser spritzte auf. MacMillan schickte eine zweite Garbe hinterher, und das Ding flog in Fetzen auseinander. Brocken von Gallerte klatschten ihnen um die Ohren. Weaver rang nach Luft. Mit einem Mal war sie frei. Johanson packte zu. Wie verrückt zogen sie an dem Leichnam. Der Wasserspiegel sank, und sie kamen schneller voran. Nachdem sich das Schiff weiter nach vorn geneigt hatte, sammelte sich der Hauptteil des Wassers jetzt im bugwärtigen Teil des Labors, und die Tür lag beinahe im Trockenen. Es war schwierig, auf dem abschüssigen Boden nicht auszurutschen, aber plötzlich wateten sie nur noch durch knöchelhohes Wasser.
Sie wuchteten den Toten hinaus auf die Rampe. Auch dort war das Wasser zurückgegangen. Plötzlich glaubte Weaver einen erstickten Schrei zu hören.
»MacMillan?«
Sie spähte ins Labor. »MacMillan, wo sind Sie?«
Der leuchtende Organismus strebte wieder zusammen. Die Fetzen verschmolzen miteinander. Von den Tentakeln war nichts zu sehen. Das Wesen hatte eine flache Form angenommen.
»Schließ die Tür«, rief Johanson. »Es kann immer noch raus. Da ist immer noch genügend Wasser.«
»MacMillan?«
Weaver klammerte sich am Türrahmen fest und starrte weiter in den rot erleuchteten Raum, aber der Soldat blieb verschwunden.
MacMillan hatte es nicht geschafft.
Ein dünner, leuchtender Faden näherte sich. Sie sprang zurück und ließ das Schott zufahren. Der Faden beschleunigte sein Tempo, aber diesmal reichte es nicht. Die Tür schloss sich.
Experimente
Anawak war auf dem Niedergang von der Explosion überrascht und heftig durchgeschüttelt worden. Das Atmen fiel ihm schwer, und sein Knie schmerzte. Er fluchte. Ausgerechnet das Knie, das ihm seit dem Absturz der Beaver genug Schwierigkeiten bereitete, hatte sich Vanderbilt ausgesucht, um dagegen zu treten.
Er fand verschiedene Niedergänge blockiert. Das Schiff lag jetzt sehr schräg. Der einzige Weg führte über die Rampe des Hangardecks, also lief er zurück und nahm eine andere Route nach oben, bis er hoch genug war, um auf die Rampe zu gelangen. Je höher er kam, desto heißer wurde es. Was war da oben los? Der Lärm verhieß nichts Gutes. Er stolperte aufs Hangardeck hinaus und sah dichten, schwarzen Rauch durch die offenen Tore ziehen.
Plötzlich glaubte er, jemanden um Hilfe rufen zu hören.
Er ging ein paar Schritte in den Hangar hinein.
»Ist da jemand?«, schrie er.
Die Sicht war schlecht. Gegen die schwarzen Schlieren konnte sich die fahlgelbe Deckenbeleuchtung kaum behaupten. Dafür war der Hilferuf jetzt deutlich zu hören.
Crowes Stimme!
»Sam?« Anawak rannte ein Stück in die Rußschwaden hinein.
Er horchte, aber der Hilferuf wiederholte sich nicht.
»Sam? Wo bist du?«
Nichts.
Er wartete noch einen Moment, dann drehte er um und rannte auf die Rampe. Zu spät merkte er, dass sie jetzt die Steilheit einer Sprungschanze hatte. Seine Beine knickten ein. Sich überschlagend, rasselte er abwärts und betete, dass wenigstens einige der Spritzen heil blieben. Ob seine Knochen heil bleiben würden, war zu bezweifeln. Aber nirgendwo knackte oder brach etwas. Als er endlich unten ankam, platschte er in Wasser, das seinen Aufprall dämpfte. Er schüttelte sich, kroch auf allen vieren hinaus und sah ein Stück weiter Weaver und Johanson, die einen Körper in Richtung Welldeck schleppten.
Ein dünner Wasserfilm bedeckte den Boden.
Das künstliche Hafenbecken! Es lief in den Gang hinein. Wenn sich die Independence noch weiter neigte, würde es diesen Bereich vollständig überfluten.
Sie mussten sich beeilen.
»Ich habe die Spritzen«, schrie er.
Johanson sah auf. »Wurde auch Zeit.«
»Wer ist das? Wen habt ihr da?« Anawak rappelte sich hoch, lief zu den beiden hinüber und warf einen Blick auf die Leiche.
Es war Rubin.
Flugdeck
Am Ende des Dachs hockte Crowe und sah fassungslos zu, wie die Insel abbrannte.
Neben ihr lag ein zitternder, pakistanisch aussehender Mann. Er trug die Montur eines Kochs. Außer ihnen beiden war entweder niemand auf die Idee gekommen, sich hierher zu flüchten, oder niemandem war es gelungen. Der Mann keuchte und richtete sich auf.
»Wissen Sie was?«, sagte Crowe. »Das ist das Resultat der Auseinandersetzung intelligenter Rassen.«
Der Koch starrte sie an, als seien ihr Hörner gewachsen.
Crowe seufzte.
Sie war zu der Stelle gelaufen, unterhalb derer die Plattform des Steuerbordlifts lag. Dort gähnte der Durchlass ins Hangardeck. Ein paar Mal hatte sie hineingerufen, aber niemand hatte geantwortet.
Sie würden mit dem brennenden Schiff absaufen.
Wenn es irgendwo Rettungsboote gab, nützten sie wahrscheinlich wenig. Auf einem Helikopterträger ging man zuallererst davon aus, dass Menschen mit Fluggerät in Sicherheit gebracht wurden. Sollte es Rettungsboote geben, brauchte es wiederum jemanden, um sie aus ihren Verankerungen zu lösen und zu Wasser zu lassen. Aber alle diese Jemands waren in der Gluthölle verschwunden.
Schwarzer Qualm trieb zu ihnen herüber. Widerlicher, teeriger Qualm. Sie wollte in ihrer letzten Stunde nicht ein solches Zeug einatmen.
»Haben Sie eine Zigarette?«, fragte sie den Koch.
Sie erwartete, dass er sie nun für vollkommen verrückt erklären würde, aber stattdessen kramte er ein Päckchen Marlboro und ein Feuerzeug hervor.
»Lights«, sagte er.
»Oh? Wegen der Gesundheit?« Crowe lächelte und paffte, während der Koch ihr Feuer gab. »Sehr vernünftig.«
Pheromon
»Wir spritzen ihm das Zeug unter die Zunge, in die Nase, in Augen und Ohren«, sagte Weaver.
»Warum gerade dahin?«, fragte Anawak.
»Weil es da am besten wieder austreten kann, dachte ich.«
»Dann spritz es ihm auch gleich unter die Fingernägel. Und nimm die Fußnägel dazu. Am besten überallhin. Je mehr, desto besser.«
Das Welldeck war verlassen, das technische Personal offenbar geflohen. Sie hatten Rubin bis auf die Unterhose ausgezogen, alles in fliegender Hast, während Johanson Anawaks Spritzen mit dem extrahierten Pheromon füllte. Bis auf eine waren alle ganz geblieben. Rubin lag oberhalb des künstlichen Gestades. Das Wasser dort stand nur wenige Zentimeter hoch, aber es stieg. Vorsichtshalber hatten sie die Gallertfetzen, unter denen ein Teil seines Kopfes verschwunden war, aufs höher gelegene Trockene geworfen. Etwas davon hing noch in seinen Ohren. Anawak pulte es heraus.
»Ihr könnt es ihm auch in den Arsch spritzen«, sagte Johanson. »Wir haben genug davon.«
»Glaubst du, es funktioniert?«, fragte Weaver zweifelnd.
»Das bisschen, was er von den Yrr noch in sich hat, dürfte kaum in der Lage sein, annähernd so viel Phermonon zu produzieren, wie wir ihm verabreichen. Wenn sie überhaupt auf den Trick reinfallen, werden sie denken, es stammt von ihm.« Johanson ging in die Hocke. Er hielt ihnen eine Hand voll gefüllter Spritzen hin. »Wer will?«
Weaver spürte Abscheu in sich aufsteigen.
»Nicht alle so laut Hier schreien«, sagte Johanson. »Leon?«
Schließlich machten sie es gemeinsam. So schnell es ging, pumpten sie Rubin voll mit Pheromonlösung, bis er fast zwei Liter davon in sich hatte. Wahrscheinlich lief die Hälfte schon wieder heraus.
»Das Wasser ist gestiegen«, bemerkte Anawak.
Weaver horchte. Unvermindert quietschte und jaulte es überall im Schiff.
»Wärmer geworden ist es auch.«
»Ja, weil das Deck abfackelt.«
»Los.« Weaver griff Rubin unter die Achseln und zog ihn hoch. »Bringen wir’s hinter uns, bevor Li hier aufkreuzt.«
»Li? Ich dachte, die hat Peak außer Gefecht gesetzt«, sagte Johanson.
Anawak warf ihm einen Blick zu, während sie Rubins Leichnam ins Welldeck schleppten. »Glaubst du dran? Du kennst sie doch. Die setzt man so leicht nicht außer Gefecht.«
LEVEL 03
Li tobte.
Immer wieder rannte sie in den Gang hinein, schaute in offene Türen. Irgendwo musste dieser verdammte Torpedo doch sein! Sie sah nur nicht richtig hin. Mit Sicherheit lag er direkt vor ihrer Nase.
»Such, du blöde Kuh«, schalt sie sich. »Zu blöde, um eine Röhre zu finden. Blöde Kuh. Verblödete Schlampe!«
Unvermittelt gab der Boden wieder unter ihr nach. Sie taumelte und hielt sich fest. Da waren weitere Schotts gebrochen. Der Gang neigte sich noch mehr ab. Die Independence lag jetzt so schräg, dass wahrscheinlich bald die ersten Wellen über die bugwärtige Kante des Flugdecks lecken würden.
Lange konnte es nicht mehr dauern.
Plötzlich sah sie den Torpedo.
Er war hinter einem offenen Durchgang hervorgekollert. Li stieß ein Triumphgeheul aus. Sie sprang hinzu, packte die Röhre und rannte den Flur hinauf zum Niedergang. Peaks Leiche hing halb darin. Sie zerrte den schweren Körper heraus und kletterte die Stiege hinab, sprang die letzten zwei Meter und hielt sich am Geländer fest, um nicht der Länge nach hinzuschlagen.
Dort lag der zweite Torpedo.
Jetzt geriet sie in Hochstimmung. Der Rest würde ein Kinderspiel sein. Sie lief weiter und stellte fest, dass es so kinderleicht nicht war, weil einige der Niedergänge durch Gegenstände blockiert waren. Sie frei zu räumen, würde zu lange dauern.
Wie kam sie hier heraus?
Sie musste zurück. Wieder nach oben und raus aufs Hangardeck, um den Weg über die Rampe zu nehmen.
Rasch, die beiden Torpedos an sich gedrückt wie ihren kostbarsten Besitz, machte sie sich an den Aufstieg.
Anawak
Rubin war ein schwerer Brocken. Nachdem sie in ihre Neoprenanzüge geschlüpft waren — Johanson unter Ächzen und Stöhnen —, schleppten sie ihn mit vereinten Kräften den Steuerbordpier hoch. Das Deck bot einen absurden Anblick. Zu beiden Seiten ragten die Piers wie Sprungschanzen in die Höhe. Der Plankenboden wurde sichtbar, wo er gegen das Heckschott stieß. Inzwischen hatte ein großer Teil des Beckenwassers die vier vertäuten Zodiacs hoch gedrückt und war in den Gang zum Laboratorium geflossen. Anawak lauschte dem Ächzen des Stahls und fragte sich, wie lange die Konstruktion der Belastung noch standhalten mochte.
Schräg hingen die drei Tauchboote von der Decke. Deepflight 2 war an die Stelle des verloren gegangenen Deepflight 1 gerückt, die beiden anderen Boote hatten aufgeschlossen.
»Mit welchem will Li runter?«, fragte Anawak.
»Deepflight 3«, sagte Weaver.
Sie nahmen die Funktionen des Kontrollpults in Augenschein und probierten nacheinander verschiedene Schalter. Nichts tat sich.
»Es muss funktionieren.« Anawaks Blick wanderte über die Konsole. »Roscovitz hat gesagt, das Welldeck verfüge über einen eigenen, unabhängigen Stromkreis.« Er beugte sich tiefer über das Pult und las die Aufschriften genauer. »Da ist es. Das ist die Funktion, um sie runterzulassen. Gut, ich will Deepflight 3. Dann kann Li nichts mehr damit anrichten, wenn sie hier noch erscheint.«
Weaver setzte den Hebezug in Gang, aber statt des mittleren Tauchboots senkte sich das vordere ab.
»Kannst du nicht Deepflight 3 …? «
»Doch, es gibt wahrscheinlich einen Trick, aber ich kenne ihn nicht. Bei mir kommen sie nacheinander runter.«
»Spielt keine Rolle«, sagte Johanson nervös. »Wir haben keine Zeit zu verlieren. Nimm Deepflight 2.«
Sie warteten, bis das Boot auf Pierhöhe schwebte. Weaver sprang hinüber und öffnete die Hauben der beiden Liegeröhren. Rubins Körper schien unglaublich schwer geworden zu sein, als sie ihn auf das Boot zerrten, durchzogen von Nässe und dem Zeug, das sie hineingespritzt hatten. Sein Kopf baumelte hin und her, die Augen starrten milchig ins Nichts. Gemeinsam zerrten und schoben sie die Leiche, bis Rubin in die Röhre des Copiloten plumpste.
Jetzt also war es so weit.
Sein Traum vom Eisberg. Er hatte gewusst, dass es ihn irgendwann nach unten ziehen würde. Der Eisberg würde schmelzen, und er würde hinabsinken zum Grund des unbekannten Ozeans …
Um wen zu treffen?
Weaver
»Du fährst nicht, Leon.«
Anawak hob überrascht den Kopf. »Wie meinst du das?«
»So, wie ich’s sage.« Einer von Rubins Füßen schaute noch raus. Weaver trat dagegen. Sie fand es schrecklich, so rüde mit dem Toten umzugehen, auch wenn Rubin ein Verräter gewesen war. Aber Pietät konnten sie sich im Augenblick nicht leisten. »Ich werde runtergehen.«
»Was? Wieso auf einmal?«
»Weil es richtiger ist.«
»Nein, auf keinen Fall.« Er fasste sie bei den Schultern.
»Karen, das kann tödlich ausgehen, das ist …«
»Ich weiß, wie es ausgehen kann«, sagte sie leise. »Wir haben alle keine sonderlich große Chance, aber eure ist größer. Ihr nehmt die Boote und wünscht mir Glück, okay?«
»Karen! Warum?«
»Du willst unbedingt Gründe hören, was?«
Anawak starrte sie an.
»Darf ich kurz anmerken, dass wir Zeit verlieren«, drängte Johanson. »Warum bleibt ihr nicht beide oben, und ich gehe?«
»Nein.« Weaver sah Anawak unverwandt an. »Leon weiß, dass ich Recht habe. Ein Deepflight steuere ich mit links, darin bin ich euch beiden überlegen. Ich war mit der Alvin am Atlantischen Rücken, Tausende von Kilometern tief. Ich kenne mich besser mit Tauchbooten aus als jeder andere hier, und …«
»Unsinn«, rief Anawak. »Ich kann das Ding ebenso gut fliegen.«
»… außerdem ist das da unten meine Welt. Die tiefe blaue See, Leon. Seit ich klein war. — Seit meinem zehnten Lebensjahr.«
Er öffnete den Mund, um etwas zu erwidern. Weaver legte ihm den Zeigefinger auf die Lippen und schüttelte den Kopf.
»Ich fliege.«
»Du fliegst«, flüsterte er.
»Okay.« Sie schaute sich um. »Ihr öffnet die Schleuse und lasst mich runter. Keine Ahnung, was passiert, wenn der Durchlass einmal offen ist. Vielleicht werden uns die Yrr direkt angreifen, vielleicht passiert gar nichts. Denken wir positiv. Nachdem ich mich ausgeklinkt habe, wartet ihr eine Minute, sofern die Lage es erlaubt, und flieht mit dem zweiten Boot. Kommt mir nicht nach. Bleibt einfach dicht unter den Wellen und seht zu, dass ihr Abstand zum Schiff gewinnt. Ich werde vielleicht sehr tief tauchen müssen. Später dann …« Sie machte eine Pause. »Na ja, irgendjemand wird uns schon auffischen, oder? Die Dinger haben Satellitensender an Bord.«
»Mit zwölf Knoten brauchst du zwei Tage und zwei Nächte bis Grönland oder Svalbard«, sagte Johanson. »Dafür reicht nicht mal der Sprit.«
»Wird schon schief gehen.«
Sie fühlte ihr Herz schwer werden. Schnell drückte sie Johanson an sich. Sie dachte daran, wie sie gemeinsam dem Tsunami auf den Shetlands entgangen waren.
Sie würden sich wieder sehen!
»Tapferes Mädchen«, sagte Johanson.
Dann nahm sie Anawaks Gesicht in beide Hände und gab ihm einen langen, festen Kuss auf den Mund. Am liebsten hätte sie ihn nie wieder losgelassen. Sie hatten so wenig miteinander gesprochen, so wenig von dem getan, was das Beste für sie beide war …
Jetzt bloß nicht sentimental werden.
»Mach’s gut«, sagte Anawak leise. »Spätestens in ein paar Tagen sind wir wieder zusammen.«
Mit einem Sprung war sie in der Pilotenröhre. Das Deepflight schwankte leicht. Sie legte sich auf den Bauch, kroch in die richtige Position und betätigte die Verriegelung. Langsam sanken die beiden Kuppeln herab und schlossen sich. Sie überflog die Instrumente. Alles sah intakt aus.
Weaver reckte den Daumen.
Die Welt der Lebenden
Johanson trat ans Kontrollpult, öffnete die Schleuse und setzte das Boot in Bewegung. Sie sahen zu, wie das Deepflight absank und die Stahlschotts auseinander fuhren. Dunkle See erschien. Nichts bahnte sich seinen Weg ins Innere. Weaver entriegelte von innen die Arretierung, um das Boot freizugeben. Es klatschte auf und versank. Eingeschlossene Luft schimmerte in den Glaskuppeln. Nacheinander verblassten die Farben, begannen die Umrisse zu verschwimmen, bis das Boot nur noch ein Schatten war.
Dann verschwand es.
Anawak fühlte einen Stich.
Die Heldenrollen in dieser Geschichte sind bereits verteilt, und es sind Rollen für Tote. Du gehörst in die Welt der Lebenden.
Greywolf!
Vielleicht brauchst du einen Mittler, der dir verrät, was der Vogelgeist sieht.
Greywolf war der Mittler gewesen, von dem Akesuk gesprochen hatte. Greywolf hatte ihm seinen Traum erklärt, und er hatte ihn richtig gedeutet. Der Eisberg war geschmolzen, aber Anawaks Weg führte nicht in die Tiefe, sondern ans Licht.
Er führte in die Welt der Lebenden.
Zu Crowe.
Anawak schrak zusammen. Natürlich! Wie hatte er so beschäftigt sein können mit seiner heldenhaften Aufopferung, dass ihm entgangen war, welche Aufgabe an Bord der Independence auf ihn wartete?
»Und jetzt?«, fragte Johanson.
»Plan B.«
»Soll heißen?«
»Ich muss nochmal nach oben.«
»Bist du verrückt? Wozu?«
»Ich will Sam finden. Und Murray.«
»Da ist niemand mehr«, sagte Johanson. »Das Schiff dürfte vollständig evakuiert sein. Sie waren beide im CIC, als ich sie das letzte Mal gesehen habe. Wahrscheinlich sind sie gleich als Erste rausgeflogen worden.«
»Nein.« Anawak schüttelte den Kopf. »Zumindest nicht Sam. Ich habe sie um Hilfe rufen hören.« »Was? Wann?«
»Bevor ich zu euch runterkam. — Sigur, ich will dir nicht mit meinen Problemen auf die Nerven gehen, aber ich habe ein paar Mal zu oft weggesehen im Leben. Es hat sich einiges geändert. So bin ich nicht mehr. Verstehst du? Ich kann das nicht ignorieren.«
Johanson lächelte.
»Nein. Das kannst du nicht.«
»Pass auf! Ich unternehme einen einzigen Versuch. In der Zeit lässt du Deepflight 3 herunter und machst es startklar. Sofern ich Sam nicht innerhalb der nächsten paar Minuten finde, komme ich zurück, und wir hauen hier ab.«
»Und falls du sie findest?«
»Haben wir immer noch Deepflight 4, um uns alle rauszubringen.«
»In Ordnung.«
»Wirklich in Ordnung?«
»Natürlich.« Johanson breitet die Hände aus. »Worauf wartest du noch?«
Anawak zögerte. Er biss sich auf die Lippen. »Und wenn ich in fünf Minuten nicht hier bin, verschwindest du ohne mich. Klar?«
»Ich werde warten.«
»Nein. Du wartest fünf Minuten. Maximal.«
Sie umarmten sich. Anawak lief den Pier hinab. Wo der Tunnel zum Labortrakt begann, war alles überflutet, aber noch schien sich die Independence in einigermaßen stabiler Lage zu halten. Das Schiff hatte sich während der letzten Minuten nicht weiter nach vorn geneigt.
Wie lange noch, dachte Anawak. Wasser schwappte gegen seine Knöchel. Er ging tiefer hinein, kraulte ein Stück, bekam Boden unter die Füße und watete ein paar Meter, bevor es wieder abschüssig wurde. Näher zur Hangarrampe neigte sich die Decke dem Wasserspiegel zu, aber es blieben immer noch einige Meter Luft. Anawak schwamm an der verschlossenen Labortür vorbei bis zum Knick und spähte hinauf. Wahrend Teile der Rampe inzwischen ebenen Boden bildeten, waren andere sehr steil geworden. Der Abschnitt zum Hangardeck ragte düster empor. Hoch oben hing eine dunkle Rauchglocke. Er würde auf allen vieren hinaufkriechen müssen. Ihm war kalt, trotz des Neoprenanzugs. Selbst wenn sie es schafften, mit dem Tauchboot wegzukommen, war das noch keine Garantie dafür, die Sache zu überleben.
Doch. Er musste überleben! Er musste Karen Weaver wiedersehen.
Entschlossen machte er sich an den Aufstieg.
Es ging einfacher, als er befürchtet hatte. Der Stahl der Rampe war geriffelt, um den Fahrzeugen und den marschierenden Marines, für die sie gedacht war, Halt zu bieten. Anawaks Finger klammerten sich ins Relief. Stück für Stück zog er sich hoch, verkeilte die Stiefel in den Streben, packte zu. Nach oben hin erhöhte sich die Temperatur, und er fror weniger. Dafür legte sich klebriger Rauch auf seine Lungen und saugte das letzte bisschen Atemluft heraus. Je höher er kam, desto undurchdringlicher wurden die Rauchschwaden. Vom Flugdeck drang wieder das brüllende Geräusch an seine Ohren.
Crowe hatte um Hilfe gerufen, als es bereits brannte. Wenn sie den Ausbruch des Feuers überlebt hatte, lebte sie vielleicht immer noch.
Keuchend zog er sich die letzten paar Meter hoch und stellte zu seiner Überraschung fest, dass die Sicht im Hangar besser war als auf der Rampe. Im Tunnel sammelte sich der Rauch, hier sorgten die Durchgänge der Außenlifts für Zirkulation. Sie brachten den Qualm ins Innere und ließen ihn zugleich wieder entweichen. Es war heiß und stickig wie in einem Backofen. Anawak presste den Jackenärmel vor Mund und Nase und rannte ins Hangardeck hinein.
»Sam!«, schrie er.
Keine Antwort. Was hatte er erwartet? Dass sie mit ausgestreckten Armen auf ihn zugelaufen kam?
»Sam Crowe! Samantha Crowe!«
Er musste wahnsinnig sein.
Aber besser wahnsinnig als zu Lebzeiten tot. Greywolf hatte Recht gehabt. Er war wie ein lebender Toter durch die Welt gegangen. Diese Art Wahnsinn hier hatte tausendmal mehr zu bieten.
»Sam!«
Welldeck
Johanson war allein.
Er zweifelte nicht daran, dass Floyd Anderson ihm ein paar Rippen gebrochen hatte. Zumindest fühlte es sich ganz so an. Jede Bewegung schmerzte höllisch. Als sie Rubins Leiche geborgen und ins Tauchboot verfrachtet hatten, hätte er mehrfach laut schreien können, aber er hatte die Zähne zusammengebissen, um nicht zum Problem zu werden.
Allmählich fühlte er seine Kräfte nachlassen.
Er dachte an den Bordeaux in seiner Kabine. Was für eine Schande! Gerade jetzt hätte ihm ein Glas davon geschmeckt. Es hätte zwar nicht die Rippenbrüche geheilt, aber der ganzen leidigen Angelegenheit eine erträglichere Note verliehen. Eben recht, um mit sich selber anzustoßen, denn außer ihm schien kein Genießer mehr am Leben zu sein. Überhaupt hatte von den vielen wunderbaren und widerwärtigen Menschen, die er in den letzten Wochen kennen gelernt hatte, kaum einer seinen ausgeprägten Sinn für das Schöne geteilt.
Wahrscheinlich war er doch ein Dinosaurier.
Ein Saurus Exquisitus, dachte er, während er das Deepflight 3 auf Pierhöhe absenkte.
Das gefiel ihm. Saurus Exquisitus. Genau das war er. Ein Fossil, das es genoss, Fossil zu sein. Fasziniert von Zukunft und Vergangenheit, die sich allzu oft mischten, sodass man oft gar nicht mehr wusste, in welchem Zeitalter man gerade lebte, weil Vergangenes und Zukünftiges gleichermaßen die Phantasie beflügelte.
Bohrmann …
Der Deutsche hätte einen guten Bordeaux zu schätzen gewusst. Sonst niemand. Sue Oliviera hatte Spaß daran gefunden, aber ebenso gut hätte er ihr etwas halbwegs Trinkbares aus dem Supermarkt vorsetzen können. Wer aus dem Chateau-Disaster-Team war schon kultiviert genug, einen trinkreifen Pomerol zu schätzen, außer vielleicht …
Judith Li.
Er versuchte, ein letztes Mal den Schmerz in seinen Rippen zu ignorieren, sprang auf das Deepflight, stöhnte und blieb mit zitternden Knien in der Aufrechten. Dann hockte er sich hin, öffnete die Klappe mit der Verschlussmechanik und entriegelte die Hauben.
Langsam fuhren sie hoch und stellten sich senkrecht. Die beiden Röhren lagen offen vor ihm.
»Alles einsteigen«, trompetete er.
Bizarr! Einsam balancierte er im schräg stehenden Welldeck auf einem Tauchboot. An was für Gestade einen das Leben doch verschlug. Judith Li?
Eher hätte er die Flaschen in die Grönländische See entleert. Man konnte dem Schönen auch gerecht werden, indem man es bestimmten Menschen vorenthielt.
Li
Außer Atem erreichte sie das Hangardeck.
Alles war verdunkelt von schwarzem Rauch. Sie versuchte etwas in den Schwaden zu erkennen und meinte, weit hinten eine Gestalt zu erblicken, die dort auf— und ablief.
Dann hörte sie es: »Sam! Sam Crowe!«
War das Anawak, der schrie?
Einen Moment lang zögerte sie. Aber was brachte es jetzt noch, Anawak auszuschalten? Jeden Augenblick konnten die letzten Schotts im Bug nachgeben. Das Schiff konnte auseinander brechen. Wenn es einmal so weit war, würden die Independence sinken wie ein Stein.
Sie lief zur Rampe und sah in ein rauchverhangenes Loch. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Li war weder ängstlich noch fühlte sie sich von dem Abstieg überfordert, aber sie fragte sich, wie sie mit den beiden Torpedos da runterkommen sollte. Wenn sie die Dinger noch einmal verlor, würden sie irgendwo im dunklen Wasser landen.
Sie stellte die Füße quer und begann, Schritt für Schritt die Rampe hinunterzusteigen. Es war dunkel und bedrückend. Das Schlimmste war der Rauch, in dem sie zu ersticken glaubte. Mit hohlem Klonk trafen ihre Stiefelsohlen auf den geriffelten Stahl.